Resilienz: Sich selbst ein guter Freund sein
Vor zwei Jahren kam bei Michelle Rapp vieles zusammen: Zunächst verlor die 28-Jährige ihre Arbeit bei einem Start-up-Unternehmen in San Francisco. Sie nahm daraufhin einen Job in einem Teeladen in Chinatown an. Einige Wochen später kugelte sie sich dort ihre Hüfte aus, als sie schwere Kartons aus dem Keller trug.
Kein Wunder, dass sich die einstige Absolventin der Cornell University gestresst und entmutigt fühlte. Sie konnte nicht richtig gehen und auch keine Vorstellungsgespräche wahrnehmen. Stattdessen flüchtete sie sich in das Sammelkartenspiel »Magic: The Gathering«, bei dem man strategisch vorgehen muss, um sich gegen andere Spieler zu behaupten. Rapp war sehr gut darin und begann nach kurzer Zeit, an Turnieren teilzunehmen. Aber selbst diese Ablenkung bereitete ihr letztendlich Kummer: »Ich konnte es mir nicht verzeihen, wenn ich verlor«, sagt sie. »Im Nachhinein erscheint mir das vollkommen verrückt.«
Der Ehrgeiz, mit dem sie an das Spiel heranging, spiegelte ein Verhaltensmuster wider, das ihr ganzes bisheriges Leben bestimmt hatte: Sie setzte sich stets anspruchsvolle Ziele und machte sich heftige Vorwürfe, wenn sie diese nicht erreichen konnte.
Rapp glaubt, dass dieses Verhalten in ihrer Kindheit wurzelt. Sie sei mit viel Druck aufgewachsen, erfolgreich zu sein, zu brillieren. Dieser habe sich oft in emotionalen und körperlichen Misshandlungen durch die Eltern geäußert. Seit einigen Jahren macht sie wegen ihrer Ängste und Depressionen eine Psychotherapie. Eines Abends, als sie mit ihrem Mann über ihre Probleme sprach, kam ihr ein Buch wieder in den Sinn, das sie einst gelesen hatte. Es handelte von der so genannten gewaltfreien Kommunikation und betonte, wie wichtig es sei, dabei Mitgefühl walten zu lassen – auch Mitgefühl mit sich selbst. Ein Aha-Erlebnis für Rapp.
»Self-compassion« oder Selbstmitgefühl bedeutet grundsätzlich, dass man sich selbst genauso gütig und verständnisvoll behandelt, wie man mit einem Freund umgehen würde. Das Konstrukt basiert auf der buddhistischen Philosophie und scheint eine wichtige Rolle dabei zu spielen, wie Menschen mit Fehlschlägen, leidvollen Erfahrungen und eigenen Unzulänglichkeiten umgehen. Die Forschung auf diesem Gebiet hat gezeigt, dass Selbstmitgefühl unabhängig von Mitgefühl entstehen kann: Zum Beispiel empfinden Menschen, denen es schwerfällt, sich selbst mit Güte und Nachsicht zu betrachten, ihren Mitmenschen gegenüber durchaus diese Emotionen. Allgemein ist es für die meisten leichter, anderen Mitgefühl entgegenzubringen als sich selbst.
Kristin Neff, eine Pionierin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls, interessiert sich schon seit den 1990er Jahren für das Thema. Damals war sie Doktorandin an der University of California in Berkeley und machte gerade eine schwierige Zeit durch: Ihre erste Ehe war gescheitert, wofür sie sich schämte und verachtete. Dann begann sie, an Meditationskursen teilzunehmen und die buddhistische Philosophie für sich zu entdecken.
Mit Güte, Wärme und Verständnis
Neff wusste, dass es zum Mitgefühl gehört, das Leid anderer zu erkennen und lindern zu wollen. Bevor sie das Buch »Lovingkindness« der Meditationslehrerin Sharon Salzberg gelesen hatte, war ihr jedoch noch nie in den Sinn gekommen, dieses Gefühl (liebende Güte) auch sich selbst entgegenzubringen. Ein gütiger Umgang mit der eigenen Person sei unentbehrlich, um aufrichtige Liebe gegenüber anderen zu empfinden, so Salzbergs Botschaft. Neff fühlte sich wie verwandelt. Sie fing an, den Grundstein für die Erforschung des Selbstmitgefühls zu legen.
