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Demokratieforschung: »Die ›Bewegungisierung‹ hat weit reichende Konsequenzen«

Europas Parteienlandschaft ist im Umbruch. Neue Bewegungen brechen das traditionelle Links-rechts-Spektrum mit Themen wie Migration und Geschlechteridentität auf. Die langfristigen Folgen könnten dramatisch sein, sagt Partizipationsforscher Endre Borbáth im Interview.
Eine Menschenmenge mit Fahnen und einem Plakat mit einer Titelseite des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, das Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt, stehen auf dem Kölner Neumarkt
Herausforderer-Protest: Demonstration der rechtsextremen Pegida-Bewegung am 15. April 2024 auf dem Kölner Neumarkt.

Herr Borbáth, die Parteienlandschaft in Deutschland und Europa sieht heute ganz anders aus als noch vor einer Generation. Was sind die wichtigsten Veränderungen?

Wir sehen eine grundlegende Neustrukturierung des Parteienwettbewerbs in den europäischen Ländern, vor allem durch den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien seit den 1990er Jahren.

Was genau kennzeichnet diese Neustrukturierung?

Bis in die 1990er Jahre gab es in den meisten europäischen Ländern einen Parteienwettbewerb entlang wirtschaftspolitischer Positionen. Die traditionellen »Mainstream-Parteien«, die früher große Mehrheiten errangen und sich in Regierungskoalitionen abwechselten, ließen sich leicht in ein linkes und ein rechtes Lager einteilen, in Deutschland also in Sozialdemokraten, Konservative und dazu noch Liberale. Seit den 1990ern treten in quasi allen europäischen Ländern linke, nicht zuletzt grüne, aber auch rechte Herausforderer-Parteien auf, die gewissermaßen senkrecht zum traditionellen politischen Wettbewerb eine zweite Achse im Parteienspektrum eröffnen und damit die Wählerschaften der Mainstream-Parteien aufspalten. Auf dieser zweiten Achse geht es nicht um linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern um die Haltung zu kulturellen Themen wie Einwanderung, europäische Integration, Geschlecht oder Klimawandel.

Endre Borbáth | Der aus Ungarn stammende Politikwissenschaftler ist Juniorprofessor für empirisch-analytische Partizipationsforschung an der Universität Heidelberg und Gastwissenschaftler am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Was ist der Auslöser für diese Entwicklung?

Der Erfolg der Herausforderer-Parteien hängt eng mit dem Druck der Globalisierung zusammen. Die Globalisierung schafft Gewinner- und Verlierergruppen. Diese unterscheiden sich, das zeigen unsere Daten, gerade in ihren Einstellungen zu kulturellen Themen, aber auch zur Frage der Rolle des Staates in der Wirtschaft.

Welche Wählergruppen fühlen sich von den linken oder rechten Herausforderern besonders angesprochen?

Befragungsstudien ergeben hier ein klares Bild: Die Verlierer der Globalisierung neigen klar den rechten Herausforderer-Parteien zu. Unter ihnen sind Männer – vor allem junge Männer – überrepräsentiert, ebenso wie Menschen ohne höhere Bildung, Handwerker sowie Absolventen technischer Studiengänge. Die AfD etwa ist in gewisser Weise eine Arbeiterpartei.

Ist das eine deutsche Besonderheit?

Nein. Wer sich der Arbeiterklasse zurechnet, tendiert in einer Reihe von europäischen Ländern dazu, rechtsradikale Parteien zu wählen. Umgekehrt gibt es unter den Gewinnern der Globalisierung viele, die linken Herausforderer-Parteien wie zum Beispiel den Grünen zuneigen. Unter diesen Wählern sind Frauen und Personen mit höherer Bildung überrepräsentiert, dazu Personen, die mit anderen Menschen statt mit Maschinen arbeiten, Kulturschaffende sowie Absolventen von geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen.

Welche Bedeutung haben »woke« Themen wie LGBTQIA+-Rechte, Diversität oder Klimawandel für die Spaltung der Parteienlandschaft?

In einer vielfältigeren Gesellschaft verlieren frühere Kategorien wie »Arbeiter« an Bedeutung. Stattdessen werden andere Facetten unserer Identität politisiert. Neue oder neu sichtbare soziale Gruppen kämpfen gegen Diskriminierung und fordern staatlichen Schutz und Anerkennung ihrer Unterschiede. Die LGBTQIA+-Bewegung ist ein Beispiel für diese Dynamik. Rechte Parteien wittern hier eine Bedrohung für die Familie und die gesellschaftliche Tradition. Entsprechende Narrative tragen zur Politisierungsspirale bei und beeinflussen auch den politischen Mainstream. Unsere Daten zeigen, dass dies insbesondere im osteuropäischen Parteienwettbewerb der Fall ist, in gewissem Maße aber auch in Südeuropa. In diesen Regionen ist die Genderfrage eines der auffälligsten und polarisierendsten Themen, mit dem die Parteien ihre Wähler mobilisieren.

»Die Verlierer der Globalisierung neigen rechten Herausforderer-Parteien zu«

Und das zerreißt die traditionellen »Mainstream-Parteien«?

