Arktisches Meereis: »Regimewechsel« im Polarmeer
Das arktische Meereis schrumpft – damit ist meist gemeint, dass die mit Eis bedeckte Fläche im Lauf der Zeit geringer wird. Aber tatsächlich liefern andere Werte oft aussagekräftigere Informationen darüber, wie es um das nicht mehr ganz so ewige Eis rund um den Nordpol bestellt ist. Auf der Basis zweier solcher Messwerte kommt nun ein Team um Hiroshi Sumata vom norwegischen Polarinstitut zu dem Schluss, dass die Arktis schon um etwa 2007 in einen neuen, grundsätzlich anderen Zustand übergegangen ist. Wie die Gruppe in der Fachzeitschrift »Nature« schreibt, ging der Anteil des über vier Meter dicken Alteises zu dieser Zeit um mehr als die Hälfte zurück. Das seither überwiegend junge Eis driftet schneller und verweilt deutlich kürzer in der Arktis. Entsprechend sank bei diesem Übergang auch die durchschnittliche Meereiskonzentration. Die Veröffentlichung legt nahe, dass die Veränderung dauerhaft ist, weil sie auf einem höheren Wärmegehalt des Ozeans beruht – der wiederum durch weniger Meereis weiter steigt.
Das Team um Sumata nutzt Daten aus direkten Eisbeobachtungen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen. Etwa 90 Prozent des Meereises, das aus der Arktis herausdriftet, durchquert diese Meeresstraße. Deswegen geben Messungen hier Auskunft über den Zustand des Eises im gesamten arktischen Ozean. Anhand solcher Beobachtungen identifizieren die Fachleute zwei unterschiedliche Zeiträume. In der Phase vor 2007 gab es neben dem dünnen, in der Framstraße selbst entstandenen Eis eine große Spannweite an Eisdicken von bis zu sieben Metern und mehr. Solches Eis ist über Jahre immer wieder zusammengeschoben worden und hat sich zu gewaltigen Pressrücken aufgetürmt. Die Arbeitsgruppe nennt diese Phase das Regime des dicken, deformierten Eises.
Seit 2007 allerdings hat sich das Eis in der Framstraße verändert. Es gibt deutlich weniger große Pressrücken aus verformten Eismassen, die sich meterhoch auftürmen. Das meiste Eis ist unverformt und zwischen einem und zweieinhalb Meter dick. Entsprechend wird dieser neue Zustand in der Veröffentlichung Regime des jungen, einheitlichen Eises genannt. Die von dem Team präsentierten Daten deuten auf einen relativ abrupten Übergang von dem einen zum anderen Regime hin – etwa zwischen 2005 und 2007. Dieser sei aber durch mehrere seit dem späten 20. Jahrhundert zunehmende Effekte quasi vorbereitet worden, schreibt die Arbeitsgruppe.
Teufelskreis des Eisverlustes
Zu diesen Faktoren zählen demnach die stark gestiegenen Lufttemperaturen in der Arktis, die das Eis dünner und dunkler machen. Gleichzeitig ließen eisfreie, dunkle Wasserflächen den Ozean mehr Sonnenlicht absorbieren, und auch zuströmendes Wasser aus dem Atlantik trug zusätzliche Wärme heran. Beides ließ das Meereis bis 2006 allmählich schrumpfen – bis 2007 seine Fläche ein dramatisches Rekordminimum erreichte. Die großen Wasserflächen absorbierten besonders viel Sonnenlicht, die so aufgenommene Wärme ließ weniger neues Eis entstehen, so dass mehr Wasser im Sommer eisfrei ist – ein Teufelskreis, den man Eis-Albedo-Rückkopplung nennt.
Der Effekt stabilisiert den neuen Zustand und macht die Rückkehr zum Regime des dicken, deformierten Eises unwahrscheinlich. Auf dem warmen Ozean bildet sich Eis schlechter und es schmilzt schneller. Die geringere Eisbedeckung lässt das Eis zudem rascher driften. Wegen der beschleunigten Drift geht dickes Eis schneller durch die Framstraße verloren. Daran würden wohl auch mehrere sehr kalte Jahre nichts Grundsätzliches ändern, weil die oberen Wasserschichten inzwischen enorm viel Wärme speichern.
Die Arbeitsgruppe um Sumata weist darauf hin, dass der Unterschied zwischen den verschiedenen Regimen ganz erhebliche Konsequenzen für die arktischen Ökosysteme und den Menschen hat. Dickes Eis sei ein völlig anderer Lebensraum als dünnes, sowohl über als auch unter Wasser. Dickes Eis trage zum Beispiel viel mehr Biomasse und habe größere Auswirkungen auf Durchmischung und Nährstoffversorgung des Meerwassers. Außerdem sei die Arktis nun leichter zugänglich für Schiffe. Die gesamten Auswirkungen der Veränderungen müssten aber noch erforscht werden, schreibt das Team.
In der Studie vermeidet die Gruppe den Begriff »Kipppunkt«, womöglich weil der für dramatischere Veränderungen reserviert ist; die Forschenden schreiben vom »verschobenen Regime« in der Arktis – ein weiter gefasster Begriff. Aber ihre Daten könnten darauf hindeuten, dass das Meereis in den Jahren 2005 bis 2007 eine Art »Point of no return« zwischen zwei verschiedenen stabilen Zuständen überschritten hat. Sollten sich die Befunde und Annahmen bestätigen, bietet der Übergang einen bemerkenswerten Testfall, an dem man den Ablauf und mögliche Warnzeichen solcher kritischer Übergänge im Klimasystem im Detail erforschen kann.
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