Dabei differenzierte die Psychologin drei Basiskomponenten: erstens die Selbstfreundlichkeit (auf Englisch: self-kindness), also die Fähigkeit, sich selbst und den eigenen Fehlern und Schwächen mit Güte, Verständnis und Geduld statt mit Selbstkritik zu begegnen. Zweitens die geteilte Menschlichkeit (common humanity), bei der negative Erfahrungen als ganz normaler Teil der menschlichen Existenz erkannt werden und nicht als etwas, was die eigene Person von anderen trennt und unterscheidet. Und drittens Achtsamkeit im Umgang mit negativen Emotionen und Gedanken (mindfulness), also die Bereitschaft, diese zu akzeptieren, anstatt sie zu unterdrücken oder sich übermäßig mit ihnen zu beschäftigen oder zu identifizieren. Auf Grundlage dieser Überlegungen entwickelte Neff einen Fragebogen, mit dem sich das Ausmaß an Selbstmitgefühl einer Person messen lässt (siehe »Wie stark ist Ihr Selbstmitgefühl?«).
»Es ist ganz entscheidend, wie man mit sich selbst in schweren Zeiten umgeht«
Kristin Neff, Psychologin an der University of Texas in Austin
Seit Neffs bahnbrechender Veröffentlichung im Jahr 2003 ist die Zahl der wissenschaftlichen Studien auf dem Gebiet rasant angewachsen. In den vergangenen Jahren fand das Konzept auch in der Gesellschaft große Verbreitung: Unzählige Lebensberater, Achtsamkeitslehrer, Forscher und Psychotherapeuten betonen in Büchern, Auftritten oder Workshops, wie hilfreich und heilsam das Selbstmitgefühl ist. Dennoch fällt es vielen Menschen schwer, sich selbst nach Fehlern und Rückschlägen gütig und freundlich zu begegnen. Macht uns ein solches Verhalten nicht schwach, nachgiebig und selbstzufrieden?
Als Psychologiestudentin stieß Juliana Breines zum ersten Mal auf Kristin Neffs Arbeit. Ihr kam die Idee, Selbstmitgefühl könne Menschen mit einem »kontingenten Selbstwert« helfen, ein stabileres Selbstwertgefühl zu entwickeln. Dieses schwankt bei den Betroffenen und hängt maßgeblich von ihrem Erfolg und der Anerkennung durch andere ab. Das ist, wie Studien zeigen, problematisch für die psychische Gesundheit. Breines befürchtete jedoch, dass viel Selbstmitgefühl die Motivation verringere, an sich selbst zu arbeiten. »Es mag vielleicht tröstlich sein, aber entzieht man sich damit nicht zu leicht der Verantwortung?«, überlegte sie.
Wie stark ist Ihr Selbstmitgefühl?
Die nachfolgenden Aussagen stammen aus der deutschsprachigen Version der Self-Compassion Scale, eines von der US-amerikanischen Psychologin Kristin Neff entwickelten Selbstmitgefühl-Fragebogens. Er besteht aus insgesamt 26 Aussagen, die man anhand einer fünfstufigen Skala bewertet, wobei 1 für »sehr selten« und 5 für »sehr oft« steht.
Aussagen, die auf viel Selbstmitgefühl hindeuten:
• Ich versuche, meine Fehler als Teil der menschlichen Natur zu sehen.
• Wenn es mir schlecht geht, versuche ich, meinen Gefühlen mit Neugierde und Offenheit zu begegnen.
• Ich versuche, verständnisvoll und geduldig gegenüber jenen Zügen meiner Persönlichkeit zu sein, die ich nicht mag.
Aussagen, die auf wenig Selbstmitgefühl hindeuten:
• Wenn ich mich niedergeschlagen fühle, neige ich dazu, nur noch auf das zu achten, was nicht in Ordnung ist.
• Wenn es mir schlecht geht, neige ich dazu zu glauben, dass die meisten anderen Menschen wahrscheinlich glücklicher sind als ich.
• Wenn ich Eigenschaften bei mir feststelle, die ich nicht mag, dann deprimiert mich das.
