Metzler Lexikon Philosophie: Wissenschaftstheorie
ein als Zweig der Philosophie betrachteter Forschungsbereich, der seit etwa dem frühen 19. Jh. in relativer Eigenständigkeit gegenüber dem Gebiet der Erkenntnistheorie sowie der Tätigkeit der Wissenschaften selbst einen Bereich logischer, epistemologischer und metaphysischer Probleme behandelt, die sich in den systematischen und primär experimentell orientierten Wissenschaften stellen. Eine mehr spekulative Orientierung weist in die Richtung der Naturphilosophie. Für um Grundlegungen der Geisteswissenschaften bemühte W. siehe Hermeneutik, und für im Folgenden nicht berücksichtigte Positionen Kritische Theorie und Konstruktivismus. Probleme der W.: Zu den Grundproblemen gehört der Status von Naturgesetzen, die von wissenschaftlichen Theorien zur Erklärung von Regularitäten in den natürlichen Phänomenen aufgestellt werden. Problematisch ist zudem, insbesondere in mathematischen Theorien, der Status und Realitätsgehalt theoretischer, nicht-empirischer Terme, die in diesen Theorien vorkommen. Die Frage entsteht, ob wissenschaftliche Theorien allein aus der empirischen Beobachtung entstehen und in einer sich aus dieser entwickelnden Verallgemeinerung allein induktive Rechtfertigungsgründe haben, oder aber ob der Gebrauch von theoretischen Termen in Theorien nicht auch einen anderen Rechtfertigungsgrund haben kann. Für die Vertreter der letzteren Position erschöpft sich die Bedeutung dieser Terme nicht darin, Funktionen von Observablen zu sein. Sie verdankt sich anderen Wurzeln von Rationalität, als durch die formale Logik beschreibbar wäre. Während Poincare in diesem Streit eine Mittelstellung zukommt, sind z.B. Mill, Mach, Duhem, Hempel, Carnap, Braithwaite Vertreter der erstgenannten Position, und Whewell, Boltzmann, Campbell Vertreter der zweiten. Die realistische Position kann sich mit einem Essentialismus verbinden, wenn die in den Wissenschaften vorgenommene Klassifikation, empirische Verallgemeinerung und gesetzmäßige Strukturierung natürlicher Phänomene als reale Größen interpretiert werden, die wesentlich die Natur der von uns unabhängigen Fakten ausmachen. Demgegenüber haben insbesondere Kuhn und Feyerabend betont, dass die Bildung wissenschaftlicher Theorien nicht in theoretischen Vacua und unbeeinflusst von sozialen bzw. wissenschaftsexternen Faktoren entstehen. So relativiert Kuhn, anders als der Kritische Rationalismus Poppers und Lakatos’, Rationalität auf ein sogenanntes Paradigma, innerhalb dessen eine Forschergemeinschaft denkt; die Abfolge dieser Paradigmen wird von Kuhn als diskontinuierlich vorgestellt. Ähnlich ist auch jede Historiographie der Wissenschaften von Paradigmen metaphysischer und erkenntnistheoretischer Art bestimmt, die stets mitzureflektieren sind.
Geschichte: Einer der Ursprünge der modernen W. ist die Debatte zwischen Mill und Whewell, in der Mill, an Hume orientiert, eine antitheoretische und induktivistische Sichtweise entwickelte. Whewell dagegen vertrat die Position, dass sich das Wissen nicht allein der sinnlichen Erfahrung verdankt; der Wissenschaftler spielt selber eine aktive Rolle in der Konzeptualisierung des empirischen Materials. Das Subjekt selbst legt notwendig Muster und konzeptuelle Prägungen, die nicht aus der Empirie stammen, apriorisch der eigenen Naturforschung zugrunde. Für Mills – jede Idee von Notwendigkeit ausschließende – Theorie ist Kausalität lediglich eine Regularität in zufälligen Folgen von Ereignissen. Mills grenzenloser Empirismus führte ihn sogar dazu, auch das Prinzip der Induktion selbst als eine induktive Verallgemeinerung von ursprünglichen Beobachtungsdaten und Regelmäßigkeiten zu erklären. E. Mach, der in der Kausalität eine Gewohnheit, in Theorien nur eine ökonomische Weise sah, unsere Erfahrung zu ordnen, lehnte die Idee einer Realität »hinter den Phänomenen« ab. Im Gegensatz zu Mach und später auch Duhem, sah Boltzmann in der Bildung von wissenschaftlichen Modellen und abstrakten Termen, um Beobachtungsdaten zu erklären, mehr als nur eine Heuristik oder ein nützliches Instrument. Mach und Duhem aber erwiesen sich als entscheidender für den Phänomenalismus des logischen Positivismus des Wiener Kreises, der Modelle überhaupt durch axiomatisierte formale Systeme ersetzen wollte, in denen durch deduktive Argumentation Beziehungen zwischen Sinnesdaten adäquat Ausdruck finden können sollten. Grundlage dieses Ansatzes sind die neue Logik Russells und die Möglichkeit eines scharfen Unterscheidungskriteriums zwischen empirischen und metaphysischen Sätzen, die mit einer Identifzierung von bedeutungsvollen und verifizierbaren Sätzen einherging. Der ebenfalls wichtige logische Atomismus Russells und auch Wittgensteins wurde von diesem später selbst als Dogma zurückgewiesen. Der formal-deduktive Ansatz der Positivisten gilt dem Realisten als unfruchtbar. Eine klassische Verteidigung dieser Position ist Campbell’s Physics (1920), wo der Wert der Modellbildung und der Verwendung theoretischer, nicht von der Erfahrung abstrahierter Begriffe in der Hypothesenbildung auf der Basis von Analogien zu Termen bereits bestehender Theorien verteidigt wird. Andererseits wird der Realitätsgehalt dieser Modelle aber auch wieder in Frage gestellt. Für eine Aufnahme dieser Position in neuerer Zeit vgl. Hesse. Für eine Mittelstellung zwischen dem kruden Empirismus Mills und einem starken Realismus trat auch Poincarés sog. commodisme ein, eine (schwache) Version eines linguistischen Konventionalismus. So gelten ihm einige Konventionen besser als andere; und Tatsachen bleiben mit sich selbst identisch, auch wenn verschiedene Sprachen und Symbolsysteme sie ausdrücken.
