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Murmeltiere im Klimawandel: Noch weiter oben, und der Berg wäre zu Ende

Dank des Rückzugs ins Hochgebirge überlebten Murmeltiere das Ende der Eiszeit. Nun aber wird es ihnen in den Alpen zu heiß. Besuch bei einem Tier, dem der Klimawandel nachsteigt.
Murmeltiere in den Alpen
Noch sind Murmeltiere häufig in den Alpen. Doch die Kältespezialisten drohen an der Erderwärmung zu Grunde zu gehen.

Die Gefangene ist mit ihrer Behandlung nicht einverstanden. Wie in einem Cartoon erscheinen in dem zugeschnürten Jutesack immer wieder die Konturen einer verärgerten, etwa 40 Zentimeter großen Gestalt. Dass der Beutel nicht über die Almwiese davonhüpft, ist einzig Samuel Ginots strategisch platziertem Knie zu verdanken. Der Biologe, der in diesem Sommer sein Labor an der Universität Montpellier mit dem Hochgebirge vertauscht hat, presst den Beutel an einem Ende auf den Boden und nestelt gleichzeitig an seinen Messgeräten herum. Schließlich öffnet er den Sack weit genug, um einen Kopf erscheinen zu lassen: ein weibliches Alpenmurmeltier, vier Kilo schwer. Und sichtlich aufgebracht.

Dem Franzosen kommt das nur gelegen, denn er will messen, wie kräftig das Nagetier zubeißen kann. Kaum hält er ihm den Mechanismus vor die Nase, schnappt das Tier zu. Ginot notiert: 130 Newton. So viel wie ein Rotfuchs. Mit den wehrhaften und aggressiven Hörnchen ist nicht zu spaßen.

An den doppelten Ohrmarken erkennt Ginot, dass er es mit einem dominanten Weibchen zu tun hat. Wenn die Murmeltierdame nicht gerade in einem Sack steckt, herrscht sie also mit ihrem Partner über eine erweiterte Großfamilie samt Territorium. Die Marken zeigen auch: Sie ist eine alte Bekannte. Deshalb braucht es keinen Abstecher ins kleine Labor im nahe gelegenen Bergchalet. Ginot macht den Beutel auf und lässt das Murmeltier sausen. Kurz darauf ist es in seinem Bau verschwunden.

Die grünen Hänge unterhalb der Aiguille de la Grande Sassière, einem 3751 Meter hohen Gipfel der französischen Alpen, sind durchlöchert von einem Netzwerk weit verzweigter Tunnel: Die Welt der Alpenmurmeltiere liegt zu gleichen Teilen über wie unter der Grasnarbe. Doch sie ist bedroht durch einen Wandel, vor dem es kein Verstecken gibt.

Kraftvoller Biss | Samuel Ginot und Rébecca Garcia bitten ein Murmeltier zum Test: Beißen dominante Tiere stärker? Ist der Biss nach dem Winterschlaf schwächer? Das soll die Auswertung der Daten später zeigen.

Eine »Wächterart« im Ökosystem der Berge

Nur an wenigen Orten kann man dessen Auswirkungen so deutlich erfahren wie an der Grande Sassière. Seit mehr als 30 Jahren stehen die hier lebenden Murmeltiere unter Beobachtung. 1990 nahmen Biologen von der Universität Lyon erstmals die gut 2500 Höhenmeter auf sich, um ins Murmeltierland zu gelangen. Nahezu ununterbrochen haben sie seitdem das Leben und Sterben der Erdhörnchen dokumentiert.

»Die Gesundheit der Murmeltiere steht für die Gesundheit der Alpen«, sagt Christophe Bonenfant, der das Forschungsprojekt seit 2019 leitet. Geht es den Murmeltieren schlecht, geht es auch den Alpen nicht gut.

Eine »Wächterart« nennt sie Bonenfant deswegen. Gar nicht so unpassend für ein Tier, von dem man als Wanderer oft nicht mehr als seine schrillen Warnpfiffe bemerkt.

Im Basislager der Gruppe sitzt Rébecca Garcia auf einer Holzbank und tippt in ihren Laptop. In der Almhütte hinter ihr arbeitet und schläft das meist sechsköpfige Team jeden Sommer zwei Monate lang, von Mitte Mai bis Mitte Juli. Dort haben sie auch ihr Labor eingerichtet. Jeden Tag ziehen die Studentinnen und Studenten ins rund 2200 Hektar große Gelände, um Daten zu sammeln. Garcia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, sie koordiniert die Feldforschung.