Hupfeld, J., Ruffieux, N.: Validierung einer deutschen Version der Self-Compassion Scale (SCS-D). In: Z. Klin. Psychol. Psychother. 40, S. 115–123, 2011
Dieser Frage ging sie einige Jahre später als Doktorandin an der University of California in Berkeley nach. In einem ihrer Versuche nahmen 86 Studierende an einem diffizilen Wortschatztest teil. Ein Drittel der Probanden erfuhr, dass die Prüfung für gewöhnlich als schwierig empfunden werde und sie daher mit sich selbst nicht allzu hart ins Gericht gehen sollten. Die Botschaft für eine zweite Gruppe hingegen zielte direkt auf das Selbstwertgefühl der Teilnehmer ab: »Versuchen Sie, nicht unzufrieden mit sich selbst zu sein – Sie müssen schon sehr intelligent sein, wenn Sie es an die University of California in Berkeley geschafft haben.« Eine dritte Gruppe erhielt keine zusätzliche Instruktion.
Später maßen die Forscher, wie intensiv sich die Studenten auf einen zweiten, ähnlichen Test vorbereiteten. Das überraschende Ergebnis: Die Selbstmitgefühl-Gruppe verbrachte im Schnitt 33 Prozent mehr Zeit damit als die Selbstwertgefühl-Gruppe und 51 Prozent mehr Zeit als die Kontrollgruppe. Entgegen vielen Erwartungen fördert Selbstmitgefühl offenbar die Motivation und spornt dazu an, nach einer Niederlage weiterzumachen.
Zu viel Energie für negative Gefühle, zu wenig für die Lösung von Problemen
Wissenschaftler um Ashley Batts Allen, damals an der Duke University, entdeckten in einer Reihe von Untersuchungen an älteren Menschen weitere positive Auswirkungen. Diejenigen, die über viel Selbstmitgefühl verfügten, waren insgesamt zufriedener, selbst wenn sie gesundheitliche Probleme hatten. Und sie waren eher dazu bereit, bei Bedarf eine Gehhilfe zu benutzen: »Sie konnten es besser akzeptieren, auf Unterstützung angewiesen zu sein«, erklärt Allen.
Menschen mit wenig Selbstmitgefühl würden zu viel Energie für negative Gefühle und zu wenig für die Lösung von tatsächlichen Problemen aufwenden, glaubt der Psychologe Mark Leary, einer der Studienautoren. Wer etwa die eigene Gebrechlichkeit leugnet, riskiert Stürze und Brüche. Wer sich dagegen in Selbstmitgefühl übe, der lerne, die gegebenen Umstände zu akzeptieren – ohne sie emotional zu bewerten. Auch die Einsicht, dass körperliche Einschränkungen unweigerlich zum Altern gehören, helfe dabei.
2014 befragten Leary und seine Kollegen 187 Menschen mit einer HIV-Infektion zu ihrem Umgang mit der Erkrankung. Patienten mit mehr Selbstmitgefühl konnten das Leben mit dem Virus besser bewältigen: Sie waren nicht so gestresst, schämten sich weniger für die Infektion und waren eher bereit, offen damit umzugehen. Auch eine Metaanalyse mit mehr als 3000 Teilnehmern machte deutlich, dass Selbstmitgefühl mit einer gesunden Lebensweise in Hinblick auf Schlaf, Stressbewältigung, Ernährung und Bewegung zusammenhängt. Darüber hinaus scheint die Fähigkeit unsere psychische Widerstandsfähigkeit, die Resilienz, zu stärken. So sind Menschen mit einem hohen Selbstmitgefühl zum Beispiel weniger anfällig für Angsterkrankungen und Depressionen sowie besser in der Lage, Rückschläge zu verkraften. Sie erholen sich nach einer Scheidung zum Beispiel schneller als Personen mit einer selbstkritischen und von Selbstmitleid erfüllten Sicht auf das Scheitern der Beziehung.
