Kinderbestattungen in Chichén Itzá: Mit dem Zwilling in den Opfertod
Eine »Riesenüberraschung« sei es gewesen, als die Ergebnisse der DNA-Untersuchung aus dem Labor eintrudelten. Etwas, mit dem niemand gerechnet habe, erzählt Kathrin Nägele, Forscherin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig.
Nägele und Team hatten für Erbgutanalysen ein Massengrab in Mexikos wohl berühmtester, von Touristen geradezu überlaufenen Ruinenstadt Chichén Itzá ausgewählt. Darin: die Überreste von etwa 100 jungen Menschen, die vor rund 1200 Jahren bestattet wurden. Von 64 dieser Skelette konnten die Forscher kleine Ohrknöchelchen sichern sowie die DNA, die sich in den Knochen erhalten hat.
Was Nägele und ihre Kollegen verblüffte, war das subtile Muster, das die Toten miteinander zu verbinden scheint. Dieses konnte ihnen allein bei einer Erbgutuntersuchung auffallen, denn es zeigt sich heute nur noch in den Genen: Alle dort Bestatteten waren Jungen, und bei jedem vierten fanden die Fachleute einen nahen Verwandten in der Grablege – vielleicht einen Bruder. Vier der Knaben waren sogar mit ihrem eineiigen Zwillingsbruder bestattet worden.
So berichten es Nägele, ihr Max-Planck-Kollege Rodrigo Barquera, die Archäologin Oana Del Castillo-Chávez vom mexikanischen Nationalinstitut für Anthropologie und Geschichte INAH auf der Yukatan-Halbinsel und weitere 17 Fachleute in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins »Nature«.
Normalerweise würde man stutzig werden, wenn zwei DNA-Proben das gleiche Ergebnis erbringen, sagt Nägele. Meist habe man es dann nämlich nicht mit eineiigen Zwillingen zu tun, sondern mit zwei Proben, die versehentlich vom selben Menschen genommen wurden. In diesem Fall könne man jedoch eine Verwechslung ausschließen. Schließlich habe niemand zweimal dasselbe linke Ohrknöchelchen, und nur von diesem entnahmen die Ausgräber jeweils ihre winzigen Probenmengen.
Wahl von Zwillingen laut Fachleuten kein Zufall
Eineiige Zwillinge machen gerade einmal 0,4 Prozent der Bevölkerung aus. Die Chance, dass rein zufällig zwei solcher Paare unter ihre 64 Proben rutschten, ist darum verschwindend gering. Für die Fachleute ist es ein Ergebnis, das dringend nach einer Erklärung verlangt. Wählten die Maya mit Absicht Brüderpaare für diese Grabstätte aus? Und wenn ja, warum?
Ein Hinweis könnte im Buch Popol Vuh zu finden sein, einer Art heiligen Schrift der Quiché-Maya und auch wenn es auf verschlungenen Wegen überliefert wurde, eines der wenigen einigermaßen authentischen Dokumente von Mythen und Legenden der Maya-Kultur. Maya-Priester hatten es aus ihrer eigenen Schrift in die lateinische übertragen; anschließend übersetzte es im Jahr 1702 ein Dominikaner ins Spanische.
Das Popol Vuh beginnt mit dem mythischen Ursprung dieses Volkes und der herausragenden Rolle, die ein Zwillingspaar dabei spielte – im wahrsten Sinn des Wortes. Denn um die Götter in der Unterwelt zu besiegen, mussten die beiden Zwillinge Hunahpú und Ixbalanqué diese im Ballspiel bezwingen. Was ihnen dank einiger Tricks schließlich auch gelang. Sie taten dies, um ihren Vater und ihren Onkel zu rächen, die beiden ebenfalls Zwillingsbrüder. Sie hatten jedoch ihr Spiel gegen die Götter verloren und waren daraufhin getötet worden. Den siegreichen Hunahpú und Ixbalanqué hingegen war als »Heldenbrüdern« die Verehrung der Maya sicher. Man konnte sie fortan Tag und Nacht beobachten, berichtet das Popol Vuh: Nach ihrem Sieg hatten sie sich in Sonne und Mond verwandelt.
Noch weitere Verwandte unter den übrigen Bestatteten?
