Verhaltensforschung: Brüder im Geiste?
In den letzten Jahren haben zahlreiche Verhaltensstudien die Grenze zwischen tierischen und menschlichen Fähigkeiten verwischt. Vor allem Menschenaffen werden komplexe geistige Fähigkeiten und sogar eine Kultur zugeschrieben. Andererseits unterscheiden sich unsere neuronalen Strukturen selbst von den äffischen stark. Gibt es ein Missverhältnis zwischen Geist und Gehirn?
Für Charles Darwin blieb der Mensch ein big-brained ape, ein Affe mit großem Hirn – aber eben ein Affe. Bis hinein in die 1980er Jahre stimmten dieser These auch Neurowissenschaftler zu, die das Säugetiergehirn grundsätzlich als einheitlich betrachteten. Doch mit dem Einzug neuartiger histologischer und mikroskopischer Untersuchungsmethoden sollte sich das Bild ändern: Die Hirnforscher spürten immer mehr Unterschiede zwischen menschlichem und äffischem Denkapparat auf.
So erscheinen beim Menschen die Neuronen im Kortex anders strukturiert und komplexer vernetzt. Vor allem fiel den Hirnforschern auf, dass sich die Gehirne von Homo sapiens und den Affen gerade in denjenigen Regionen unterscheiden, die für soziales Lernen und Sprache zuständig sind. Zudem wird ausschließlich der Mensch von einer Vielzahl neurodegenerativer Erkrankungen geplagt wie Autismus, Alzheimer-Demenz und Schizophrenie – ein weiteres Indiz für die Einmaligkeit unserer grauen Zellen.
Ist der Mensch einzigartig?
Auf der anderen Seite hat die tierische Verhaltensforschung in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Bastionen ehemals rein menschlicher Eigenschaften gestürmt – etwa Werkzeuggebrauch, Sprache oder das Hineinversetzen in das Gegenüber – und scheint damit Darwins Ansicht zur Kognition Recht zu geben: "Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und höherem Säugetier bezüglich der geistigen Fähigkeiten."
Demnach unterscheiden sich Mensch und Tier zwar gerade in den für die Kognition wichtigen Hirnregionen; andererseits scheinen die geistigen Fähigkeiten einiger Tiere – zumindest elementar – auf derselben Ebene wie beim Menschen zu liegen. Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Diese Frage stellte sich der Psychologe David Premack von der Universität von Pennsylvania in Philadelphia und sichtete dafür die vorhandene Literatur aus der Verhaltensforschung zu den geistigen Leistungen im Tierreich.
Gleich und gleichzeitig ganz anders
Premack findet keinen Widerspruch zwischen Gehirn und Geist. Vielmehr sei in der Literatur Ähnliches zu schnell als Gleiches bezeichnet worden. Es müsse hier fein abgestuft wie behutsam formuliert und dürften neben grundlegenden Gemeinsamkeiten nicht grundlegende Unterschiede vernachlässigt werden, so der Psychologe. Tierisches Verhalten, betont der Wissenschaftler, richtet sich hauptsächlich auf ein bestimmtes Ziel, während sich das menschliche als unvergleichlich komplexer und abstrakter zeigt.
Beispielsweise lernen Tiere hauptsächlich aus einem einzigen Grund: zum Fressen. So liefern Katzen oder Erdmännchen ihrem Nachwuchs halbtote Beute, an der die Kleinen die Jagd üben, variieren dieses Verhalten aber nicht individuell je nach Fähigkeit der Jungen. Im Gegensatz dazu erscheinen beim Menschen die Lerninhalte unbegrenzt und können graduell an den Schüler angepasst werden. Beides fassen Verhaltensforscher unter dem Begriff Lernen zusammen, meinen aber im Grunde unvergleichbare Phänomene.
Apfel ja, Feuer nein
Auch bei der viel gelobten Fähigkeit von Schimpansen, einfache Kausalzusammenhänge zu erfassen, lohne sich ein genaueres Hinsehen, so Premack: Sehen die Tiere auf einer Tafel zum Beispiel das Bild eines ganzen Apfels und eines Messers, ergänzen sie die Reihe um das Bild eines geschnittenen Apfelstückes. Doch der Forscher betont, dass auch dieses Verhalten auf einfachste Abfolgen beschränkt bleibt. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass ein Tier abstraktere Zusammenhänge wie das Gefrieren von Wasser bei Kälte oder das Entfachen eines Feuers durch einen Funken auch nur annähernd begreift.
Und wie sieht es beim Hineinversetzen ins Gegenüber auch? Auch hier spielt der Mensch nach Meinung des Psychologen in einer anderen Liga. Schimpansen können zwar die Wahrnehmung eines Menschen in einer gegebenen Situation nachvollziehen, zum Beispiel wenn sie entscheiden müssen, welcher Versuchsleiter gesehen hat, wo sich eine Leckerei verbirgt. Aber wieder beschränkt sich diese Fähigkeit auf die einfachsten Grundlagen. Der Mensch durchschaut hingegen komplexe soziale Netze wie: Peter denkt, dass Paul denkt, dass Paula glaubt, dass Peter seine Kinder in die Sonntagsschule bringen sollte.
Vielleicht lässt sich die Quintessenz von Premack doch mit den Worten Darwins zusammenfassen, nur leicht abgewandelt. Tiere besitzen viele geistige Fähigkeiten in einfacher, teils schablonenhafter Weise, demnach ist der Mensch ein big-brained ape – aber eben auch Mensch.
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