Lexikon der Mathematik: Zahlen-
neben geometrischen Figuren die historisch ersten ‚Untersuchungsgegenstände‘ der Mathematik.
Es gibt eine Reihe verschiedener Zahlbegriffe, die jeweils axiomatisch oder, beginnend mit den natürlichen Zahlen, aufeinander aufbauend eingeführt werden können.
Weißt Du, was hinter der Mathematik steckt? Hinter der Mathematik stecken die Zahlen. Wenn mich jemand fragen würde, was mich richtig glücklich macht, dann würde ich antworten: die Zahlen. Schnee und Eis und Zahlen. Und weißt du, warum? Weil das Zahlensystem wie das Menschenleben ist. Zu Anfang hat man die natürlichen Zahlen. Das sind die ganzen und positiven. Die Zahlen des Kindes. Doch das menschliche Bewußtsein expandiert. Das Kind entdeckt die Sehnsucht, und weißt du, was der mathematische Ausdruck für die Sehnsucht ist? Es sind die negativen Zahlen. Die Formalisierung des Gefühls, daß einem etwas abgeht. Und das Bewußtsein erweitert sich immer noch und wächst, das Kind entdeckt die Zwischenräume. Zwischen den Steinen, den Moosen auf den Steinen, zwischen den Menschen. Und zwischen den Zahlen. Und weißt du, wohin das führt? Zu den Brüchen. Die ganzen Zahlen plus die Brüche ergeben die rationalen Zahlen. Aber das Bewußtsein macht dort nicht halt. Es will die Vernunft überschreiten. Es fügt eine so absurde Operation wie das Wurzelziehen hinzu. Und erhält die irrationalen Zahlen. Es ist eine Art Wahnsinn. Denn die irrationalen Zahlen sind endlos. Man kann sie nicht schreiben. Sie zwingen das Bewußtsein ins Grenzenlose hinaus. Und wenn man die irrationalen Zahlen mit den rationalen zusammenlegt, hat man die reellen Zahlen. Es hört nicht auf. Es hört nie auf. Denn jetzt gleich, auf der Stelle, erweitern wir die reellen Zahlen um die imaginären, um die Quadratwurzeln der negativen Zahlen. Das sind Zahlen, die wir uns nicht vorstellen können, Zahlen, die das Normalbewußtsein nicht fassen kann. Und wenn wir die imaginären Zahlen zu den reellen Zahlen dazurechnen, haben wir das komplexe Zahlensystem. Das erste Zahlensystem, das eine erschöpfende Darstellung der Eiskristallbildung ermöglicht. (aus: Peter Høeg, Fräulein Smillas Gespür für Schnee)
Die natürlichen Zahlen, als Menge bezeichnet mit ℕ, sind die elementarsten Zahlen und eine Abstraktion des Zählens von der Art der gezählten Dinge. Man kann sie addieren und multiplizieren, sie sind geordnet, und man kann eine natürliche Zahl von einer größeren subtrahieren. Nimmt man noch die Null 0 hinzu, kommt man zur Menge ℕ0 = ℕ ∪ {0}, einem kommutativen Monoid mit Kürzungsregel.
Der Wunsch, von einer gegebenen Zahl auch grö-ßere Zahlen subtrahieren zu können und damit etwa fehlende Dinge, Schulden usw. auszudrücken, führt zur Hinzunahme negativer Zahlen und damit zu den ganzen Zahlen. Die Menge ℤ = −ℕ ∪ {0} ∪ ℕ der ganzen Zahlen ist ein Integritätsring mit Eins.
Möchte man auch zur Multiplikation eine Umkehroperation haben, d. h. Zahlen dividieren bzw. ihre Verhältnisse bilden können, so kommt man von den ganzen zu den rationalen Zahlen als Verhältnisse oder Brüche ganzer Zahlen. Die Menge \({\mathbb{Q}}=\{{\scriptstyle \frac{a}{b}}|a\in {\mathbb{Z}},b\in {\mathbb{N}}\}\) der rationalen Zahlen ist abgeschlossen bezüglich der vier elementaren Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division und bildet einen archimedischen Körper.
