Körperwahrnehmung: Das richtige Gewicht
Sobald das Wetter besser und die Kleidungsschichten dünner werden, werfen sich viele Menschen zunehmend kritische Blicke im Spiegel zu. Sah die Taille nicht schon mal schmaler aus, waren die Oberarme nicht schon mal straffer? Und wenn dann noch die Waage nicht die gewünschte Zahl anzeigt, denkt so mancher womöglich über eine Diät nach, um die zusätzlichen Pfunde, die sich über den Winter angesammelt haben, wieder loszuwerden. Schließlich kann man nicht früh genug damit anfangen, an der Bikinifigur zu arbeiten – oder an der perfekten Silhouette in der Badehose!
Das Streben nach dem Idealgewicht und einer schlanken Figur ist in unserer Gesellschaft fest verankert. Das ist vor allem bei Frauen der Fall, doch auch Männer sind nicht immun. Schönheitsideale brennen sich früh ein, sagt Sven Schneider, Leiter der Abteilung Kindergesundheit am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg: »Schon vor der Pubertät, mit etwa zehn Jahren, entwickeln Kinder eine Vorstellung davon, was sie attraktiv finden, und bewerten sich selbst.«
Schneider und seine Kolleginnen und Kollegen ließen im Jahr 2013 144 Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren mit Hilfe von 3-D-Avataren ihren eigenen Körper beurteilen. Außerdem sollten die Teilnehmerinnen einschätzen, wie andere Menschen sie wahrnehmen. Das Ergebnis war deutlich: Nur acht Prozent der Mädchen zeigten sich zufrieden mit ihrer Figur, mehr als 70 Prozent wären lieber dünner gewesen. Und damit nicht genug: Die Jugendlichen glaubten, dass sie auch aus Sicht ihrer Eltern und Freundinnen abnehmen müssten.
»Eltern sollten ihren Kindern ein gutes Selbstwertgefühl vermitteln, egal wie diese aussehen«
Sven Schneider, Leiter der Abteilung Kindergesundheit am Mannheimer Institut für Public Health
Die genauen Zahlen variieren zwar je nach Studie und untersuchter Altersgruppe, doch sie alle zeichnen ein ähnliches Bild: Die meisten Menschen sind mit ihrem Körper und ihrem Gewicht nicht glücklich. Wie gut man sich selbst und sein Aussehen akzeptieren kann, hängt natürlich von verschiedenen Faktoren ab. Gerade bei Kindern und Jugendlichen spielen die Ernährung und das Verhalten der Eltern aber eine große Rolle: Wie sehr achten diese selbst auf ihr Gewicht? Ist das Essen ein ständiges Thema in der Familie? Machen die Eltern abschätzige Kommentare über das Aussehen der Kinder? Diese letzte Frage macht ein wenig stutzig. Würden Eltern so etwas überhaupt tun, den Körper ihrer Kinder bewusst abwerten? Das kommt durchaus vor, wie die Studie von Sven Schneider zeigt. Im Rahmen der Befragung gaben mehr als 30 Prozent der Mädchen an, dass sie von ihren Müttern negative Bemerkungen über ihr Gewicht und ihr Essverhalten zu hören bekommen hätten. Väter äußerten sich in immerhin rund 20 Prozent der Fälle negativ.
Dass so etwas nicht hilfreich ist, liegt eigentlich auf der Hand. »Eltern sollten ihren Kindern ein gutes Selbstwertgefühl vermitteln, egal wie diese aussehen«, sagt Schneider. Diäten zu empfehlen, sei keine Hilfe. Stattdessen sollte ausgewogenes, genussvolles Essen in der Familie zum normalen Tagesgeschehen gehören und nicht ständig Gesprächsthema sein.
»Du bist doch gar nicht dick!«
Problematisch ist auch der so genannte »fat talk«: Der eine Gesprächspartner erklärt, wie dick er sich findet. Der andere antwortet darauf, dass das doch gar nicht stimme – oft gefolgt von dem Zusatz, dass er selbst viel eher füllig sei. Ähnliche Gespräche hat vermutlich jeder schon einmal gehört oder gar geführt. Intuitiv erscheinen solche Konversationen aufbauend. Tatsächlich zeigen Studien jedoch, dass »fat talk« den Abnehmzwang sogar verstärken kann und viele Menschen sich anschließend schlechter fühlen.
