Lexikon der Psychologie: Lebende Systeme
Lebende Systeme, auch: Leben, Lebewesen, Lebenserscheinung o. dgl., als übergeordneter Ansatz der Erkenntnissuche eine systemtheoretische Gegenstandsauffassung und Methodik (Systeme, Systemtheorie). Diese strukturwissenschaftliche Perspektive betont im Vergleich mit einer eher elementaristischen Zugangsweise ausdrücklich die strukturelle und prozessuale Einheit aller Teile bzw. Elemente des Erkenntnisgegenstandes einschließlich seiner Koppelung an die für den Lebensträger relevante physische und soziale Umwelt.
Eigenarten, Zustände, Strukturen, Prozesse und Produkte lebender Systeme sind nicht nur Erkenntnisgegenstand der vergleichenden Biopsychologie, sondern der Psychologie schlechthin, wenn man aus heuristischen Gründen einer sehr allgemeinen und betont einheitswissenschaftlichen und interdisziplinären Erkenntnisperspektive folgt. In dieser Allgemeinheit teilt die Psychologie ihr Erkenntnisinteresse nicht nur mit traditionellen Geisteswissenschaften wie Philosophie, Geschichte, Sprachwissenschaften etc. oder mit benachbarten Sozial- und Verhaltenswissenschaften wie Soziologie, Pädagogik oder Ethnologie. Auch primär naturwissenschaftlich orientierte Humanwissenschaften wie Medizin oder Anthropologie haben Leben bzw. lebende Systeme zum Erkenntnisgegenstand.
Traditionsgemäß befaßt sich vor allem die Biologie in verschiedenen Disziplinen mit Lebewesen, wobei für die Psychologie insbesondere die vergleichende Verhaltensforschung und Humanethologie (Ethologie), die Evolutionsbiologie, die Soziobiologie, die Verhaltens- und Molekulargenetik und vor allem die verschiedenen Zweige der Physiologie und Neurobiologie von Interesse sind.
Der mit dieser Gegenstandsverallgemeinerung einhergehende heuristische Vorteil verbindet sich mit vergleichender und interdisziplinärer Methodik. Vergleichende Betrachtungsweise im interdisziplinären Kontext ermöglicht im Wechselspiel der Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden (Besonderheiten) einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn, der sich durchaus freihalten läßt von bestimmten Fehlern eines einseitigen Reduktionismus. Die Betrachtung des Erkenntnisgegenstandes der Psychologie unter dem allgemeinen Blickwinkel eines lebenden Systems zwingt z.B. keineswegs zu einer (nicht umkehrbaren) materiellen Reduktion des Gegenstandes auf molekulargenetische Wirkmechanismen, also schließlich auf eine deterministische Erklärung durch materielle biochemische und biophysikalische Wirkursachen. Vielmehr findet lediglich eine allgemeine strukturelle Reduktion statt, der partielle materielle Reduktionen untergeordnet sind. Unter lebenden Systemen versteht man nicht nur individuelle Lebewesen, sondern auch soziale Verbindungen zwischen Lebewesen (Paarbildung, soziale Gruppen und Gesellschaften, Staaten etc.). So befaßt sich die Soziobiologie z. B. ausdrücklich mit dem Sozialverhalten lebender Systeme (z. B. Altruismus, Hilfeverhalten). Für individuelle lebende Systeme werden traditionsgemäß aus biologischer Sicht folgende Kriterien genannt:
- Strukturen mit protoplasmatischer und zellulärer hierarchischer Organisation und Differenzierung
- Individualität und Gestalt (Morphologie, auch Verhaltensmorphologie)
- Stoff- und Energiewechsel
- Reizbarkeit und Reaktionsvermögen innerhalb der Organismus-Umwelt-Beziehung
- Fortpflanzung (Reproduktion), Wachstum, Entwicklung
- Mutabilität und Variabilität mit Fähigkeit zu Anpassung und Evolution gegenüber Selektionsdruck
- Zeitabhängigkeit (z.B. Lernfähigkeit, Gedächtnis, begrenzte Lebensdauer)
Umfassendere und komplexere Definitionsversuche gegenüber dem Begriff "Leben" unterscheiden sich in vieler Hinsicht, z.B. nach ihrer theoretischen Bezugsetzung (z.B. Evolutionstheorie) oder nach ihrer übergeordneten strukturwissenschaftlichen Einbettung. Aus biologischer aber gleichzeitig transdisziplinärer Sicht definiert z.B. Konrad Lorenz vor dem Hintergrund der Verbindung von Ethologie, Evolutionsbiologie und philosophischer Erkenntnistheorie (Evolutionäre Erkenntnistheorie) Leben als "erkenntnisgewinnenden Prozeß". In bestimmten interdisziplinären strukturwissenschaftlichen Konzepten werden systemtheoretische Prinzipien der Selbstorganisation komplexer Systeme (mit Selbstregulation und Selbstproduktion) herausgestellt. Evolutive lebende Systeme werden z.B. durch spieltheoretische Konstrukte modelliert (Spieltheorie).