Wütende Pfeiftöne unterbrechen sie bei der Arbeit: Gleich hinter dem Chalet an einem Felsen entspinnt sich eine Art Grenzkonflikt. Ein männliches Murmeltier hat sich auf seine Hinterbeine gestellt und macht ordentlich Radau, ein anderes Männchen sieht sich die Lage eine Weile an, dann zieht es ab. »Wenn Nachbarn sich treffen, prüfen sie, ob eine Verwandtschaft besteht. Wenn nicht, wird gekämpft«, erklärt Garcia. Steht die Herrschaft über ein Territorium auf dem Spiel, gehe es extrem gewalttätig zur Sache. »Oft wird bis zum Tod gekämpft.« Die Grabpfoten, mit denen sie ihre Baue errichten, sind gefährliche Waffen.

Künftig könnten solche Duelle noch häufiger vorkommen als ohnehin schon. Denn die Auswirkungen der Klimakrise sind in den Alpen spürbar geworden. Die Gebirgswelt hat sich in den letzten Jahren doppelt so schnell erwärmt wie der Rest des Globus, um rund zwei Grad Celsius liegen die Temperaturen im Jahresmittel über vorindustriellem Niveau. Gletscher ziehen sich zurück, Felswände brechen und stürzen nach Jahren anhaltender Dürre ein. Wenn die aktuellen Trends anhalten, dürften bis zum Ende dieses Jahrhunderts viele Gletscher vollständig verschwunden sein. »Die Schneegrenze steigt immer höher. Dieses Jahr hatten wir hier keinen Schnee unter 1800 Metern«, berichtet der für das Naturschutzgebiet Grande Sassière zuständige Parkwächter Nicolas Vernon. »Und auch die Gletscher gehen zurück. Statt einem einzigen Schmelzwassersee haben wir nun drei.«

Durch den Flaschenhals ins Hochgebirge

Es ist nicht der erste Klimawandel, den die Alpenmurmeltiere zu verkraften haben. Sie gelten in der Forschung als Eiszeitrelikt: Während der Kaltphasen des Pleistozäns kamen sie auch im europäischen Tiefland vor. Als es dann immer wärmer wurde, zog sich die Art auf Gebirgshöhenlagen zurück. Nur dort fanden die Tiere noch die Bedingungen, die sie als ausgemachte Kältespezialisten brauchen. Die Folge war ein Flaschenhalseffekt: Lediglich ein kleiner Teil der Ursprungspopulation hat sich in den Alpen niedergelassen, der Rest ging mitsamt seiner genetischen Vielfalt auf immer verloren.

In der Evolution ist es wie bei der Lotterie: Je mehr Lose, desto höher die Chance auf einen Gewinn, und je breiter die genetische Vielfalt, desto wahrscheinlicher befinden sich bereits besser angepasste Tiere in der Population und desto schneller kann eine Art reagieren. Die Murmeltiere allerdings haben die meisten ihrer Lose schon vor Jahrtausenden in der Ebene gelassen.

Seitdem wurde es nicht besser. Ihre Lebensweise lasse sie ihre Vielfalt schneller verlieren, als sie sie aufbauen könnten, sagt Markus Ralser von der Charité Berlin. Mit seinem Team hat er unlängst das Erbgut der Tiere entziffert. »Am Anfang dachten wir, wir haben die Proben verwechselt und das gleiche Tier zweimal sequenziert«, so stark ähnelten sich die Ergebnisse. »Das hatte keiner von uns je gesehen.«

An der Grande Sassière ist derweil wieder Ruhe eingekehrt. Der Nachbarschaftskonflikt hinter der Almhütte wurde friedlich beigelegt. Rébecca Garcia bringt eine laminierte Karte zum Vorschein. Sie ist der Wegweiser durch die politische Landschaft rund um ihre Hütte. Man fühlt sich an das Europa des 19. Jahrhunderts erinnert: ein Flickenteppich aus 32 präzise voneinander abgegrenzten Hoheitsgebieten. In jedem davon herrscht ein dominantes Paar über bis zu 20 subdominante Untertanen, und jedes steht im Dauerkonflikt mit den Nachbarn.

