Direkt zum Inhalt

Evolution des Menschen: Australopithecus sediba gibt Rätsel auf

Schädel von <i>Australopithecus sediba</i>
Vergangenes Jahr meldete der südafrikanische Paläoanthropologe Lee Berger den Fund zweier außerordentlich gut erhaltener Skelette – laut erster Inspektion handelte es sich um Vertreter einer bislang unbekannten Australopithecinen-Art. Mit insgesamt fünf gleichzeitig veröffentlichten Studien liefern Berger und Mitarbeiter nun die erste umfassende Beschreibung der nach dem Sesotho-Wort für "Quelle" oder "Ursprung" getauften Art: des Australopithecus sediba.

Australopithecus sediba | Der Schädel "U.W. 88-50 (MH 1)" – Kernstück des Holotyp-Skeletts, das zur Definition der neuen Art Australopithecus sediba dient
An den Skeletten – es handelt sich um die Überreste einer Frau und den Kopf eines rund 13-jährigen Kindes – erkennt das Team um den Forscher von der University of the Witwatersrand in Johannesburg einen Mix archaischer und moderner Merkmale. Ihrer Meinung nach stellt die Art daher einen idealen Kandidaten für das Bindeglied zwischen späten Australopithecinen und der frühen Homo-Linie dar. Andere Forscher zweifeln jedoch an der Einordnung von A. sediba als direktem Menschenvorfahr.

Entdeckt wurden die beiden Individuen im Gebiet der fossilienreichen "Wiege der Menschheit" in der südafrikanischen Malapa-Höhle. Laut neuer Datierung sind sie 1,97 Millionen Jahre alt. Damit stammen sie aus einer Zeit einige hunderttausend Jahre vor dem Auftauchen des ersten unumstrittenen Angehörigen der Gattung Homo, dem Homo erectus. Zeitgleich existierten jedoch im östlichen Afrika schon andere Hominidenarten, deren Zugehörigkeit zur Homo-Linie allerdings nicht gänzlich unumstritten ist.

Die Hand von A. sediba | Im Vergleich zur menschlichen Hand wirkt sie noch sehr winzig – aber passend zu einer geschätzten Körpergröße von einem Meter dreißig. Aus Form und Länge des Daumens schließen Forscher, dass A. sediba womöglich geschickt Steinwerkzeuge handhabte.
Zu den nun genau beschriebenen, modernen Merkmalen der beiden Individuen "MH1" und "MH2" zählen das Becken, der Fuß, die Hand und das Gehirn, das Forscher anhand des Schädels rekonstruierten. Beim Becken würden sich bereits deutliche Anpassungen an den aufrechten Gang festmachen lassen – noch deutlichere als bei direkten Verwandten wie der berühmten "Lucy", einem A. afarensis.

Besonders merkwürdig ist das Merkmalsmosaik, das die Wissenschaftler im Bereich des Fußgelenks beobachteten: Das Sprunggelenk ist verglichen mit der noch sehr affenartigen Ferse so modern, dass sie von unterschiedlichen Arten zu stammen scheinen. Dem Australopithecus dürfte diese Kombination einen eigenartigen Gang verliehen haben.

Die langen Arme und kräftigen Finger kennzeichnen A. sediba einerseits als noch sehr ans Klettern angepassten Zweibeiner. Andererseits könnte der im Verhältnis zu den restlichen Fingern überlange Daumen bereits eine Entwicklung hin zum "Pinzettengriff" darstellen. Dieser Fähigkeit, den Daumen allen anderen Fingern gegenüberzustellen, verdankt der Mensch seine handwerkliche Geschicklichkeit. Seine Daumen könnten auch A. sediba erlaubt haben, erste Steinwerkzeuge herzustellen, mutmaßen die Wissenschaftler.

Dem widerspricht William Jungers von der Stony Brook University in New York im Magazin "Science", der die Handfossilien ebenfalls studieren konnte, aber nicht an der aktuellen Veröffentlichung beteiligt war. Er sehe keine Anzeichen für Werkzeuggebrauch: "Es ist eine Australopithecus-Hand in allen relevanten Aspekten."