Auch Menschen, die andere pflegen oder betreuen, hilft es offenbar, wenn sie sich selbst ebenfalls freundlich und nachsichtig behandeln. Sich um ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung zu kümmern, können Eltern mitunter als emotional belastend empfinden, wobei es tendenziell vom Schweregrad der Symptome abhängt, wie gestresst und hoffnungslos sie sich fühlen. Kristin Neff und Daniel Faso legten 2015 jedoch dar, dass das Ausmaß des Selbstmitgefühls für das Wohlbefinden der pflegenden Eltern eine wichtigere Rolle spielte als der Schweregrad der Störung. Ebenso wiesen US-amerikanische Kriegsveteranen, die im Irak oder in Afghanistan gekämpft hatten, schwächere Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auf, wenn sie über viel Selbstmitgefühl verfügten. »Das Ergebnis ist ein deutlicher Beleg für die Annahme, dass es – unabhängig davon, was einem passiert ist – entscheidend ist, wie man mit sich selbst in schwierigen Zeiten umgeht«, sagt Neff.
Man könnte nun meinen, Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl seien untrennbar miteinander verbunden. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Sich selbst auch in Krisen wohlwollend und fürsorglich zu begegnen, scheint sogar die negativen Effekte eines niedrigen Selbstwertgefühls abzumildern, wie ein Team um die Psychologin Sarah Marshall in einer Längsschnittstudie von 2015 mit 2448 Schülern der 9. und 10. Klasse zeigen konnte. Heranwachsende, die über ein gutes Selbstwertgefühl verfügten, waren in der Regel auch in einer guten psychischen Verfassung, unabhängig von ihrem Selbstmitgefühl. Wer jedoch nur ein geringes Selbstwertgefühl aufwies, sich dafür aber selbst Verständnis und Wärme entgegenbrachte, der erfreute sich ebenfalls einer guten psychischen Gesundheit.
Das sei deswegen eine so gute Nachricht, weil es einfacher sei, bei Menschen das Selbstmitgefühl zu steigern als das Selbstwertgefühl, erklärt Mark Leary. Es habe sich als wirklich schwierig und langwierig erwiesen, Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl dazu zu bringen, sich selbst zu mögen. Dagegen sei es leichter, die negativen Verhaltensmuster, die mit einem niedrigen Selbstmitgefühl einhergehen, zu durchbrechen, zum Beispiel Selbstvorwürfe.
Selbstmitgefühl biete dieselben Vorteile wie ein hohes Selbstwertgefühl, aber ohne dessen Schattenseiten, glaubt Neff. Denn Selbstmitgefühl scheint man im Vergleich zum Selbstwertgefühl nie genug besitzen zu können. Dagegen haben etwa Menschen mit einem ausgeprägten Hang zu Narzissmus tendenziell ein höheres, aber schwankendes Selbstwertgefühl.
Übung: Die Selbstmitgefühlspause
Wenn gerade etwas schiefgelaufen ist oder man unglücklich ist, kann eine gezielte Pause es einem ermöglichen, freundlich und mitfühlend mit sich umzugehen und sich selbst wie einem guten Freund zu begegnen statt mit Kritik.
1. Achtsamkeit: Erkennen Sie schonungslos an, was ist: »Das ist jetzt einfach eine schwierige Situation«, »Wow, das tut weh!« oder »Da ist echt was schiefgelaufen«.
2. Geteilte Menschlichkeit: Öffnen Sie Ihren Blick über das momentane eigene Leiden hinaus, ohne es zu verleugnen. Passen Sie Ihre Worte an die Situation an, je nachdem, ob es sich um ein Scheitern, einen Fehler, ein Missgeschick oder einen Verlust handelt: »Jeder macht Fehler, das ist einfach menschlich«, »Misserfolge sind Teil des Lebens«, »Ich bin nicht allein oder der/die Einzige damit«.
3. Selbstfreundlichkeit: Begegnen Sie sich so, wie Sie einem Freund in einer ähnlich misslichen Lage begegnen würden: »Was kann ich jetzt gebrauchen, gerade wo es mir schlecht geht?« oder »Was tut mir gut?«.