Diese stehen vor der Frage, ob sie solche Narrative ablehnen oder übernehmen. Die Position, die sie einnehmen, hat großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Konsens und auf das, was wir als Norm wahrnehmen.

Um das von Ihnen gezeichnete Bild zu vervollständigen: Was sind weitere länderübergreifende Merkmale der Aufspaltung der Parteienlandschaft?

Wir sehen, dass sich die Unterschiede zwischen Wahlpolitik und Bewegungspolitik immer weiter verwischen. Politische Parteien setzen zunehmend auf Proteste, um ihre Anhänger zu mobilisieren und mehr Menschen zu erreichen. Das haben wir analysiert, indem wir sämtliche Protestveranstaltungen, die zwischen 2000 und 2021 in Europa stattgefunden haben, anhand von Medienberichten systematisch katalogisiert haben: nach Forderungen, nach Organisatoren, nach Form der Mobilisierung, ob es zu Gewalt kam und so weiter. Diese »Bewegungisierung« der Parteien hat weit reichende Konsequenzen: Soziale Bewegungen können politische Alternativen nicht nur zur Regierung, sondern zum traditionellen Parteiensystem insgesamt formulieren.

Was bedeutet das?

Linke Herausforderer-Parteien verlassen sich besonders auf Proteste, um Wahlerfolge zu erzielen. Unsere Untersuchungen zeigen: Wer sich in Umfragen als politisch links positioniert, nimmt mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit an Protestkundgebungen teil. Das gilt allerdings nur für Westeuropa, in Osteuropa ist es aus historischen Gründen umgekehrt. Nicht zufällig spielte die Anti-Atomkraft-Bewegung eine große Rolle beim Aufkommen der Grünen. Später legten die so genannten Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 der Regierung Schröder den Grundstein für die Entstehung der WASG, die sich später mit der PDS zur Linkspartei zusammenschloss.

»Die Pegida-Demonstrationen gaben der AfD den nötigen Schwung, sich von einer wirtschaftsliberalen zu einer einwanderungsfeindlichen Partei zu wandeln«

Aber ist das bei den rechten Herausforderer-Parteien nicht inzwischen ähnlich?

Ja, da ändert sich etwas. Rechtsradikale Herausforderer-Parteien nutzen ebenfalls zunehmend Proteste und verwischen die Grenzen zwischen Partei und Bewegung. Der AfD gaben die Pegida-Demonstrationen nach der so genannten Flüchtlingskrise den nötigen Schwung, sich von einer vormals wirtschaftsliberalen zu einer einwanderungsfeindlichen, kulturell rechten Partei zu wandeln. Wir haben dies anhand von Protestereignissen untersucht, kombiniert mit einer qualitativen Analyse, wie die durch Pegida ausgelöste Diskursspirale in die innerparteiliche Dynamik der AfD hineinwirkte und rechtsradikalen Akteuren in der Partei Auftrieb gab.

Die jüngste Herausforderer-Partei in Deutschland ist das Bündnis Sahra Wagenknecht. Wie steht es hier mit der Nähe zu Protestbewegungen?

Auch die Geschichte des BSW begann mit der von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer organisierten Demonstration gegen den Plan der Bundesregierung, die Ukraine gegen den Angriff Russlands militärisch zu unterstützen.

Wie fügen sich der Ausgang der Nationalratswahl in Österreich vom Sonntag und die jüngsten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg in das Gesamtbild der Spaltung europäischer Parteienlandschaften ein?

Österreich und Deutschland unterscheiden sich darin, wann rechtsextreme Herausforderer-Parteien in der politischen Landschaft auftauchten. Die FPÖ war eine der ersten Parteien dieser Art in Europa und konnte bereits zahlreiche Wahlerfolge verbuchen, als sie Anfang der 2000er Jahre in die österreichische Regierung eintrat. Das bedeutet, dass die Politisierung kultureller Themen in Österreich weiter fortgeschritten ist. Ein »Cordon Sanitaire« – die Strategie, eine bestimmte Partei, in diesem Fall die FPÖ, von der politischen Macht auszuschließen – macht hier keinen Sinn mehr, da die Partei ja längst in Koalitionen mit der ÖVP regiert hat, zuletzt unter Sebastian Kurz. Was diesmal anders ist: Die FPÖ ist seit Sonntag die stärkste Partei und könnte daher selbst den Bundeskanzler stellen. Das gibt der Partei mehr Spielraum, einige ihrer radikaleren politischen Ideen umzusetzen, darunter Maßnahmen gegen Migranten oder Bremsen im Kampf gegen den Klimawandel.

Wenn Sie sagen, dass in Österreich eine Partei wie die FPÖ früher auf den Plan getreten sei als in Deutschland: Was ist mit der NPD, den Republikanern oder der Schill-Partei?

