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Altern: »Der Unterschied in der Lebenserwartung beträgt 14 Jahre«

Was ist das Geheimnis von Menschen, die besonders alt werden? Wie Genetik, Bewegung und Ernährung das Altern beeinflussen und wie man seine Lebenserwartung in die Höhe schrauben kann, erklärt Altersforscherin Eline Slagboom im Interview.
Zwei Seniorinnen umarmen sich im Wasser im Hallenbad
Bewegung ist einer der wichtigsten Faktoren, um gesund zu altern. Vor allem ausdauernde Bewegungssportarten wie Schwimmen, Laufen oder Fahrradfahren werden von Fachleuten empfohlen.

Frau Slagboom, Sie erforschen seit 40 Jahren Menschen, die sehr gesund altern. Konnten Sie herausfinden, was genau Personen aus langlebigen Familien vom Rest der Menschheit unterscheidet?

Bislang konnten wir zwei wesentliche Unterschiede finden. Zum einen reagiert das Immunsystem dieser Menschen anders, etwa wenn das körpereigene Abwehrsystem fremde Erbsubstanz, die von Bakterien oder Viren stammen kann, im Körper oder in den Zellen findet. Uns ist aufgefallen, dass die Reaktion darauf bei Menschen aus langlebigen Familien zurückhaltender ausfällt – und das ist anscheinend positiv für ein langes Leben. Eine heftige Immunreaktion ist schlechter als eine ausgeglichene. Das sehen wir auch in Tiermodellen. Denn starke Immunreaktionen führen dazu, dass Zellen, in denen fremde Erbsubstanz auftaucht, abgetötet werden. Im Alter ist das natürlich ein Problem, weil die Regenerationsfähigkeit nachlässt.

Eline Slagboom |

Die Professorin für Molekulare Epidemiologie an der Universität Leiden und am Max-Planck-Institut für die Biologie des Alterns in Köln untersucht seit 2002 rund 3500 Personen in der Leiden-Langlebigkeitsstudie, an der Geschwister im Alter ab 90 Jahren, deren Nachkommen und Kontrollpersonen teilnehmen.

Was ist der zweite erbliche Grund, warum manche Menschen länger leben?

Der zweite Faktor hat mit dem Stoffwechsel zu tun. Er ist bei Menschen aus langlebigen Familien ausgeglichener, da bei ihnen die Mechanismen, mit denen Zellen auf ihre Ernährungssituation reagieren, besser arbeiten. Wenn genügend Nährstoffe vorhanden sind, stellen sie Bausteine her, teilen sich, neue Zellen entstehen. Ist die Ernährungssituation hingegen schlecht, bauen die Zellen beschädigte Proteine ab, damit sie sich nicht ansammeln. Das Umschalten zwischen diesen beiden Modi funktioniert bei den Menschen aus langlebigen Familien besser.

Das klingt logisch, aber doch abstrakt. Welche Krankheiten verursachen diese Prozesse, wenn sie nicht gut funktionieren?

Im Alter nimmt bei vielen Menschen die Resistenz gegenüber Insulin zu. Das bedeutet: Die Zellen reagieren weniger gut auf das Hormon. Der Blutzuckerspiegel steigt, so dass immer mehr Insulin gebildet wird. Dies kann zu Typ-II-Diabetes führen. Bei Menschen aus langlebigen Familien beobachten wir dagegen, dass sie bis ins hohe Alter sehr gut auf Insulin reagieren. Außerdem haben sie relativ hohe Werte des so genannten guten Cholesterins, des HDL, und normale bis niedrige Konzentrationen des schlechten Cholesterins, des LDL. Und sie haben wenig Fette im Blut und keinen Bluthochdruck. Auch auf zellulärer Ebene sehen wir sehr Erstaunliches.

»Zellen von langlebigen Personen sind gut im Aufräumen«

Was haben Sie beobachtet?

Wenn man Zellen von Menschen aus diesen langlebigen Familien im Labor mit schädlichen Substanzen behandelt, beseitigen sie diese Schäden an der Erbsubstanz und an Proteinen viel schneller als Zellen von Menschen aus anderen Familien. Zellen von langlebigen Personen sind demnach gut im Aufräumen.

Aber es ist auch möglich, ohne gute Gene gesund zu altern. Sie haben untersucht, wie man in kurzer Zeit viel für die Gesundheit im Alter erreichen kann.

Wir haben eine Interventionsstudie mit Menschen durchgeführt, die älter als 60 Jahre waren. Zunächst haben wir festgestellt, dass Personen, die sehr viel sitzen, ein höheres Sterberisiko trugen.

Wie misst man denn das Risiko zu sterben?