Nach Mangold, J.: Wir Eltern sind auch nur Menschen! Selbstmitgefühl zwischen Säbelzahntiger und Smartphone. Arbor, Freiburg im Breisgau 2018
Sich selbst auch in Krisen wie einen Freund zu behandeln, verbessert zudem offenbar die Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Frauen und Männer mit hohen Werten bei dieser Persönlichkeitseigenschaft verhalten sich ihrem Partner gegenüber fürsorglicher und unterstützender sowie weniger kontrollierend und verbal aggressiv als jene mit niedrigen Werten. Ebenso scheint die Fähigkeit bei Konflikten zu helfen: Wer über ein höheres Selbstmitgefühl verfügt, ist dann weniger emotional aufgewühlt, und es gelingt ihm besser, die eigenen Bedürfnisse mit denen des anderen in Einklang zu bringen. Kristin Neff hält diese Fähigkeit sogar für eine Voraussetzung für glückliche Partnerschaften: »Wenn man nur dem Partner mit Mitgefühl, aber sich selbst mit Härte begegnet, kann man keine gesunde Beziehung aufbauen«, glaubt sie.
Ein Training gegen Selbstverachtung
Selbstmitgefühl aufzubauen, sei ein wichtiges Werkzeug, um Burnout und das so genannte »compassion fatigue« zu vermeiden, glaubt die portugiesische Psychologin Joana Duarte von der Universität Coimbra. Vor allem Menschen in Pflegeberufen leiden unter dem Phänomen, bei dem es durch die ständige Konfrontation mit dem Leid anderer zu Erschöpfung und einer emotionalen Abstumpfung kommt. In einer 2016 veröffentlichten Studie befragten Duarte und ihre Kollegen 260 Krankenschwestern. Dabei entdeckten sie, dass besonders empathische Pflegerinnen irgendwann zu Empathiemüdigkeit neigen. Brachten diese sich gleichzeitig auch viel Selbstmitgefühl entgegen, stellte die Eigenschaft hingegen keinen Risikofaktor dar.
Wie können Menschen lernen, liebevoller und gütiger mit sich selbst umzugehen? Kristin Neff und der klinische Psychologe Christopher Germer von der Harvard Medical School entwickelten mit dem achtwöchigen Kurs »Mindful Self-Compassion« (MSC) einen viel versprechenden Ansatz. Das Programm stellt zunächst das Konzept des Selbstmitgefühls und die Forschung zum Thema vor und beinhaltet viele Übungen für die Teilnehmer, zum Beispiel positive Worte für sich zu finden oder einen Brief an sich selbst zu schreiben, so als würde er von einem liebevollen Freund stammen.
2013 veröffentlichten Neff und Germer eine Pilotstudie mit 50 Probanden, die entweder gleich einen MSC-Kurs besuchten oder zwei Monate lang darauf warten mussten. Wer das Training besucht hatte, fühlte sich besser und wies im Schnitt ein um 43 Prozent gesteigertes Selbstmitgefühl auf. Aber auch Probanden der Wartegruppe verspürten rund sieben Prozent mehr Mitgefühl mit sich selbst als zuvor. Das überraschte die Forscher, bis sie entdeckten, dass diejenigen, die auf den Kurs warten mussten, die Zeit häufig dafür genutzt hatten, sich selbst schon einmal über das Thema zu informieren.
So begegnen Sie sich wie einem guten Freund
• Werden Sie sich dessen bewusst, dass Selbstablehnung und Selbstkritik Ihnen nicht helfen, Ihre Ziele zu erreichen, sondern Sie eher daran hindern.
• Jeder Mensch ist anders. Finden Sie für sich heraus, welche Selbstmitgefühls-Übungen für Sie die richtigen sind. Verschiedene englischsprachige Beispiele finden Sie etwa auf der Webseite von Kristin Neff.
• Wenn Sie mit den Übungen Schwierigkeiten haben, seien Sie geduldig und nachsichtig mit sich selbst.
Inzwischen sind einige weitere Untersuchungen zur Effektivität des achtwöchigen Trainings erschienen. Zum Beispiel zeigten Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes auch noch drei Monate nach dem Kurs weniger depressive Symptome und litten nicht so sehr unter ihrer Erkrankung wie Patienten, die auf die Intervention warten mussten. Auch ihr HbA1c-Wert sank deutlich. Dieser wichtige Laborparameter erlaubt Rückschlüsse auf die Blutzuckerwerte der letzten Wochen. Ebenso waren Jugendliche, die einen ähnlichen, an Heranwachsende angepassten Workshop besucht hatten, zufriedener mit ihrem Leben und gingen achtsamer und liebevoller mit sich um als Gleichaltrige ohne Training.