Schon die Pythagoräer bemerkten, daß sich nicht alle Strecken in der Geometrie durch rationale Zahlen beschreiben lassen, daß etwa die Diagonale in einem Quadrat der Seitenlänge 1 keine rationale Zahl ist. Die Feststellung, daß innerhalb der rationalen Zahlen nicht alle nichtleeren nach oben beschränkten Mengen ein Supremum und nicht alle Cauchy-Folgen einen Grenzwert besitzen, d. h. die rationalen Zahlen keinen vollständigen Körper bilden, führt zu der Erweiterung zu den reellen Zahlen. Die Menge R der reellen Zahlen ist ein vollständiger archimedischer Körper.
Nicht alle Polynome über den reellen Zahlen besitzen eine reelle Nullstelle, d. h. der Körper der reellen Zahlen ist nicht algebraisch abgeschlossen. Rechnet man jedoch mit komplexen Zahlen, so hat jedes nichtkonstante Polynom mindestens eine Nullstelle (Fundamentalsatz der Algebra), und jedes Polynom vom Grad n ∈ ℕ hat, entsprechend ihrer Vielfachheit gezählt, in ℂ genau n Nullstellen. Beispielsweise hat das Polynom x2 + 1 die beiden Nullstellen {−i, i}. Die Menge ℂ = {a + ib | a, b ∈ ℝ} ist ein algebraisch abgeschlossener vollständiger Körper. Diese Erweiterungen gehorchen dem Permanenzprinzip: Die Rechenregeln (wie Assoziativ-, Kommutativ- und Distributivgesetz), die in einem bestimmten Zahlenbereich gelten, gelten auch in den erweiterten Bereichen.
Im Gegensatz zu den Erweiterungen ℕ → ℚ → ℝ läßt sich die Ordnungsstruktur bei der Erweiterung ℝ → ℂ nicht so fortsetzen, daß ℂ ein geordneter Körper wird. Verzichtet man auch auf die Kommutativität der Multiplikation, so kann man ℂ noch erweitern zur assoziativen Divisionsalgebra ℍ der Hamiltonschen Quaternionen (Hamiltonschen Quaternionenalgebra), und das Aufgeben der Assoziativität der Multiplikation führt zur alternativen Divisionsalgebra 𝕆 der Oktaven (Oktonienalgebra). Der Verzicht auf die Archimedes-Eigenschaft erlaubt das Einbeziehen unendlich kleiner und unendlich großer Zahlen in der Nichtstandard-Analysis und bei den surrealen Zahlen.
Notiert man mit ℚ+ und ℝ+ die nichtnegativen rationalen und reellen Zahlen, so kann die Erweiterung von ℕ zu ℝ entlang jedes Pfades im folgenden Diagramm vollzogen werden:
Schließlich seien noch die algebraischen Zahlen 𝔸, also die Nullstellen in ℂ von nichtkonstanten Polynomen mit Koeffizienten aus ℚ, erwähnt. Nicht algebraische Zahlen, also Zahlen aus ℂ \ 𝔸, heißen transzendente Zahlen.
ℕ und ℤ sind abzählbar, ebenso ℚ und 𝔸, wie man mit dem ersten Cantorschen Diagonalverfahren (reelle Zahlen) zeigen kann. Jedoch ist ℝ überabzählbar, was sich mit dem zweiten Cantorschen Diagonalverfahren (reelle Zahlen) zeigen läßt, und damit ist auch ℝ \ 𝔸 überabzählbar.
[1] Ebbinghaus, H.-D.; et al: Zahlen. Springer Berlin, 1992.
[2] Oberschelp, A.: Aufbau des Zahlensystems. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen, 1976.
[3] Padberg, F.; Danckwerts, R.; Stein, M.: Zahlbereiche. Spektrum Heidelberg, 1995.
[4] Strehl, R.: Zahlbereiche. Franzbecker Hildesheim, 1997.
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