Virtueller Schädelausguss von MH1 | Mit Hilfe von Synchrotronstrahlung durchleuchteten die Wissenschaftler den noch immer teilweise in Stein verhafteten Schädel des jungen Australopithecus. Nie zuvor wurde das Innere eines Vormenschen-Schädels so detailliert dargestellt.
Am widersprüchlichsten aber ist das Bild, das sich aus der Analyse des Gehirns ergibt. Berger, Kollege Kristian Carlson, ebenfalls von der Witwatersrand-Universität, und weitere Wissenschaftler haben für die aktuelle Veröffentlichung einen hochpräzisen virtuellen Schädelausguss angefertigt. Dazu scannten sie die Schädelinnenseite des Australopithecus-Jungen und erhielten so ein dreidimensionales Modell. Es handelt sich um das bislang genaueste eines Vormenschen.

Vielfach erhalten sich in der knöchernen Substanz der Schädelkalotte Abdrücke des darunter liegenden Gehirns – so auch bei A. sediba. Insgesamt sei das Gehirn von A. sediba sehr Australopithecus-typisch, so die Forscher. Vor allem im Bereich des Frontalhirns wollen sie jedoch tendenzielle Anzeichen für eine Weiterentwicklung ausgemacht haben. Genau dieser Hirnregion verdankt der moderne Mensch seine herausragenden kognitiven Leistungen.

In ihrer Studie fassen die Forscher zusammen: Der Ausguss offenbare "einige Hinweise auf Veränderungen in der orbitofrontalen Region, die über das hinausgehen, was bei anderen Australopithecinen mit vergleichbar gut erhaltenem Schädel beobachtbar ist. Er deutet daher möglicherweise bereits einige Elemente eines in der Entwicklung von Australopithecus zu Homo befindlichen, menschenähnlichen Frontallappen an."

Fachkollegen sind jedoch skeptisch. "Ich bin nicht überzeugt, dass das Gehirn von MH1 weiter entwickelt ist", sagt die Paläoanthropologin Dean Falk von der Florida State University in Tallahassee, die ebenfalls an Schädelausgüssen dieser Zeit forscht. Weitere Vergleiche mit anderen Fossilien seien notwendig, um die Position A. sedibas genauer festzulegen.

Stärkstes Argument gegen eine unmittelbare Verwandtschaft von A. sediba und Mensch ist jedoch dessen kleines Hirn: Mit einem Volumen von 420 Kubikzentimetern ist es merklich kleiner als das anderer Australopithecinen (rund 460 bis 480 Kubikzentimeter) – und erheblich zu klein im Vergleich zu späteren, ebenfalls noch primitiven Angehörigen der Homo-Linie wie dem Homo habilis. Ihm zugeschriebene Schädel fassen ein Denkorgan von über 600 Kubikzentimetern. Die Forscher um Berger stellen daher die Theorie in Frage, dass die Entwicklung zum Menschen zwangsläufig mit einer stetigen Zunahme der Gehirngröße einherging.

Der exzellente Erhaltungszustand ihrer beiden Skelette – es sind bislang 40 bis 60 Prozent der jeweiligen Körper gefunden worden – macht MH1 und MH2 zu einem der außergewöhnlichsten Fossilienfunde der letzten Jahre. Ob er tatsächlich mit dem modernen Menschen über eine direkte Linie verbunden ist, werden aber wohl erst weitere Skelette zeigen, die die klaffenden Fehlstellen an dieser entscheidenden Stelle der Menschwerdung füllen. (jd)
  • Quellen
Science 333, S. 1421, 2011
Science 333, S. 1402, 2011
Science 333, S. 1407, 2011
Science 333, S. 1411, 2011
Science 333, S. 1417, 2011
Zur Artikelsammlung auf "Science"

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.