Das waren keine Herausforderer-Parteien, weil sie keine Brücke in eine breite gesellschaftliche Protestbewegung hinein hatten. Der Aufstieg der AfD in Deutschland ist tatsächlich ein relativ neues Phänomen. Weder der einwanderungsfeindliche Diskurs noch die Partei selbst sind, Stand heute, so normalisiert wie die FPÖ in Österreich. In Deutschland funktioniert der »Cordon Sanitaire« noch, die AfD hat derzeit keine Chance, in eine Regierung zu kommen. Sie ist zudem auch ein noch kaum erfahrener Akteur und im europäischen Vergleich besonders radikal. Dies zeigte sich daran, dass die Partei nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 Schwierigkeiten hatte, Koalitionspartner zu finden – selbst unter den anderen rechtsradikalen Parteien.

Ist die Ausgrenzung einer von vielen Menschen gewählten Partei – in Thüringen ist sie klar die stärkste Partei – denn politisch sinnvoll?

Eine spezifische Gefahr im deutschen Fall ist in der Tat eine Radikalisierungsspirale: Als eine der stärksten Parteien immer von der Regierung ausgeschlossen zu sein, gestattet der AfD, sich als Opfer einer »Mainstream-Verschwörung« darzustellen und ihre Wählerschaft weiter zu radikalisieren.

Was zeigt denn die Erfahrung in Europa: Wie agieren rechte Herausforderer-Parteien, wenn sie einmal in Regierungsverantwortung kommen?

Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass rechtsextreme Parteien, wenn sie an die Regierung kommen, ihre Ansichten mäßigen, um kompetenter zu erscheinen. Ich halte das für falsch. Wenn sie sich mäßigen, dann vor allem, weil sie Koalitionen mit anderen Parteien eingehen müssen oder weil sie sich an europäische Vereinbarungen halten müssen. Aber wenn sie allein regieren, können sie wirklich gefährlich für die Demokratie werden. Das sieht man in Ungarn, Sie können aber auch an die Trump-Präsidentschaft in den USA denken.

»Rechte Herausforderer-Parteien haben ein Demokratieverständnis, in dem Gewaltenteilung, Minderheitenrechte und Verfassungsgerichte als Eingriffe in das Recht der Mehrheit gesehen werden, zu regieren«

Können Sie die Gefahren für die Demokratie noch klarer benennen?

Rechte Herausforderer-Parteien haben ein Demokratieverständnis, in dem Gewaltenteilung, Minderheitenrechte und Verfassungsgerichte als Eingriffe in das Herrschaftsrecht der Mehrheit angesehen werden. Für sie steht nichts über dem Willen der Mehrheit. In diesem Demokratieverständnis wird alles einer politischen Logik untergeordnet: Staatliche Institutionen und Verwaltung müssen bedingungslos dem Willen der Partei, des selbst ernannten Vertreters der Mehrheit, dienen. Da die Parteien oft stark hierarchisch organisiert sind, droht diese Dynamik in eine Autokratie zu münden, in der sich die Macht in den Händen eines Führers konzentriert, der unkritische Loyalität einfordert.

Ist die Spaltung der Parteienlandschaft ein unumkehrbarer Prozess?

Manche Forscher vertreten die Ansicht, dass der Aufstieg von Parteien wie der AfD oder des BSW nur eine Reaktion auf Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung sei. Ich teile diese Sichtweise nicht. Alle unsere Forschungsergebnisse wie auch die Studien vieler Kollegen weisen klar darauf hin, dass die neuen Herausforderer-Parteien eine grundlegende Veränderung des politischen Raums darstellen und schon zu tief in bestimmten gesellschaftlichen Milieus verankert sind, um wieder zu verschwinden.

Was wird dann aus den Traditionsparteien?

Hier sind verschiedene Szenarien denkbar. In einem Szenario überleben die etablierten Parteien, indem sie hauptsächlich in Fragen der Wirtschaft oder der Fachkompetenz konkurrieren. Bei zunehmender Fragmentierung werden sie jedoch ständig von neuen Parteien herausgefordert, die hauptsächlich kulturelle Themen vertreten. In einem anderen Szenario passen sich die etablierten Parteien an und integrieren den Wettbewerb um kulturelle Themen in die eigenen Programme. Wenn das passiert, werden SPD und Grüne kaum noch unterscheidbar sein, ebenso wie AfD und CDU/CSU.

Das sind keine guten Aussichten.

Meiner Meinung nach hängt viel von der Strategie der etablierten konservativen Parteien ab. Die beiden Pole auf der neuen politischen Achse – die progressive globalisierungsfreundliche Linke und die nationalistische Rechte – stellen ungleiche Bedrohungen für die Demokratie dar. Wenn die CDU/CSU die Positionen der AfD übernimmt und etwa beginnt, einwanderungsfeindliche Diskurse zu fördern, schränkt sie nicht nur die Wahlmöglichkeiten der Wähler ein, indem sie bestehende Unterschiede verwischt, sondern legitimiert auch einen Akteur, der eine Bedrohung für das demokratische System darstellt. Das wiederum stärkt aber die AfD bei künftigen Wahlen, denn Wähler ziehen oft das Original der Kopie vor. Daher halte ich es für einen gefährlichen Weg, wenn sich die Mitte-rechts-Parteien den radikalen Herausforderern angleichen.

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