Abelpreis 2020: Zufälligen Schrittes erstaunliche Ergebnisse erzielen
Den diesjährigen Abelpreis, der das Lebenswerk von Mathematikern kürt, teilen sich Hillel Furstenberg und Grigori Margulis für die Entwicklung statistischer Methoden, die zu zahlreichen Ergebnissen in ganz anderen mathematischen Bereichen geführt haben.
Etwas überraschend mag erscheinen, dass die beiden Forscher – obwohl sie sich ähnlichen Themen widmeten – niemals direkt zusammengearbeitet haben. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist der 1946 in Moskau geborene Margulis mehr als zehn Jahre jünger als Furstenberg, der 1935 in Berlin zur Welt kam. Zudem verhinderte der Kalte Krieg, dass Margulis die Sowjetunion verlassen durfte.
Der begabte Mathematiker stach schon früh heraus, mit nur 32 Jahren erhielt er die Fields-Medaille für seine Beiträge zur Gruppentheorie – eine der größten Auszeichnungen der Mathematik. Allerdings durfte er damals nicht nach Finnland ausreisen, weshalb er den angesehenen Preis nicht annehmen konnte. In den darauf folgenden Jahren musste Margulis weitere Rückschläge einstecken: Obwohl er zu den begabtesten Meistern seines Fachs gehörte, erhielt er keine Anstellung an der renommierten Moskauer Universität, weil er jüdischer Abstammung war. Daher arbeitete er am Institut für Informationsübertragung, wo er 1986 leitender Wissenschaftler wurde. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 wanderte er schließlich in die USA aus und nahm dort eine Stelle an der Yale University an, die er bis heute innehat.
Das Leben von Furstenberg ist ebenfalls von Schicksalsschlägen geprägt. Als er vier Jahre alt war, floh seine Familie, die auch jüdischer Abstammung war, in die USA. Auf der Reise verstarb sein Vater, so dass Furstenberg von Mutter und Schwester aufgezogen wurde. Als er seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte, glaubten einige seiner Kollegen, der Name Furstenberg sei ein Pseudonym, den sich eine Gruppe von Mathematikern zugelegt habe – so vielseitig seien die darin entwickelten Ideen. 1965 wanderte Furstenberg nach Israel aus, das er zu einem anerkannten Zentrum der mathematischen Forschung verwandelte.
Auch wenn die beiden Mathematiker nicht direkt zusammenarbeiteten, so beeinflussten sie sich doch gegenseitig. Denn beide nutzten einen statistischen Ansatz, um Probleme ganz anderer Bereiche zu untersuchen. Dabei handelt es sich um den so genannten »Random Walk«, der genutzt wird, um Börsenkurse, das Jagdverhalten von Tieren oder die Bewegung von Molekülen zu beschreiben. In zwei Dimensionen kann man sich dazu zum Beispiel einen Menschen vorstellen, der auf einem Zahlenstrahl auf der Null steht. Die Person kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entweder einen Schritt vor auf die Eins oder zurück auf die minus Eins gehen. Indem man die jeweilige Wahrscheinlichkeit für den Sprung nach vorne oder hinten anpasst, kann man verschiedene zufällige Ereignisse modellieren.
Doch Furstenberg und Margulis wendeten den Random Walk auf völlig neue Objekte an, wie Gruppen oder Graphen, die anderen mathematischen Gebieten entspringen. Eine Gruppe ist eine Sammlung von Objekten (etwa ganze Zahlen), die man zu einem weiteren Element der Gruppe verknüpfen kann (beispielsweise durch die Addition). Zudem muss jedes Objekt ein Inverses besitzen (eine Zahl mit umgekehrtem Vorzeichen), und es muss ein neutrales Element geben, das ein Objekt nicht verändert, wenn man es damit verknüpft (in diesem Fall die Null). Ein Beispiel für eine Gruppe sind daher die ganzen Zahlen mit der Addition. Im Prinzip können diese Strukturen aber extrem kompliziert werden, so dass es Mathematikern schwerfällt, ihre Eigenschaften zu untersuchen.
Wie die zwei Laureaten herausfanden, kann der Random Walk dabei helfen, in unerforschte Gebiete einiger Gruppen vorzudringen. Der oben erwähnte zweidimensionale Random Walk dient beispielsweise dazu, die Gruppe der ganzen Zahlen mit der Addition zu studieren. Analog lassen sich auch komplizierte Gruppen mit angepassten Random Walks analysieren.
Gleiches gilt für Graphen: Diese verästelten Strukturen aus Knoten und Verbindungen zwischen ihnen eignen sich besonders gut, um sie mit Random Walks zu untersuchen. Auf diese Weise konnten die beiden Mathematiker das Wissen um Graphen und Gruppen erweitern und haben zahlreiche bedeutende Ergebnisse hervorgebracht.
Seit 2003 vergibt die Norwegische Akademie der Wissenschaften den Abelpreis, der mit einem Preisgeld von etwa 760 000 Euro dotiert ist. Eigentlich findet im Mai die offizielle Preisverleihung statt, doch angesichts der Covid19-Pandemie wird das Ereignis auf unbestimmte Zeit verschoben.
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