Lexikon der Geographie: Agrargeschichte
Agrargeschichte, befasst sich als Teilbereich der Geschichtswissenschaften mit der historischen Entwicklung der Landwirtschaft und des Agrarraums. Sie zeigt die geschichtlichen Zusammenhänge auf, die zu den gegenwärtigen Agrarstrukturen und Ausprägungen der Agrarlandschaft geführt haben. Über enge Verflechtungen mit der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialgeschichte fragt die Agrargeschichte nach den wirtschaftlichen Aktivitäten im Agrarbereich, nach Formen der Produktion, der Entwicklung der Agrartechnik, des Austausches und des Konsums sowie nach den sozialen Strukturen und Prozessen im ländlichen Raum. Als rechtlicher Aspekt tritt die Beschäftigung mit der Agrarverfassung hinzu. Die Beschäftigung mit der Genese von Flur- und ländlichen Siedlungsformen schafft Berührungspunkte zur Siedlungsgeographie.
Geschichtswissenschaftlich im Sinne der Kulturgeschichte betrachtet gilt die Agrarwirtschaft als älteste Wurzel der Kulturentwicklung, das lateinische Wort "cultura" hatte ursprünglich die Bedeutung von Anbau und Bodenpflege. Die ältesten Wirtschaftsstufen der Wildbeuter, Sammler, Jäger und Fischer umfassen zwar den größten Teil der Menschheitsgeschichte (Steinzeit), sie haben aber den Naturraum noch nicht zum Agrarraum umgestaltet. Der entscheidende Übergang von der aneignenden zur produzierenden Landwirtschaft mit Anbau (Züchtung der noch heute wichtigsten Kulturpflanzen) und Nutztierhaltung (Domestikation von Schaf, Schwein und Rind), die das Sesshaftwerden ermöglichte, erfolgte in Mitteleuropa vermutlich erst nach dem Ende der Weichsel-/Würm-Kaltzeit.
Man nimmt für diese erste agrare Revolution (neolithische Revolution oder Ackerbaurevolution) mehrere Entstehungszentren an, die alle im tropisch-subtropischen Gürtel der Nordhalbkugel, vorzugsweise an der ökologisch und ökonomisch begünstigten Grenze zwischen Wald und offenem Land, d.h. am Rand der Savannen, liegen. Die ältesten Hinweise auf Ackerbau fand man in dem sichelförmigen Gebiet von Palästina bis zum Persischen Golf, das als Fruchtbarer Halbmond bezeichnet wird. Dort gediehen Wildformen von Getreide wie Einkorn, Emmer, und Gerste sowie einige Gemüsearten wie Erbsen und Linsen. Verbunden war dieser Übergang mit der Entwicklung einfacher landwirtschaftlicher Geräte (Pflanzstock, Grabstock, Hacke, Axt) und von Umtriebssystemen (shifting cultivation). Eine Differenzierung der Gesellschaft, das Aufkommen von Berufen ohne eigene Nahrungsproduktion, Städtebildung, ein schneller Bevölkerungsanstieg und eine deutliche Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion waren die Folge.
Den Beginn der Landwirtschaft in Europa nimmt man für den Beginn des Neolithikums, also vor etwa 9000 Jahren an. Im Raum des heutigen Deutschlands hielt eine einfache Landwirtschaft ab ca. 5400 v.Chr. mit der Bandkeramik-Kultur Einzug und löste die vorher für annähernd 2 Mio. Jahre dominierende Jagd, Fischerei und Sammelkultur ab. Sie wurde zunächst v.a. auf Flussterrassen und Gebieten mit Lössböden betrieben. Die Landnahme geschah durch Waldrodung. Wie allgemein in der "Alten Welt" erfolgte die Ausbreitung von Pflugbau (Ausnahme Schwarzafrika) und Nutzungswechselwirtschaft ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. in der Bronze- und Eisenzeit. Zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit erfolgte nun auch der Einsatz von Stall- und Plaggenmist, wobei Rasenstücke dem tierischen Dung beigemischt wurden.
Die letzten zwei bis drei Jahrtausende brachten Europa eine starke Differenzierung. Der mediterrane Raum wurde in der Antike durch den Anbau von Weizen, Wein und Ölbaum bestimmt, verbunden mit Viehhaltung in den stark entwaldeten Gebirgen. Dazu traten Obst- und Gemüsebau, der wie der Weinbau von den Römern nach Mitteleuropa übertragen wurde. Die Araber führten Baumwoll- und Zuckerrohranbau und Bewässerungstechniken in Spanien ein. Andere Kulturpflanzen Südeuropas wurden teils schon im Altertum (Reis, Zitrone), teils erst in der Neuzeit (Apfelsine) eingeführt. In Mitteleuropa wurde das Kulturland durch Vorgänge der Binnenkolonisation wie die mittelalterliche Rodung der Waldgebirge, die Moor- und Heidekolonisation und die Eindeichung ausgeweitet. In Nordeuropa dauerte das Vordringen des Anbaus gegen das Waldland bis in das 20. Jh. Auch in Osteuropa wurde Kulturland aus Wald- wie auch aus Steppengebieten gewonnen, z.T. noch in jüngster Zeit (Kasachstan).