Die kanadischen Wissenschaftlerinnen Amy Shannon und Jennifer Mills untersuchten deshalb in einer 2019 veröffentlichten Studie, unter welchen Bedingungen es zu »fat talk« kommt. Dazu sollten sich die Teilnehmerinnen vorstellen, sie hätten zu viel von einem leckeren Gericht gegessen und fühlten sich nun schuldig. Die Kontrollgruppe dachte hingegen über ein kürzlich gelesenes Buch nach. Dabei zeigte sich wenig überraschend: Wer an übermäßiges Essen gedacht hatte, war eher bereit für einen »fat talk« als Probanden, die sich an ein Buch erinnerten. Lediglich bei Frauen, die gerade eine Diät machten, zeigte sich dieser Unterschied nicht: Anscheinend lag bei ihnen der Fokus ohnehin so stark auf dem eigenen Körpergewicht, dass sie allgemein ein größeres Bedürfnis nach »fat talk« hatten – ganz gleich, welcher Versuchsgruppe sie angehörten.
Das deckt sich mit Einschätzungen von Elisabeth Rauh, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie an der Schön Klinik Bad Staffelstein: »Es ist eine Frage der Aufmerksamkeitslenkung. Oft bewerten wir den Körper oder einen einzelnen Körperteil übermäßig.« Nach und nach macht uns das unzufrieden mit unserem Äußeren. Angefangen mit einer verzerrten Wahrnehmung über Ekel bis hin zur Vermeidung, in deren Zuge man etwa versucht, den Bauch mit zu großen Pullovern zu kaschieren. »Ein weiteres Symptom ist das so genannte ›body checking‹«, erklärt Sven Schneider. »Man schaut bei jeder Gelegenheit in den Spiegel und bewertet sich. Dadurch verstärken sich die Selbstzweifel.«
Doch wie viel Unzufriedenheit ist normal? Schließlich hadert so ziemlich jeder mal mit der eigenen Körperform. Elisabeth Rauh rät: »Hilfe suchen sollte man dann, wenn die negative Sicht auf den eigenen Körper langfristige Auswirkungen hat.« Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn man sich nicht mehr ins Schwimmbad oder zum Sport traut, weil man sich schämt. Manchmal geht die Ablehnung des eigenen Körpers sogar so weit, dass sich die betreffende Person zurückzieht und jegliche Art von sozialer Interaktion meidet.
Der BMI: Kein gutes Maß für das Idealgewicht
Dass sich das Gefühl, zu dick zu sein, ganz unabhängig vom tatsächlichen Körpergewicht einstellen kann, beweisen viele Menschen, die an einer Essstörung leiden. Jenny etwa kam in die Klinik von Elisabeth Rauh, nachdem ihr Hausarzt ihr auf Grund ihres Untergewichts Arbeitsverbot erteilt hatte. Wäre sie nicht selbst in die Klinik gegangen, hätte er sie einweisen lassen – mit ihren etwa 1,80 Metern wog sie nur noch 42 Kilogramm.
Um Menschen einigermaßen objektiv in unter-, über- und normalgewichtig zu unterteilen, greifen Mediziner oft auf den Body-Mass-Index (BMI) zurück. Um ihn zu ermitteln, dividiert man das Gewicht durch das Quadrat der Körpergröße. Liegt der BMI zwischen 18,5 und 24,9, hat man der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge Normalgewicht.