Wie in der Welt der Menschen gilt: Wer nicht aufpasst, hat seine Macht schon verloren. Die Herausforderer kommen manchmal von außen, oft aber aus der eigenen Familie. Es ist ein täglicher Kampf. »Wir können die Grenzen deswegen so genau aufzeichnen, weil wir die Familien und ihre Bewegungen jeden Tag genau festhalten«, erklärt die studierte Ökologin Garcia. »Das dominante Männchen läuft außerdem die Grenzen regelmäßig ab und markiert sie ständig neu.« Auch jetzt wieder steht am Rand des Wanderpfads, der an dem Chalet vorbeiführt, ein männliches Murmeltier und wedelt wild mit seinem buschigen Schwanz. Dabei sondert es ein stark riechendes Sekret aus seinen Wangendrüsen ab.

Murmeltiere, die ein eigenes Territorium anstreben, haben drei Alternativen: Sie können ein unbesetztes Gebiet für sich beanspruchen, einen Nachbarn angreifen – oder ihre Eltern töten. Dann gilt es, die Macht zu festigen und dafür zu sorgen, dass ausschließlich die eigenen Gene die neue Gruppe dominieren. So setzen sie die anderen Weibchen durch Kämpfe derart unter Stress, dass diese entweder gar nicht erst trächtig werden oder eine Fehlgeburt erleiden. Das dominante Weibchen verpaart sich allerdings gelegentlich auch mit subdominanten Männchen, darunter die eigenen männlichen Nachkommen.

Wegen des sechs- bis siebenmonatigen Winterschlafs entwickeln sich Alpenmurmeltiere körperlich nur sehr langsam und erreichen erst nach drei bis vier Jahren Geschlechtsreife. Auch dann ziehen viele Tiere nicht sofort ab, sondern bleiben als so genannte Helfer beim dominanten Paar, unterstützen dieses bei der Aufzucht des Nachwuchses und erhöhen durch ihre eigene Körperwärme während des Winterschlafs die Temperatur im Bau. All diese von der Natur ausgeklügelten Mechanismen werden nun durch den Klimawandel durcheinandergebracht.

Murmeltiere brauchen den Schnee

»Die Schneedecke über den Bauen wird von Winter zu Winter dünner, was paradoxerweise zu niedrigeren Temperaturen im Bau führt, wegen der schlechteren Isolation«, erklärt Christophe Bonenfant. Wenn es kälter im Bau wird, müssen die Murmeltiere mehr Körperwärme produzieren, das kostet Energie und somit Fettreserven. »Dann kommen sie in schlechterem Zustand aus dem Winterschlaf, und die Weibchen bringen weniger Nachwuchs zur Welt.« Es droht eine Abwärtsspirale. Schon heute kann das Team eine Abnahme in der Zahl der Jungtiere pro Wurf beobachten.

Derzeit sind Alpenmurmeltiere noch zahlreich, die Weltnaturschutzunion IUCN führt Marmota marmota offiziell als »nicht gefährdet«. Doch wie lange wird das angesichts eines Populationsrückgangs von vier Prozent pro Jahr so bleiben? Umso wichtiger sei es jetzt, die Veränderungen im Zustand der Tiere und bei der Fortpflanzung genau zu dokumentieren, findet Bonenfant.

Seit drei Stunden liegt Aure Hirigoyen deshalb nun schon flach auf dem Bauch vor einem Marmota-marmota-Bau. Die Studentin der Angewandten Biologie soll Jungtiere für Tests einfangen, doch die Aufgabe ist nicht leicht. Nur an den ersten drei Tagen, an denen sie ihren Bau verlassen, sind sie noch naiv genug, um sich per Hand schnappen zu lassen. Später müssen Fallen aufgestellt werden. Große Käfige, in denen durch Gewicht auf einer Platte ein Schnappmechanismus ausgelöst wird. Geködert werden die Überlebenden aus der Eiszeit mit Melasse und Kaninchenfutter. Für Jung und Alt gilt gleichermaßen: Länger als 30 Minuten darf kein Murmeltier in der Falle bleiben. So will es das Tierschutzgesetz. Darum patrouillieren die Forscher von morgens um acht, wenn die Käfige geöffnet werden, bis abends um sieben, wenn sie geschlossen werden, durch alle 32 Territorien.