Mit der europäischen Kolonisation in Übersee und der Übertragung europäischer Wirtschaftsformen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts begann eine globale Phase zur Gestaltung des Agrarraums: a) großflächiger Getreidebau mit Pflug im östlichen Nordamerika, südöstlichen Südamerika, in Südafrika und Australien/Neuseeland, b) Viehhaltung mit einer weniger engen Bindung an den Ackerbau als in Europa, c) Ausbreitung der Viehhaltung mit extensiver Weidewirtschaft vorwiegend in den niederschlagsärmeren Teilen Nord- und Südamerikas, Südafrikas und Australiens, d) in den Tropen z.T. Verstärkung mancher traditioneller Anbaukulturen durch Einbeziehung in die Weltwirtschaft, oft auf Kosten der Selbstversorgung der Bevölkerung sowie Entstehen einer neuen, export- und kapitalorientierten Betriebsform, der Plantagenwirtschaft, vornehmlich in Küstennähe, e) Ausbreitungsprozess der Kulturpflanzen und Nutztiere weit über ihre ursprüngliche Herkunftsgebiete hinaus, entsprechend den Bedürfnissen europäischer Kolonisten, Konsumenten und Kolonialmächte (Übernahme amerikanischer Pflanzen in Europa; Verbreitung europäischer Pflanzen und Tiere in Überseegebieten, oft in Abhängigkeit von der Art der Siedlergruppen, z.B. Weinbau; Verbreitung tropischer Kulturpflanzen innerhalb der Tropenzone, z.B. Sisal, Ölpalme, Erdnuss, Kautschuk, Baumwolle, Tee, Ananas).
Die zweite agrare Revolution begann um 1690-1700 in England, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten über Mitteleuropa fort und erreichte um 1860-1870 Russland. Für Nordamerika wird der Beginn dieser revolutionären Umgestaltung der Agrarproduktion um 1760-1770 angesetzt. Merkmale der zweiten agraren Revolution: a) Verbesserung vorhandener und die Einführung neuer landwirtschaftlicher Geräte (z.B. Bodenwendepflug, Sämaschine, Hufbeschlag des Pferdes), b) gezielte Auswahl von Saatgut und Zuchttieren, c) Kultivierung von Ödland, d) Reduzierung des Brachlandes durch Übergang zu einem kontinuierlichen Fruchtwechsel, e) Einführung neuer Feldfrüchte bzw. deren größere Verbreitung (Rüben, Klee, Raps, Kartoffeln), f) verbreiteter Einsatz von Pferden anstelle von Ochsengespannen führt zu höherer Pflugleistung und größerer Transportgeschwindigkeit für Agrargüter.
Die Landwirtschaft in den gemäßigten Breiten arbeitete im 18. und 19. Jh., z.T. bis in die Mitte des 20. Jh. hinein in einem ausgewogenen Miteinander von Pflanzenbau und Tierhaltung. Eine geregelte Futterwirtschaft auf Acker und Grünland, durch Stallmistwirtschaft weitgehend geschlossene Stoffkreisläufe, systematische, vielgliedrige und abwechslungsreiche Fruchtfolgen und eine auf langer Erfahrung basierende Berücksichtigung der speziellen Voraussetzungen jedes Betriebes und jedes einzelnen Feldes waren die Grundlagen der bäuerlichen Landwirtschaft. Die Erträge lagen deutlich unter dem heutigen Niveau, die Flächenproduktivität war aber um das Zwei- bis Vierfache höher als im ausgehenden Mittelalter. Die Einführung der Kartoffel und von Hülsenfrüchten in die Fruchtfolgen boten eine höhere Ertragssicherheit sowie Vielfalt und Qualität der Nahrungsmittel.
Die Begründung der Agrikulturchemie, die großtechnische Gewinnung von Stickstoffdüngemitteln sowie die Fortschritte in der Produktionstechnik im Gefolge der Industriellen Revolution und Erfolge in der Pflanzen- bzw. Tierzüchtung waren wesentliche Schritte bei der enormen Steigerung der Produktion. Gleichzeitig öffnete sich die Produktivitätsschere zwischen Gebieten mit moderner und traditioneller Landwirtschaft. War wegen der Bodenknappheit in Mitteleuropa hier zunächst die Intensivierung mit verstärktem Einsatz von Betriebsmitteln prägend, so setzte sich moderne Agrartechnik wegen der Knappheit an menschlicher Arbeitskraft zuerst in den USA durch. Sie erfasste seit den 1930er-Jahren die übrigen Industrieländer und dringt seit den 1960er-Jahren in die Entwicklungsländer ein. Geprägt ist diese Phase auch durch große Veränderungen im Transportwesen (z.B. Erfindung des Kühlwagens 1868) und die Verarbeitung von Agrarprodukten. Diese Entwicklungen führten dazu, dass gelegentlich von mechanischen, biologischen und chemischen Revolutionen gesprochen wird.
Als dritte agrare Revolution kann das Einsetzen einer industrialisierten Landwirtschaft angesehen werden.
Der jüngste Innovationsschub für die Landwirtschaft geht von Erfindungen im Bereich der Biotechnologie aus. Methoden wie die Gentechnik und die Zellkulturtechnik (massenhafte Vermehrung pflanzlicher Zellen in einem künstlich geschaffenen Milieu mithilfe spezieller Nährstoffe) ermöglichen die Entwicklung leistungsfähiger, krankheitsresistenter und anspruchsloser Pflanzen und Tiere oder auch die Großproduktion bestimmter pflanzlicher Inhaltsstoffe. In enger Verbindung damit steht die weiter zunehmende Mechanisierung, der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Robotisierung (z.B. Melk- und Pflugroboter), des precision farmings, bei der Nutzung von betriebsspezifischen Wettervorhersagen oder bei farbsensor- und kameragesteuerten Erntevorrichtungen (z.B. für Tomaten, Blumenkohl und Salat). Die Gesamtheit dieser Innovationen zusammen mit dem verstärkten Auftreten alternativer Produktionsformen sowie Konzepten einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Landwirtschaft legt es nahe, von einer vierten agrarischen Revolution zu sprechen, deren Anfänge man in den 1980er-Jahren sehen kann.
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