Metzler Lexikon Philosophie: Epistemologie
(griech. episteme: Wissen, Kenntnis, Wissenschaft; logos: Vernunft, Lehre), (1) geht dem Begriff nach auf die frz. bzw. engl. Bezeichnung für Erkenntnis- oder Wissenschaftslehre (»épistémologie« bzw. »epistemology«) zurück. Im engeren Sinn bezeichnet E. aber eine Wissenschaftstheorie, die die Entwicklungen der Wissenschaften unter Berücksichtigung ihrer Geschichte zu systematisieren sucht. J. F. Ferrier prägte in seinen Institutes of Metaphysics (1854) E. als Gegenbegriff zu Ontologie. In der Verbindung von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte wird E. durch Bachelard und Canguilhem zum Programm der Betrachtung und Erforschung der Wissenschaften vom Leben (»sciences de la vie«, d.i. Physiologie, Medizin, Biologie u.a.). Der hier bereits formulierte Gedanke einer an historischen oder systematischen Brüchen orientierten Wissenschaftsgeschichte wird von Th. Kuhn in The Structure of Scientific Revolutions weiterentwickelt und auf die Disziplinen Physik, Mathematik und Astronomie ausgedehnt.
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(2) E. thematisiert die logische Struktur des Wissens und des Glaubens, indem sie das Wissen einer Person nach drei Bedingungen bestimmt: (a) Die als Wissen formulierte Aussage muss wahr sein; (b) die Person muss von der Wahrheit überzeugt sein; (c) sie muss für diese Überzeugung ausreichende und zwingende Gründe haben. Die traditionelle Erkenntnistheorie hat diese Fragen im Hinblick auf die Grundlage der Erkenntnis beantwortet: (a) Der empiristisch orientierte Standpunkt gibt dazu die Sinneserfahrung als Instanz an, (b) die Position des Apriorismus gibt als Grundlage die Vernunft- und Verstandesprinzipien an, die den Bezug auf die Sinneserfahrung erst durch die begriffliche Formung zu einer Erkenntnis machen. – Eine namentliche Differenzierung zwischen E. und Erkenntnistheorie ist dann sinnvoll, wenn man die Aufgabe der E. dadurch bestimmt, die Erkenntnis ausschließlich hinsichtlich der Systeme von Propositionen und Regeln, nach denen empirisch gehaltvolle Aussagen gebildet und überprüft werden können, zu thematisieren. Das erkennende Subjekt kommt nicht hinsichtlich seiner objektkonstituierenden Leistung in den Blick, sondern nur im Hinblick auf die epistemischen Modalitäten des »Glaubens« und »Wissens«, auf die Fragen der unmittelbaren und mittelbaren Evidenz, auf die Bestimmung von Wahrheit und die Erörterung von Aussagen und Sätzen als Träger von Wahrheit. – Die begriffliche Unterscheidung zwischen Erkenntnistheorie und E. wird zwar nicht einheitlich vollzogen, aber meist zeigt sie die spezifische Auffassung hinsichtlich der Problemstellung an. [PP]
Literatur:
- S. Bachelard: Épistémologie et Histoire des Sciences. In: XIIe Congrès international d’histoire des sciences. Paris 1968
- G. Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Frankfurt 1979
- R. M. Chisholm: Erkenntnistheorie. München 1979
- F. v. Kutschera: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin/New York 1982
- A. Virieux-Reymond: Les grandes étapes de l’épistémologie jusqu’à Kant. Genf 1983.
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