Plötzlich wirft Hirigoyen einen Jutesack auf das Loch im Boden: Drei Jungtieren haben sich herausgewagt und flitzen in alle Richtungen, der Sack soll ihnen den Rückzug verstellen. Im Gewusel gelingt zweien die Flucht, das dritte aber landet in den Händen von Aure Hirigoyen. Auch jetzt beginnt ein Countdown, denn die Untersuchungen sollen grundsätzlich nicht länger als 60 Minuten in Anspruch nehmen, um die Tiere vor zu viel Stress zu bewahren. Außerdem dürfen dominante Exemplare nicht während ihrer Untersuchung das Territorium verlieren. Das Jungtier wird also schleunigst ins Labor des Chalets getragen, wo es zunächst anästhesiert wird. Dann macht sich Rébecca Garcia an die Arbeit. Sie wiegt es, misst Körperproportionen und -temperatur, entnimmt Blut, Kot und eine Fellprobe. Wenn das Murmeltier zum ersten Mal untersucht wird, kommen Hautproben für Gentests dazu. Neben einem Mikrochip, wie er auch bei Haustieren üblich ist, erhält das Tier noch eine Ohrmarke.

Während sich das Jungtier in einem Karton von der Narkose erholt, schreibt Rébecca Garcia eine neue Zahl auf das Whiteboard an der Wand: 2302. »Die Zahl aller individuellen Murmeltiere, die wir hier bislang untersucht haben«, sagt sie. Daten und Proben verschickt sie an die Uni Lyon, wo Christophe Bonenfant sich um die Auswertung kümmert.

Der Trend geht nach unten, die Murmeltiere wandern nach oben

Wie sich die Murmeltiere an der Grande Sassière verändern, kann man mit bloßen Augen nicht erkennen. Doch die Statistiken, die seit den 1990er Jahren geführt werden, verraten es. Zum Beispiel werden nicht nur die Würfe kleiner und die Überlebenschancen der Neugeborenen geringer. Auch die Körpergröße der Tiere nimmt ab. Für ein kälteangepasstes Tier bedeutet das nichts Gutes, sagt Bonenfant: »Größere Tiere pflanzen sich besser fort und überleben leichter.« Die Beißkraftuntersuchungen, die sein Kollege Samuel Ginot durchführt, sollen ebenfalls Hinweise auf die körperliche Fitness der Tiere geben.

Christophe Bonenfant | Die Murmeltiere verraten, wie es dem Ökosystem der Alpen geht, sagt der Leiter des Forschungsteams.

In den Daten erkennt Bonenfant erste Hinweise darauf, dass der Klimawandel auf das Sozialgefüge der Art Einfluss nimmt. Für das Gelingen der Aufzucht sind die »Helfertiere« ein entscheidender Faktor, auch wenn ihre Anwesenheit in der Gruppe ein evolutionsbiologisches Rätsel ist: Sie sind geschlechtsreif, könnten also bereits ihre eigenen Gene weitergeben, versuchen das aber gar nicht erst, sondern beteiligen sich sogar an der Versorgung von Nachkommen, die nicht ihre eigenen sind. Bis zu fünf Jahre bleiben sie in der Familie. Vermutlich ist ihr evolutionsbiologischer Profit in der Sache ein indirekter, denkt Bonenfant: »Sie erhalten den Fortbestand ihrer eigenen Gene auch dadurch, dass sie Verwandte mit aufziehen.«

Zu Beginn des Murmeltierprojekts lagen die Chancen, dass der Nachwuchs den Winterschlaf übersteht, bei 80 Prozent, sofern es Helfer gab – und nur bei 50, wenn nicht. »Heute liegen die Chancen aber durchweg bei 50 Prozent, egal ob es Helfer gibt oder nicht«, so Bonenfant. Auch in diesem Fall könnte ein Teufelskreis entstehen: »Wenn das dominante Paar in einem schlechten Zustand ist und entweder weniger oder gar keinen Nachwuchs produziert, gibt es für die Helfer keinen indirekten Fitnessvorteil mehr.« Die Daten von der Grande Sassière zeigen erwartungsgemäß, dass immer mehr Helfer früher abwandern. Den Herrschern laufen die Untertanen davon. Das macht es für das dominante Paar künftig noch schwieriger, ausreichend Nachwuchs zu produzieren.

»Egal, wie groß deine Population ist. Wenn du keine genetische Vielfalt hast, bist du anfälliger für unvorhersehbare Einflüsse«Markus Ralser, Charité Berlin

Wie sich die Murmeltiere auf dieses veränderte Leben einstellen, lässt sich gleich hinter den französischen Alpengipfeln beobachten, in Italien. Weniger als 20 Kilometer Luftlinie entfernt liegt der Nationalpark Gran Paradiso. Hier erforscht Caterina Ferrari seit 2006 die italienischen Cousins der Nager von der Grande Sassière. Die Ökologin beobachtet die gleichen Veränderungen in den Sozialstrukturen der Alpenmurmeltiere wie die Lyoner Kollegen in deren Forschungsrevier.