Für das Autorenteam hinter dem »Nature«-Paper sind die Parallelen dieser Maya-Legende mit den Ergebnissen ihrer eigenen Studie kaum zu übersehen. Vor allem weil es theoretisch noch mehr, nämlich zweieiige Zwillingspärchen in dem Grab geben könnte, als heute eindeutig nachweisbar sind. Denn ob zwei Brüder bei derselben Geburt auf die Welt kamen oder nicht, lässt sich allein am Erbgut nicht ablesen. Und die Altersdatierung ist bei Weitem nicht präzise genug, um nach so langer Zeit das genaue Geburtsjahr eines Menschen zu bestimmen. Für eine gemeinsame Kindheit spricht, dass die Bestatteten unter ähnlichen Bedingungen aufwuchsen wie ihr jeweils nah verwandter Gegenpart. Das verraten Isotopenanalysen, die die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung vorstellen. Atomare Marker in den Knochen geben hier Aufschluss über Herkunft und Ernährung einer Person.
Für drei Viertel der untersuchten Jungen fanden sich allerdings keine nahen Verwandten in der Stichprobe. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das mutmaßliche Muster der Bruderbestattung vielleicht doch nicht so ausgeprägt ist, wie es zunächst schien. Es könnte aber auch schlicht daran liegen, dass die Gruppe nur von gut der Hälfte der dort Bestatteten eine DNA-Probe nehmen konnte. »Fehlende« nahe Verwandte könnten sich unter den nicht analysierten Skeletten finden.
Noch ein weiterer Befund ist sehr auffällig: Die bestatteten Knaben waren in einem Alter gestorben, in dem die Sterblichkeit eigentlich recht gering ist. Es drängt sich förmlich der Gedanke an einen unnatürlichen Tod auf. In ihrer Monumentalkunst machten die Maya überdeutlich, wie wichtig rituelle Menschenopfer für sie waren. Die Bewohner Chichén Itzás bildeten keine Ausnahme, wie Skelette zeigen, an denen die Spuren einer rituellen Tötung noch erkennbar sind.
»Der Tod vieler der von uns untersuchten Knaben fällt in die Zeit zwischen 800 und 1000 unserer Zeitrechnung«, erklärt Kathrin Nägele. »In dieser Zeit aber zeigen die Paläoklimaanalysen starke Dürren an.« Dahinter könnten durchaus Veränderungen des Klimas stecken, die der Region weniger Regen und damit geringere Wasservorräte brachten. »Den Maya ging es in dieser Zeit wahrscheinlich schlechter als vorher«, vermutet die EVA-Forscherin. Versuchten die Maya, mit häufigeren Menschenopfern die Götter gnädig zu stimmen? Die beiden vergöttlichten Heldenbrüder waren womöglich gute Adressaten für solche Bitten – sofern der Schöpfungsmythos auch bei den Maya von Chichén Itzá verbreitet war.
Göttlicher Beistand: Chichén Itzá florierte
Vielleicht bezeugten die Maya mit den Opferungen aber auch ihren Dank, denn irgendetwas scheinen die Bewohnerinnen und Bewohner von Chichén Itzá richtig gemacht zu haben: Während in vielen Maya-Städten die Gesellschaften zusammenbrachen, florierte diese Stadt. Nach 900 entstand mit der Pyramide des Kukulcán ein Tempel, dessen beeindruckende Überreste noch heute die Besucher in Scharen anlocken.
Bald wurde auch eine Straße gepflastert, die als Prozessionsweg zum nur wenige hundert Meter entfernten »Heiligen Cenote« führte. Solche offenen, mit Süßwasser gefüllten Karstlöcher im Kalkgestein der Yukatan-Halbinsel sicherten auch in Trockenzeiten die Trinkwasserversorgung. Im Cenote im Herzen von Chichén Itzá wurden jedoch die Überreste von mehr als 200 Menschen gefunden, von denen etliche deutliche Spuren für eine absichtliche Tötung und daher für Menschenopfer aufwiesen. Unter den dort Bestatteten waren sehr viele Kinder. Lange nahm man an, dass dort wohl vor allem Mädchen und junge Frauen geopfert wurden. »Allerdings kann man anhand der Knochen das Geschlecht von Kindern kaum beurteilen«, erklärt Kathrin Nägele. Auch hier könnte also eine Überraschung lauern, wie sie nun das Team der aktuellen Veröffentlichung erlebte.
