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Ökosysteme: Auf den Kopf stellen

Dorschkrise, Pipelinekontroverse, Sauerstoffkollaps, Weltkriegsmunitionskalamitäten - die Ostsee steht ökologisch schwer unter Beschuss und gehört vielleicht zu Europas schwierigsten wie größten Umweltproblemen. Um das kleine Nebenmeer überleben zu lassen, muss dies wohl von mindestens zwei Seiten angegangen werden.
Dorsch
Der Streit eskalierte letztes Jahr: Naturschützer, Fischereiexperten und die Europäische Union warnten die polnische Regierung im September 2007 eindringlich, sich endlich dem Schutz des Dorsches anzunehmen. Doch trotz eines geltenden Verbots der EU liefen Boote aus den Häfen von Darlowo und Gdyina aus, um den Brotfisch der Ostsee-Fischer zu fangen – allen geltenden Quoten und Bestimmungen zum Trotz. Polen hatte bereits zuvor die vereinbarten Fangmengen deutlich überschritten, obwohl der Dorsch als gefährdet gilt. Sein Bestand schrumpfte schließlich während der letzten Jahrzehnte auf nur noch ein Drittel der ursprünglichen Größe, und die gefangenen Fische werden immer kleiner und jünger, so dass die Fischer bereits die Kernsubstanz der Art angreifen und die zwingend nötige Erholung der Bestände immer stärker riskieren und erschweren.

Sauerstoffarm und munitionsbelastet

Die Dorsch-Krise ist allerdings nur ein Punkt auf einer langen Liste mit Umweltproblemen, die das kleine Randmeer im Herzen Nordosteuropas plagen. Schon ihre besondere hydrologische Lage belastet die Ostsee: Nur wenige schmale Passagen zwischen Dänemark und Schweden lassen einen Frischwasseraustausch mit der Nordsee und damit dem Atlantik zu. Gleichzeitig ist ihr Becken vergleichsweise flach, und das Wasser erwärmt sich rasch. Der Salz- und Sauerstoffgehalt sinkt daher in regelmäßigen Abständen stark ab und wird erst beim Auftreten starker Stürme durch Zustrom aus der Nordsee wieder aufgefrischt.

Algenblüte in der Ostsee | Algenblüte in der Ostsee im Sommer 2003: In den grünlichen Bereichen im südlichen Teil des Nebenmeers explodierte die Konzentration des Planktons im Wasser, sodass es selbst aus dem Weltall erkennbar war. Ursache dieser Blüten sind die Überdüngung des Wassers sowie der Verlust wichtiger Raubfische.
Flüsse aus Polen, Russland, Deutschland oder Skandinavien tragen Tausende von Tonnen an Düngemittel ein, dazu kommen immense Mengen an Stickoxiden aus Verkehr, Industrie und Landwirtschaft, die über die Luft ins Meer gelangen. Jährlich schwemmt es so eine knappe Million Tonnen Stickstoff und Phosphor in die Ostsee – fette Nahrung für ausufernde Algenblüten, die immer wieder Teile des Meeres ersticken lassen: Rund 20 000 Quadratkilometer gelten heute als biologisch tot. Dazu kommen Klimawandel, dichter Schiffsverkehr, Pipeline-Projekte oder versenkte Weltkriegsmunition, die alle die Zukunft des Ökosystems in Frage stellen.

Einigermaßen erfolgreich war der Umweltschutz bislang nur bei der Einleitung von Schadstoffen in das Wasser. Der Bau von Kläranlagen beispielsweise verringerte die Zufuhr von Schwermetallen oder Phosphaten – der zeitweilige Zusammenbruch der osteuropäischen Schwerindustrie tat ein Übriges. Überdüngt wird die Ostsee jedoch weiterhin, und so bestehen die damit verbundenen Probleme fort. Viele internationale Vertragswerke konzentrieren sich daher vor allem darauf, die Überdüngung einzudämmen.