Noch weiterreichende allgemeine Konzepte implizieren z. B. auch Vergleiche mit physikalischen und chemischen Systemen und stellen die Fähigkeit lebender Systeme zum ständigen Aufbau von Ordnungsstrukturen entgegen der Entropie-Aussage des II. Hauptsatzes der Thermodynamik in den Vordergrund (dissipative Strukturen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht). Unter dieser Perspektive ist dann auch die Einordnung von Leben in den gesamten Ablauf der universellen Evolution informativ, insbesondere der Übergang von unbelebten auf belebte Systeme und schließlich die Entstehung von Strukturen mit komplexeren und besonderen Eigenarten wie Geist oder Bewußtsein. Diese Perspektive ist eng verbunden mit dem Leib-Seele-Problem bzw. dem psychophysischen Problem.
Allen Definitionen gemeinsam ist der Hinweis auf den besonderen Zeitbezug lebender Systeme, z.B. im Hinblick auf zeitlich organisiertes Lern- und Anpassungsvermögen (als Gegenstand der Lernpsychologie) oder allgemein bezogen auf individuelle Entwicklungsprozesse (Ontogenese) und langfristige Evolution (Phylogenese).
Für den speziellen Gegenstand der Psychologie, also Verhalten und Erleben des lebenden Systems "Mensch", wird übereinstimmend besonders die Bedeutung hochentwickelter neuronaler informationsverarbeitender Strukturen herausgestellt. Sie kontrollieren den Ablauf bestimmter kognitiver (und emotionaler) Funktionen, die dem Menschen eine besonders große Flexibilität in der lernabhängigen Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen ermöglichen.
Eine vergleichende Erkenntnisperspektive der Psychologie mit dem verallgemeinerten Gegenstand "lebendes System" erleichtert auch die Erweiterung üblicher naturwissenschaftlicher Basis wissenschaftlicher Erklärung über das Vorbild der Physik (u. dgl.) hinaus. Analog zur Unterscheidung zweier Erklärungsebenen in der Biologie (proximate und ultimate Erklärung) läßt sich so eine erklärungsbedüftige Eigenart lebender Systeme (z.B. Intelligenz) nicht nur nach Wirkursachen (genetische, physiologische und soziale Faktoren), sondern auch nach Zweckursachen, d.h. hinsichtlich seines individuellen und evolutiven Anpassungswertes in der Organismus-Umwelt-Interaktion erklären (teleonome Erklärung; Wozufrage). Der letztere Erklärungsansatz ist typisch für die Evolutionspsychologie und in Verbindung mit der Genetik auch für die Soziobiologie. Der gesamte vergleichende Ansatz der Psychologie, der sich hier mit dem verallgemeinerten Gegenstand "lebendes System" verbindet, wird methodologisch gestützt durch neuere interdisziplinäre Konzepte auf strukturwissenschaftlicher Basis, wie z. B. Kybernetik, Informationstheorie, Spieltheorie, Theorien zur Selbstorganisation, Chaostheorie, Synergetik, Semiotik etc. oder allgemein durch systemtheoretische Betrachtungsweisen. Neue interdisziplinäre Wissenschaftszweige wie Neuro- und Kognitionswissenschaften implizieren diese für die Psychologie sehr bedeutsame Sichtweise. Vor diesem Hintergrund ist auch der Vergleich zwischen belebten und unbelebten Systemen informativ, z. B. unter Hinzunahme der Computerwissenschaften (neuronale Netzwerke, Künstliche Intelligenz).
H.A.
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