Dazu bestimmen wir im Blut die Konzentration 14 verschiedener Substanzen. Hohe Werte der Aminosäuren Histidin, Leucin und Valin oder des so genannten guten Cholesterins HDL verringern das Sterberisiko. Dagegen sind bei Blutzucker, Milchsäure oder den Aminosäuren Isoleucin und Phenylalanin niedrige Werte günstig für die Lebenserwartung.

Und wie sah die Intervention aus?

Die Teilnehmer durchliefen ein 13-Wochen-Programm mit vermehrter Aktivität und reduzierter Kalorienzufuhr. Sie trugen Beschleunigungsmesser am Handgelenk oder am Knöchel. So konnten wir verfolgen, wie aktiv sie wirklich waren. Wir stellten fest, dass sich die Blutwerte von jenen, die Sport trieben, verbesserten. Das passiert also sogar bei Menschen, die älter als 60 oder 65 sind. Das System ist auch in höherem Alter immer noch flexibel. Das heißt: Wer viel sitzt, kann die negativen gesundheitlichen Auswirkungen ausgleichen, indem er eine Stunde am Tag kräftig Sport treibt. Bei den Männern nahmen verschiedene Entzündungswerte im Blut ab.

Bei den Frauen nicht?

Das so genannte gute Cholesterin, das HDL, ist bei den Männern viel stärker angestiegen als bei den Frauen. Das hängt wohl damit zusammen, dass Frauen im Durchschnitt täglich mehr Arbeit im Haushalt verrichten, bei der man kaum außer Atem kommt. Männer hingegen sitzen zwar oft die meiste Zeit des Tages, machen dann aber intensiver Sport. Selbst wenn das bloß eine Dreiviertelstunde am Tag ist, scheint diese intensivere Bewegung viel mehr Nutzen zu bringen als Hausarbeit.

»Es ist nicht nur wichtig, dass man sich bewegt, sondern auch, dass man sich anstrengt«

Die Frauen schuften und es fehlt ihnen die Zeit, um Sport zu treiben – während die Männer den Großteil des Tages sitzen und sich dann noch die Zeit zum Training nehmen?

Wir sehen bloß die Bewegungsdaten und können keine Schlüsse über die Hintergründe machen. Doch anscheinend müssen Frauen anders angesprochen werden, damit sie genauso von Bewegungsprogrammen profitieren wie Männer. Es ist nicht nur wichtig, dass man sich bewegt, sondern auch, dass man sich anstrengt.

Wie kann man erklären, dass körperliche Anstrengung so sehr zum gesunden Altern beiträgt?

Muskeln müssen arbeiten; und wer kaum körperlich aktiv ist, verliert sie schnell. Je mehr man sitzt, desto mehr gefährdet man folglich seine Muskelmasse. Ohne körperliche Aktivität fordern Sie nichts von Ihrem Körper und haben wahrscheinlich zu viel Glukose in Ihren Adern. Das kann, wie bereits beschrieben, zum krankhaften Stoffwechsel mit Übergewicht und Diabetes führen und den Weg zum metabolischen Syndrom beschleunigen.

Und wie verhält es sich bei den Jüngeren? Kann man es sich in jungen Jahren leisten, faul zu sein, ohne seine Lebenserwartung zu reduzieren?

Bewegungsmangel in jüngeren Jahren passt normalerweise in ein Muster. Menschen mit sitzendem Verhalten ernähren sich in der Regel auch ungesünder. Sie entwickeln Fettpartikel in ihren Muskeln. Angenommen, Sie sind früh im Leben fettleibig, dann sind die Zellen ständig überfüttert. Unbrauchbare Proteine werden nicht entfernt, sondern sammeln sich in den Zellen an. So können Krebszellen entstehen. Außerdem werden Gefäßwände geschädigt. Auch in jungen Jahren ist es also ein Risiko, nicht auf seine Gesundheit zu achten. Je früher man es schafft, das zu ändern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für ein langes, gesundes Leben. Ausgewogene Ernährung und Bewegung sind die besten Hebel. Zellen sind dafür gemacht, aktiv zu sein und Energie zu verbrennen. Und wir sitzen nicht nur viel zu viel – wir essen oft umso mehr und fettreicher, je mehr wir sitzen. Das wirkt sich auch auf unser Gehirn aus, das unseren Stoffwechsel und Energiehaushalt steuert.

»Die meisten Menschen konzentrieren sich sehr auf Ernährung, um im Alter gesund zu bleiben. Aber die Wirkung von Bewegung ist wahrscheinlich noch größer«

Welche Auswirkungen hat denn mangelnde Bewegung auf unser Gehirn?

