Metzler Philosophen-Lexikon: Pythagoras
Geb. um 575/70 v. Chr. in Samos;
gest. um 500 v. Chr. in Metapontum
Wie ein Vierteljahrhundert vor ihm Xenophanes, und wohl ebenfalls aus politischen Gründen (Polykrates’ Autokratie), verläßt der etwa fünfzigjährige P. seine Heimat Samos und emigriert in den Westen, ins süditalische Kroton, das heutige Crotone in Kalabrien. Er wird offenkundig bald die geistige Autorität der Polis; eine Gemeinschaft von Anhängern sammelt sich um ihn, die etwa zwei Jahrzehnte lang die Geschicke Krotons bestimmt. In dieser Zeit erlangt die Stadt die Hegemonie über die Poleis des Umlands. Eine Oppositionsbewegung führt zum Sturz der Pythagoreer. P. verläßt die Stadt und gelangt nach Metapontum; dort stirbt er.
Die »Schule« des P. – über deren Entstehung wir so wenig wissen wie über ihre Organisation – existiert insgesamt fast zwei Jahrhunderte lang. Sie entfaltet ihren Einfluß zunächst im griechischen Süditalien und Sizilien. Wachsender Widerstand nötigt Mitte des 5. Jahrhunderts die führenden Pythagoreer zur Emigration nach Griechenland. Die nun beginnende Diaspora der pythagoreischen Gemeinden unterbricht die Kontinuität ihrer philosophischen Tradition; sie ist verantwortlich für jene Entwicklung in zwei Richtungen, welche die der religiösen Praktik und Lehre des P. verpflichteten Orthodoxen – in der zeitgenössischen Terminologie die »Hörer« – von den an philosophischer Arbeit Interessierten – den »Forschenden« – scheiden wird. In dieser zweiten Gruppe vor allem, zu der Philolaos, der führende Pythagoreer des 5. Jahrhunderts, zählt, sind die kosmologischen, mathematischen und metaphysischen Spekulationen festzumachen, die den Pythagoreismus zu einer der einflußreichsten Instanzen im griechischen Denken des 5. und 4. Jahrhunderts werden lassen. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts stirbt mit der Generation der Philolaosschüler die pythagoreische Bewegung aus. Ihre »Renaissance« in der Philosophie der Kaiserzeit steht unter neuen Vorzeichen.
Angesichts der schwierigen Quellenlage, die zuverlässige (chronologische) Zuweisungen einzelner pythagoreischer Gedanken weitgehend ausschließt, sollen im folgenden nur Grundgedanken des vorplatonischen Pythagoreismus insgesamt dargestellt werden. Sämtliche philosophischen Disziplinen der Pythagoreer umfaßt und begründet die »Mathematik«, die mathematische Lehre vom Kosmos; sie liefert den Schlüssel zum Ganzen. »Dinge sind Zahlen.« »Dinge existieren als Abbild (»mímēsis«) von Zahlen.« »Die Elemente von Zahlen sind die Elemente von Dingen; der ganze Himmel ist eine Harmonie und eine Zahl.« Diese (bei Aristoteles überlieferten) Zitate formulieren die Essenz pythagoreischer Welterklärung. Die Pythagoreer sehen die Welt organisiert als mathematische Ordnung; ihre »archḗ», ihr »Fundament«, sind die Zahlen. Diesen Gedanken kleiden sie in eine prägnante Formel. Die vier Grundzahlen, 1, 2, 3 und 4 ergeben addiert 10. Diese Zahl 10 gilt als »etwas Vollkommenes« – sie umfaßt »die ganze Natur von Zahl« (Aristoteles). Graphisch dargestellt wird sie als die »tetraktýs«, als »Vierheit«.