Die jüngere Geschichte der W. erkannte die Beschränktheit im positivistischen Konzept des Schlusses vom Einzelnen zum Allgemeinen und seiner formal-mathematischen Analyse, was zu Verwerfungen des induktiven Prinzips oder zu Versuchen seiner Verbesserung im Wahrscheinlichkeitskalkül führte, etwa in Jevons’ Versuch, bekannte Einzelbeobachtungen nicht zum Ausgangspunkt zu wählen, sondern von einer allgemeinen Hypothese abzuleiten. Die positivistische W. hat ihre nicht-empirischen Dogmen einer kritischen Revision unterziehen müssen. So hat Popper als erster das Verifizierbarkeitsprinzips des Positivismus, das zu unbefriedigenden Konsequenzen hinsichtlich der stark restringierten potentiellen Bedeutsamkeit von Sätzen führt, durch das Prinzip der potentiellen Falsifizierbarkeit ersetzt. Nach Popper besteht die Logik der Wissenschaften wesentlich in der Zurückweisung von Vermutungen. Der spätere Carnap versuchte den Aporien des positivistischen Sensualismus, der maßgeblich auch durch den späten Wittgenstein in Verruf geraten war, durch einen Physikalismus zu ersetzen, demzufolge idealiter die Sprache der Physik die Einheitssprache aller Wissenschaft bildet. Grundlage aller Wissenschaft sind nicht Sinnesdaten, aus denen physikalische Objekte erst zu rekonstruieren sind, sondern die Objekte, die die beste existierende physikalische Theorie als existierend annimmt. Solcher Reduktionismus wird freilich dort noch kontrovers diskutiert, wo es um die physikalische Reduktion etwa biologischer, aber vor allem auch gesellschaftlicher und moralischer Fakten geht.
Die heute vielleicht am weitesten verbreitete Auffassung wissenschaftlicher Theoriebildung ist die sog. semantische Konzeption. Anders als in logisch-positivistischer Sicht sind Theorien hier keine axiomatischen Systeme oder linguistischen Entitäten, sondern mengentheoretische Entitäten, was erlaubt, eine Änderung in der Theorieformulierung nicht als eine Änderung ihrer Semantik zu betrachten (wobei Semantik als formale Theorie im Sinne der Modelltheorie der mathematischen Logik verstanden wird). Ist eine solche semantische Interpretation der Theorieformulierung gegeben, ist eine Theorie als Referenz ihrer Formulierung eine genuin extralinguistische Entität. Die semantische Konzeption kann mit einer antirealistischen Wissenschaftskonzeption (van Fraassen) kombiniert werden, einer quasirealistischen (Suppes), oder einer realistischen (siehe Leplin). Die Erstere ist empiristisch orientiert, nimmt epistemische Grenzen von Wissbarkeit an und konstruiert wissenschaftliche Tätigkeit so, dass Theorien empirisch adäquat sein müssen: Die Theorie muss wenigstens eine Interpretation erlauben, die mit allen aktualen Beobachtungsdaten übereinstimmt, wobei der letztere Begriff freilich wiederum die Probleme der Theorieunabhängigkeit von Beobachtungen aufwirft. Theorien müssen aber nicht wahr sein, um brauchbar zu sein. Der Quasirealismus hat einen weiteren Begriff von Beobachtung als der Antirealismus und ist eine Mittelposition, derzufolge Theorien nicht »wörtlich«, aber doch kontrafaktisch wahr sein müssen. Für den Realisten jedoch involviert die Akzeptanz einer Theorie den Glauben, dass sie wahr ist und tatsächlich das Wesen der Natur widerspiegelt.
Literatur:
- A. J. Ayer (Hg.): Logical Positivism. New York 1959
- N. R. Campbell: The Foundations of Science. New York 1957
- R. Carnap: Testability and Meaning. Philosophy of Science 3 (1936). S. 419–471
- Ders.: Philosophical Foundations of Physics. New York 1966
- C. G. Hempel/P. Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation. In: Philosophy of Science 15 (1948). S. 135–175
- M. Hesse: Models and Analogies in Science. London 1962
- W. S. Jevons: The Principles of Science. New York 1958
- T. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 21970 (dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1967)
- I. Lakatos: The Methodology of Scientific Research Programmes. Philosophical Papers I. Mathematics, Science, and Epistemology. Philosophical Papers II. Hg. Worrall/Currie. Cambridge 1978 (dt. Die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme – Philosophische Schriften I; Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie – Phil. Schriften II. Hg. Worrall/Currie. Braunschweig 1982)
- J. Leplin: Scientific Realism. Berkeley 1984
- E. Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917
- J. S. Mill: A System of Logic. 3. Buch. London 81872
- E. Nagel: The Structure of Science. London/New York 1961
- H. Poincare: La science et l’hypothese. Paris 1968 (dt.: Wissenschaft und Hypothese. Leipzig 31928)
- F. Suppes: The Semantic Conception of Theories and Scientific Realism. Urbana/Chicago 1989
- B. van Fraassen: The Scientific Image. Oxford 1980
- W. Whewell: The Philosophy of the Inductive Sciences. London 1840.
WH
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