Oft sei bei solchen Studien jedoch unklar, ob es wirklich die Kursinhalte sind, die das Selbstmitgefühl der Teilnehmer verbessern, meint Julieta Galante von der University of Cambridge. Schließlich könnte auch der Austausch in der Gruppe oder ein fürsorglicher Kursleiter dafür verantwortlich sein. Andererseits bestätigte eine 2017 veröffentlichte Metaanalyse von James N. Kirby und seinen Kollegen den spezifischen Erfolg von Selbstmitgefühls-Interventionen. Die Psychologen werteten die Daten von rund 1300 Probanden aus 21 Studien mit Kontrollgruppen aus. Die Kursteilnahme erhöhte das Mitgefühl gegenüber sich selbst und anderen, die Achtsamkeit sowie das Wohlbefinden und reduzierte Ängste, Depressionen und Kummer. Der Effekt zeigte sich auch bei jenen Studien, welche die Selbstmitgefühls-Intervention mit einem anderen Training verglichen hatten.
Verantwortung für die Zukunft übernehmen
Während eines solchen Kurses kann es allerdings vorkommen, dass Menschen von heftigen Emotionen überwältigt werden. Sie beginnen dann unkontrolliert zu weinen, oder es wird ihnen schmerzlich bewusst, dass es in ihrem Leben keine konfliktfreien Beziehungen gab. Germer und Neff bereiten die Teilnehmer der »Mindful Self-Compassion« daher darauf vor, dass solche Gefühle auftreten können: So wie Feuer explosionsartig aus einem Raum herausschießen kann, wenn die Tür geöffnet wird und Luft hineinströmt, können bei Menschen, die in ihrem Leben Liebe vermissen, auch alte schmerzliche Erinnerungen hochkommen. Für einige sei es daher ratsam, sich langsam und behutsam an die Übungen heranzutasten, möglicherweise mit Hilfe eines Psychotherapeuten.
Paul Gilbert, Professor für klinische Psychologie an der University of Derby, sieht das auch so. Während seiner langjährigen therapeutischen Arbeit mit Menschen, die in ihrer Kindheit Misshandlung oder Vernachlässigung erfahren mussten, beobachtete er, dass Güte und Freundlichkeit traumatische Erinnerungen wachrufen können. Er hält es daher für wichtig, Menschen auf ihrem Weg zu mehr Selbstmitgefühl zu begleiten.
Die von ihm für traumatisierte Patienten entwickelte und in diversen Studien mit kleinen Stichproben erprobte Compassion Focused Therapy (CFT) geht deshalb schrittweise vor und beginnt mit einer Psychoedukation. Beispielsweise erklärt Gilbert den Teilnehmern, dass sie an der übermäßigen Selbstkritik nicht schuld sind, und zeigt ihnen auf, wie diese als Schutz gegen bedrohlich empfundene Eltern entstanden sein mag. Nachdem die Patienten erkannt haben, dass sie weder für ihre Gene noch für das Umfeld ihrer Kindheit verantwortlich sind, können sie beginnen, Schamgefühle loszulassen – und Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen. So profitierten Patienten mit Essstörungen davon, wenn sie zusätzlich zu einer Psychotherapie noch an einer gruppentherapeutischen CFT teilnahmen. Zur Genesung gehöre es nicht nur, den Drang, unkontrolliert zu essen, zu akzeptieren, sondern auch zu lernen, wie man mit etwaigen Rückfällen umgeht, sagt Studienautorin Allison Kelly von der University of Waterloo in Kanada. »Wenn man sich jedes Mal schlimme Vorwürfe macht, ist es schwierig, Gelassenheit und Selbstvertrauen zu entwickeln.« Dadurch verpasse man die Chance, innezuhalten, nachzudenken und für die Zukunft zu lernen.
Auch Michelle Rapp gelang es schließlich, ihre Hüftverletzung sowie andere Rückschläge zu akzeptieren und ihre Scheu davor, andere um Hilfe zu bitten, zu überwinden. Früher hat sie sich mit Krücken zum Bus gequält, inzwischen ist sie nachsichtiger mit sich selbst und nimmt lieber ein Taxi. Das ist sie sich jetzt wert.
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