Allerdings verzeichnet sie auch erste Verhaltensanpassungen. »Die Murmeltiere haben eigentlich große Familien. Doch ihr Lebensraum schrumpft. Da lohnt es sich einfach nicht mehr, so zahlreich zu sein«, sagt Ferrari. Geringere Gruppengrößen werden zum neuen Normalfall, erwartet die Verhaltensökologin. Als besonders bedenklich empfindet sie es, dass sich die Baumgrenze immer weiter nach oben verschiebt. »Wo ich gerade forsche, da hatten wir noch vor einigen Jahren Bergprärien und Almweiden und die Murmeltiere waren überall zu sehen. Jetzt ist hier ein Wald.«

Gefangen in der alpinen Sackgasse

Murmeltiere, die hinter Büschen oder unter kleinen Bäumen leben? »Das gab es früher nicht, und das ist eine gewaltige Veränderung für eine Art, die so sehr an das Leben auf den offenen Almwiesen angepasst ist«, sagt Ferrari.

Hinter der sich verändernden Umwelt steckt in diesem Fall jedoch nicht allein der Klimawandel. Viele Almwiesen sind vom Menschen geschaffene Kulturlandschaften, die es nur gibt, weil sie regelmäßig gemäht oder von Kühen offen gehalten werden. Wo keine alpine Weidewirtschaft mehr betrieben wird, wachsen sie unaufhaltsam zu. In den neu entstehenden Jungwäldern finden Murmeltiere nicht mehr ihre bevorzugte Nahrung, außerdem dringen mit dem Wald neue Raubtiere wie der Fuchs vor und jagen bevorzugt Jungtiere, die bislang nur den Steinadler fürchten mussten. Ein Erhalt der Almweiden wäre darum ein erster Schritt, um den Murmeltieren zu helfen.

Gefahr erkannt? | Die Forscher haben eine Falle direkt am Eingang zum Bau platziert. Anhand der Steinhaufen, die die Tiere beim Graben aufwerfen, sind die Eingänge leicht zu finden.

Caterina Ferrari beobachtet, dass die Alpenmurmeltiere ausweichen – und zwar sowohl in niedrigere als auch in höhere Lagen. »Aber weiter oben ist der Berg dann auch irgendwann am Gipfel. Dort gibt es nur noch Felsen und keine Möglichkeit für Nahrungssuche oder um Baue zu graben.« Weiter unten Richtung Tal, wo es dank mehr Landwirtschaft auch mehr Freiflächen gibt, wird es den pelzigen Hörnchen dagegen erst recht zu warm: »Sie sind wirklich nicht gut darin, mit Hitzestress umzugehen. Sie überhitzen sehr, sehr schnell.« An heißen Tagen würden sie bereits jetzt schon immer länger in ihren Bauen bleiben, was ihnen die Möglichkeit nimmt, sich für den Winterschlaf genügend Fett anzufressen. »Außerdem versuchen sie nun häufiger, nachts nach Futter zu suchen. Das ist für ein solches Beutetier allerdings hochgefährlich«, erklärt Ferrari.

Das Ausweichen in tiefere Lagen habe noch einen weiteren Nachteil, erläutert der Berliner Stoffwechselbiochemiker Markus Ralser: »Die Ökologie weiter oben ist weniger kompetitiv.« Will heißen: Im angestammten Reich der Murmeltiere gibt es von Natur aus weniger Parasiten, Bakterien oder Viren. Neue Krankheitserreger schaffen es oftmals gar nicht erst aus dem Tal heraus. Entsprechend wenig sind die Tiere auf Abwehr eingerichtet.

Hinzu komme, dass sich die Nager so verblüffend ähnlich sind in ihrem Erbgut. »Da ist es egal, wie groß deine Population ist«, sagt Ralser: »Wenn du keine genetische Vielfalt hast, bist du anfälliger für unvorhersehbare Einflüsse.« Ob invasive Arten oder Erreger, die vom Klimawandel begünstigt werden – irgendwann werde etwas auf die Murmeltiere treffen, mit dem sie nicht umgehen können.

Es scheint, als hätten sich die Alpenmurmeltiere in eine genetische und geografische Sackgasse manövriert, aus der es im Notfall kein Entrinnen gibt. Noch sind die Kolonien der Alpenmurmeltiere groß, noch ist der Notfall nicht eingetreten. Aber wüssten die Tiere um ihre Lage, sie würden mit Sicherheit jetzt schon ihre schrillen Warnpfiffe erklingen lassen.

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