»Jeder Mensch hat ein natürliches Gewicht, das sich einpendelt, wenn man regelmäßig ausreichend isst«
Elisabeth Rauh, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie
Der BMI als Maß für ein normales Gewicht ist allerdings nicht unumstritten. So haben sehr muskulöse Menschen etwa automatisch einen höheren BMI, obwohl sie nicht übergewichtig sind: Muskelmasse wiegt einfach viel. Hinzu kommt, dass ein BMI im Normbereich nicht zwangsläufig gesund ist, wenn man dafür viel abnehmen muss. Denn ein starker Gewichtsverlust ist ebenfalls schädlich für den Körper. Elisabeth Rauh erklärt, dass man nicht einfach ein Normalgewicht definieren und dann sein Essverhalten darauf abstimmen kann: »Jeder Mensch hat ein natürliches Gewicht, das sich einpendelt, wenn man regelmäßig ausreichend isst.« Dieser »Setpoint« ist individuell verschieden – und kann durchaus außerhalb der Grenzen liegen, die der BMI als normal vorgibt.
Um den Setpoint im Rahmen einer Therapie bei einer Essstörung zu schätzen, nutzen Therapeuten die Daten von gesunden Familienmitgliedern, stabile Gewichtswerte aus der Vergangenheit des Patienten und andere Hinweise. Jennys Setpoint liegt bei 72 Kilogramm – glatte 30 Kilogramm über dem Gewicht, mit dem sie die Therapie begonnen hat. »Das hat mir natürlich erst mal nicht gepasst«, gibt sie zu. Die Akzeptanz stellte sich erst langsam im Lauf einer etwa fünfjährigen Behandlung ein.
Den Körper als Ganzes sehen – nicht nur die Problemzonen
Therapeuten kennen einige Wege, um ihren Patienten zu helfen, sich von ihrem negativen Selbstbild zu lösen. Das fängt etwa damit an, dass sie ihnen ins Gedächtnis rufen, welche Auswirkungen die Wahrnehmung ihres Körpers auf ihr Essverhalten hat. Gemeinsam suchen sie mit ihnen nach Strategien, um mit Schamgefühlen umzugehen und die Perspektive zu wechseln: Was könnte eine andere Person in der gleichen Situation denken? Außerdem gehen sie mit den Betroffenen den gesamten Körper durch und sprechen über jedes Detail. Dadurch können die Betroffenen wieder das große Ganze sehen – und nicht nur ihre Problemzonen.
Wichtig ist zudem, zwischen Gewicht, Figur und Attraktivität zu unterscheiden. Denn eigentlich haben die meisten Menschen kein Problem mit ihrem Gewicht, sondern mit ihrer Figur. Und selbst die hat nicht unbedingt etwas mit Schönheit zu tun: Ob wir jemanden attraktiv finden oder nicht, hängt maßgeblich mit der Ausstrahlung der betreffenden Person zusammen und damit, wie sie sich im Raum bewegt.
Deshalb kann sich Studien zufolge beispielsweise Yoga positiv auf das Selbstbild auswirken. Zwar entdeckten Forscher in einer Übersichtsarbeit keine eindeutigen Beweise dafür, dass die aus Indien stammende Sportart bei Essstörungen hilft. Doch zumindest die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper scheint sie zu erhöhen. Yoga lenkt die Aufmerksamkeit darauf, was man zu leisten im Stande ist – und das führt zu positiveren Gedanken, wie Forscher aus den Niederlanden und Schweden 2019 herausfanden: Wer über sein Aussehen redet, vergleicht sich eher mit der Norm. Konzentrieren Teilnehmer sich dagegen auf die Funktionalität ihres Körpers, drehen sich ihre Gedanken stärker um die positive Verbindung zwischen Körper und Geist, ihre Widerstandskraft und den Spaß an der Bewegung.
Das ist auch für stark übergewichtige Menschen wichtig, die ihrer Gesundheit zuliebe tatsächlich ein paar Pfunde verlieren wollen: Statt die Ablehnung des eigenen Körpers für den Gesichtsverlust auszunutzen, zielen Adipositas-Kuren darauf ab, den Patienten durch aktive Beschäftigungen wie Schwimmen oder Walken positive Erlebnisse zu verschaffen. Unterstützt wird das Ganze durch eine nachhaltige Ernährungsumstellung, welche die Betroffenen auch nach dem Ende der Therapie ohne Verlustgefühle weiterführen können. Damit sich am Ende jeder in seinem Körper wohl fühlen und über vermeintliche Makel hinwegsehen kann.
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