Das Hirn kann anfangen, die falschen Signale zu senden. So kann etwa die Hirnanhangsdrüse dafür sorgen, dass zu wenig Schilddrüsenhormon gebildet wird – dieses kurbelt den Energiestoffwechsel an. Die meisten Menschen konzentrieren sich sehr auf Ernährung, um im Alter gesund zu bleiben. Aber die Wirkung von Bewegung ist wahrscheinlich noch größer.

Haben Sie trotzdem Empfehlungen in puncto Ernährung?

Die mediterrane Ernährung mit viel ungesättigten Fetten, Obst und Gemüse sowie Fisch ist ziemlich gesund, das wissen wir mittlerweile alle. Das Interessante ist allerdings, dass sehr alte Menschen sich oft nicht extrem gesund ernähren. Sie führen ein ganz normales Leben. Manche ernähren sich sogar überhaupt nicht gesund, doch ihre Gene kompensieren das.

Ungerecht!

Ja, unfair. Was ich faszinierend finde, ist, dass die Mittelmeeranwohner in der Tat viel gesünder altern. Aber ich vermute, dass das nicht nur auf der Art der Speisen beruht. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass die Menschen im Mittelmeerraum beim Essen eine Weile herunterfahren und ohne Stress zusammensitzen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Entspannung und die soziale Komponente zusätzlich gesund sind.

Entspanntes Essen ist ja das Gegenteil zu dem großen Ernährungstrend der vergangenen Jahre: Intervallfasten.

Die Idee des Fastens ist, dass die Zellen in diesen Recyclingmodus kommen, in dem sie nicht funktionstüchtige Proteine abbauen. Viele Menschen probieren deshalb gerade aus, wie es sich anfühlt, um sechs Uhr abends zu essen und dann erst wieder am nächsten Mittag.

Und in der Zwischenzeit haben sie sehr schlechte Laune?

Es gibt tatsächlich Studien mit Affen, die zeigen, dass diese total gestresst sind, wenn sie nicht rechtzeitig Futter bekommen. Ich frage mich immer, wie man Intervallfasten schafft, wenn man im normalen Leben schon genug zu tun hat. Fasten ist jedenfalls nicht gut, wenn man davon gestresst ist. Und es schadet definitiv in höherem Alter, denn es gibt dem Körper das Signal für den Muskelabbau.

»Ich glaube nicht, dass man fasten muss, um gesund zu leben«

Aber für junge und gesunde Menschen ist Intervallfasten förderlich für die Gesundheit?

Es gibt Menschen, die alle zwei Stunden essen und damit wenig Energie zu sich nehmen. Das ist kein Problem. Doch viele essen alle zwei Stunden etwas, was sehr energiereich ist. Das ist dann oft mehr, als sie verbrauchen. Ich glaube also nicht, dass man fasten muss, um gesund zu leben. Aber für alle Menschen, auch für jüngere, ist es eine gute Idee, ausgewogen zu essen und Sport zu treiben. Junge Menschen können ruhig mit ihrer Ernährung experimentieren und sich beobachten: Wie fühle ich mich, wenn ich zwei Wochen Intervallfasten mache? Denn die Art und Weise, wie Menschen auf eine Ernährungsumstellung reagieren, ist sehr individuell. Und wenn man es durch Intervallfasten schafft, eine zu hohe Kalorienzufuhr zu reduzieren, kann es bei jüngeren Menschen durchaus sinnvoll sein.

Viele Altersforscher befassen sich mit Substanzen, mit denen sie das Altern hinauszögern wollen. Gibt es Mittel, die Sie empfehlen?

Ich weiß, dass viele von ihnen an sich selbst experimentieren und etwa das Diabetesmedikament Metformin einnehmen, weil es ein paar Hinweise darauf gibt, dass es Alterungsprozesse verzögern könnte – aber ich mache das nicht. Wichtig ist dagegen Vitamin D, insbesondere im Alter. Es kann bei vielen schon sinnvoll sein, es als Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, gerade wenn man nicht genug Zeit im Freien verbringt, so wie es bei vielen älteren Menschen der Fall ist.

Um wie viele Jahre kann man sein Leben verlängern, wenn man gesund lebt?

Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Menschen, die gesund, und solchen, die ungesund leben, beträgt im Durchschnitt 14 Jahre. Wenn man enormen Stress im Job hat, kann auch eine gesunde Lebensweise das nicht unbedingt ausgleichen. Aber grundsätzlich kann man sein Leben mit einem gesunden Lebensstil beträchtlich verlängern. Ausgewogene Ernährung, Bewegung und genügend Schlaf sind die besten Hebel, um gesünder zu leben.

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