Ohne Fisch keine Rettung

Doch dieser einseitige Ansatz greift zu kurz und wird die Ostsee nicht retten, meinen nun Michele Casini vom Institut für Meeresforschung im schwedischen Lysekil und seine Kollegen. Die Biologen haben mit Hilfe von Fischerei- und ökologischen Daten aus mehr als drei Jahrzehnten die Nahrungsnetze des Mare Balticums und ihrer wechselseitigen Einflüsse untersucht – nach eigenen Angaben erstmals über vier Ebenen hinweg. Während dieser Zeit bildeten Dorsch (Gadus morhua) und Mensch die wichtigsten Räuber mit entsprechender Wirkung auf Pflanzen fressende Fische und das Plankton.

Dorsch | Der Dorsch ist der Brotfisch der Ostsee-Fischer und gleichzeitig einer der wichtigsten Regulatoren des Ökosystems.
Noch zu Beginn der 1980er Jahre befand sich dieses System aus Fressen und Gefressenwerden einigermaßen im Gleichgewicht, obwohl weitere wichtige Top-Prädatoren wie Delfine oder Robben nach jahrzehntelanger Verfolgung nur noch Nebenrollen inne hatten. Ihren Anteil schöpften die Fischer allerdings problemlos ab und hielten so das Ökosystem in der Balance – bis sie den Dorsch übernutzten. Zugleich füllten weniger Jungtiere die Population auf, da verringerte Salz- und Sauerstoffgehalte erfolgreiche Nachzuchten in weiten Gebieten vereitelten. Innerhalb eines Jahrzehnts kollabierte der Bestand des begehrten Fischs, und er zeigt bis heute keinerlei Anzeichen, sich zu erholen.

Profitiert hat davon die Sprotte (Clupea sprattus) – ein Mitglied der Heringsfamilie und bevorzugte Dorsch-Nahrung: In nur fünf Jahren erreichte sie ein Bestandshoch, das bis heute mit einigen Schwankungen anhält. Bevorzugt delektiert sich die Sprotte am Zooplankton, das dadurch effektiv reduziert wird und in entsprechend geringerer Konzentration durch das Ostseewasser schwappt. Nutznießer dieses Ausfalls ist schließlich das Phytoplankton, das ansonsten von den winzigen Krebschen und Larven des Zooplanktons gefressen wird: Es kann sich ohne Widerpart massenhaft vermehren und die gefürchteten Algenblüten auslösen.

Zucht als letzte Hilfe?

Der Verlust des Dorschs ist deshalb eine der Hauptursachen für die Malaise der Ostsee: Die hohe Nährstoffzufuhr vom Land liefert zwar die Grundlage für das Algenwachstum, aber erst durch den Eingriff in die Nahrungskette konnte sich dieses voll entfalten. Dafür spricht auch, dass seit den 1990er Jahren die Düngermengen im Wasser nicht mehr weiter gestiegen sind. Dennoch häuften sich die Algenblüten.

All dies spricht nach Meinung von Casinis Mannschaft dafür, dass das Ostsee-Ökosystem stark von oben nach unten kontrolliert wird – also vom Dorsch zur Alge – und nicht umgekehrt, wie dies bislang vielfach angenommen wurde. Gerade in einem artenarmen Naturraum, in dem kaum andere Spezies einspringen können, wenn eine Schlüsselart ausfällt, kommt dem Schutz von Spitzen-Beutegreifern eine wichtige Rolle zu, so Casini. Der Schutz des kleinen Meers darf also nicht nur an der Basis ansetzen und nur einen Düngerstopp erreichen, sondern muss auch endlich einen konsequenten Fangstopp für den Dorsch durchsetzen.

Das dürfte aber wohl nicht nur am aktiven Widerstand der Polen scheitern. Auch andere Anrainerstaaten mit starker Fischerei äußern laut ihren Unmut – Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise, das seine Fischer durch die jetzigen Quoten schon benachteiligt sieht. Till Backhaus, der Landwirtschafts- und Fischereiminister des Landes, setzt daher auf Tierzucht: Mit einer Dorscherbrütungsanlage – so der etwas sperrige Fachbegriff –, sollen zukünftig bis zu vier Millionen Jungfische pro Jahr für die Mecklenburger Bucht produziert werden. Ab 2015 könnte man dann sehen, ob Mensch und Natur tatsächlich davon profitieren.
  • Quellen
Casini, M. et al.: Multi-level trophic cascades in a heavily exploited open marine ecosystem. In. Proceedings of the Royal Society B, 10.1098/rspb.2007.1752, 2008.

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