Ein altes pythagoreisches Rätsel fragt: »Was ist das Orakel in Delphi? Die Vierheit. Sie ist die Harmonie, in der die Sirenen (singen).« Die wahre Quelle der Weisheit über die Welt ist die »tetraktýs« – die in vielfältiger Relation miteinander verbundenen vier ersten natürlichen Zahlen. In religiöser Sprache äußert das Rätsel ein philosophisches Versprechen: Die mathematisch strukturierte Welt, der Kosmos, und alles, was in ihm geschieht, offenbart eine intelligible Ordnung und Rationalität. Die Basis dieser Ordnung ist die Zahl. Der Begriff »Harmonie« verweist auf den möglichen historischen Ausgangspunkt der gesamten Theorie, die – dem P. zugeschriebene – Entdekkung der mathematischen Struktur der Musik. Noten lassen sich zurückführen auf Zahlen; so entsprechen die drei Basisintervalle der griechischen Musik den numerischen Gleichungen 1:2 (Oktave), 3:2 (Quinte), 4:3 (Quarte). Dem Chaos des gesamten Tonspektrums erlegt die Harmonie, die inhärente mathematische Ordnung der Musik, »kósmos« auf – Ordnung und Schönheit. Die Kosmogonie der Pythagoreer sucht die mathematische Struktur der Welt aus ihren Anfängen zu erklären. Das »Eine«, der Urgrund aller Zahl(en), und so Ursprung und Grundprinzip (beides »archḗ») der Welt, erlegt dem »Unbegrenzten«, dem chaotischen, undifferenzierten Urmaterial der Welt, »Grenze«, »Abgrenzung« auf: Es verwandelt es in Zahlen. Als Anfang der beiden Zahlenreihen (freilich keiner der beiden angehörend) initiiert es die ungeraden und geraden Zahlen. So setzt das Eine dem »Unbegrenzten« eine »Grenze« und definiert es so als Ordnung (»kósmos«) – und damit Welt. Diese Ordnungsleistung durchwirkt die Welt: Auch in den Beziehungen ihrer Bestandteile untereinander offenbart sie eine interne geordnete Struktur – wie vor allem das perfekte Uhrwerk der Gestirne belegt. In ihrer Gesamtheit ist die Welt also »kósmos« – Definition, Ordnung, Vollkommenheit, Schönheit – und »Kósmos«. Der frühe Pythagoreismus scheint das Wort zum ersten Mal für »Welt« verwendet zu haben.
Aristoteles’ Kritik erfaßt gleichermaßen Leistung und Grenze des pythagoreischen Ansatzes. Die Pythagoreer entdecken den quantitativen Aspekt der Dinge; ihre Zahlentheorie beschreibt die formale, strukturelle Seite der Welt. Doch vernachlässigen sie hierüber deren qualitatives Moment und identifizieren – unzulässig – das Materielle mit dem Formalen: Die Realität insgesamt wird in mathematischen Kategorien beschrieben, die Zahl wird Materie.
Die Theologie der Pythagoreer offenbart sich als philosophische Neuinterpretation des archaischen Gedankens einer magischen »Sympathie«, einer engen, fast physischen Beziehung zwischen allen Lebewesen untereinander und der Natur insgesamt, einer universalen Verwandtschaft allen Lebens. Der Mensch als Teil der Welt ist verwandt mit der Welt, einem lebendigen, göttlichen Wesen. Das biologische Bild einer atmenden Welt und die physikalische Erklärung der Seele als »Luft« oder »Atem« kommen zur Deckung in der »beseelten« Natur beider: In der Seele konstituiert sich diese Verwandtschaft. Einen Gedanken, der in den Mysterienreligionen und im Orphismus angelegt ist, führt der Pythagoreismus konsequent zu Ende: Die Seele ist verwandt, ja identisch mit der Welt – mit einer göttlichen Instanz. Sie ist nicht allein der beste Teil des Menschen, sie ist unsterblich. Diese Qualitäten machen die Seele zum Instrument und Ziel philosophischer Selbstverwirklichung. Jenes frühe Ideal griechischer Religion, die Gottgleichheit (»homoíōsis theṓ»), läßt sich erreichen: durch die Arbeit an der Seele. Diese Arbeit ist die Philosophie, die Reflexion über die Welt, mit dem Ziel, sie besser zu verstehen – und damit sich selbst. Der Philosoph, der die kosmische Ordnung, die ideale mathematische Harmonie und Vollkommenheit der (göttlichen) Welt studiert, reflektiert und reproduziert sie damit in seiner Seele: Er selbst wird »kósmios« – »jemand, der »kósmos« besitzt«, Ordnung, Vollkommenheit, Schönheit. Was den Philosophen mit dem göttlichen Weltganzen, den »Mikrokosmos« mit dem »Makrokosmos« verbindet, ist das Element des »kósmos« in beiden. Dessen Aktualisierung verwirklicht die Gottgleichheit.
Riedweg, Christoph: Pythagoras. München 2002. – Ders.: Art. »Pythagoras«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 10, Sp. 648–653. – O’Meara, D. J.: Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity. Oxford 1989. – Waerden, B. L. v.d.: Die Pythagoreer. Zürich/München 1979. – Burkert, W.: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962.
Peter Habermehl
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