Das Massengrab der Knaben lag ebenfalls in der Nähe einer Einrichtung zur Wasserversorgung, einer so genannten Chultún, einer Zisterne, die in einer Karsthöhle angelegt worden war. Die insgesamt mehr als 100 Kinder, die über insgesamt 500 Jahre, vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, ihre letzte Ruhe in einer Seitenhöhle fanden, wurden bereits in den 1960er Jahren entdeckt. Wie Cenote waren Chultúne für die Maya wichtige Verbindungsstellen in die Unterwelt. Ein Bezug zur Kultur liegt also nahe.
Von den »Heldenzwillingen« erzählte man sich anderswo
»Trotzdem sehe ich den Zusammenhang mit den Heldenzwillingen nicht als gesichert an«, meint Daniel Grana-Behrens. Der Sozial- und Kulturanthropologe forscht an der Universität Bonn über die Geschichte Mesoamerikas und damit auch über Maya-Historie. An der »Nature«-Studie war er jedoch nicht beteiligt. Das Buch Popol Vuh stamme von den Quiché-Maya, und die lebten mehr als 1300 Kilometer von den Flachländern aus Chichén Itzá entfernt im Hochland. Außerdem sei es erst einige Jahrhunderte, nachdem die Jungen in das Massengrab gelangt waren, geschrieben worden.
Darüber hinaus nahmen die Konquistadoren massiven Einfluss auf die von den Maya überlieferten Texte: »Die Kolonialherren hatten ja die Hieroglyphenschrift der Maya verboten und fast alle schriftlichen Hinterlassenschaften zerstört.« Zwar nahmen die Maya schnell das Alphabet an und hielten manches von ihrem Wissen damit weiterhin fest. »In dieser Zeit gingen aber sicher viele Geschichten der Maya verloren.« Manche davon mögen besser zu den Analysen der »Nature«-Studie gepasst haben als der Verweis auf das Popol Vuh.
Obendrein gibt es bei den Knabenfunden im Chultún von Chichén Itzá keine direkten Hinweise auf einen gewaltsamen Tod oder gar eine Opferung. Und umgekehrt gibt es von den Relikten mit deutlichen Hinweisen auf eine Opferung bisher noch keine genetischen Analysen. Genau diese aber wünschen sich sowohl Daniel Grana-Behrens als auch Kathrin Nägele.
Bevölkerungsgeschichte in den Genen
Kein Wunder: Je mehr solcher alten Erbgutdaten vorliegen, desto vollständiger wird das Bild der mittelamerikanischen Kultur. »Ursprünglich wollten wir mit dieser Untersuchung vor allem etwas über die Populationsdynamik der Maya erfahren«, sagt Nägele. Dazu habe ihre Gruppe eng und vertrauensvoll mit der lokalen Bevölkerung zusammengearbeitet. Die Menschen vor Ort ließen sich Blut abnehmen, aus dem das Team ebenfalls Erbgut isolierte. »Demnach sind die heute in der Region lebenden Menschen tatsächlich die Nachfahren der alten Maya«, sagt die Max-Planck-Forscherin.
Ein »wichtiges Ergebnis«, findet Grana-Behrens. In Europa ist das häufig anders: »Die großen Wanderungsbewegungen, die wir aus der Geschichte Europas kennen, gab es zumindest in der Umgebung von Chichén Itzá anscheinend nicht.«
Und noch weitere aufschlussreiche Spuren der Geschichte fand der Immungenetiker und Erstautor der Studie Rodrigo Barquera in den Gendaten: Von den vielen Infektionswellen, die im Verbund mit Kriegen und Hungersnöten die lokale Population auf wenige Prozent ihrer einstigen Größe dezimierten, war laut den Chroniken der spanischen Konquistadoren die Cocoliztli-Epidemie von 1545 die schlimmste. Sie wurde wahrscheinlich durch den Erreger Salmonella enterica Paratyphi C verursacht. Infizierte bluten extrem stark aus Mund und Nase – und erliegen der Krankheit in vielen Fällen. Der Vergleich zur DNA der Knaben von Chichén Itzá zeigt, dass die heutige Lokalbevölkerung Gene trägt, die sie vor diesem Erreger wappnen. Es sind vermutlich die Narben der Epidemie von 1545. Wer seinen Nachfahren die schützenden Mutationen nicht weitergab, dessen Linie starb früher oder später aus.
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