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Paläontologie: Der Extraaquatische

Für das Tier selbst war es vielleicht nur ein kleiner Schritt, für die Evolution aber ein gewaltiger: Der erste Landgang von Ichthyostega markierte eine Zeitenwende und öffnete den Wirbeltieren ein neues Reich.
Kopfrekonstruktion von Ichthyostega
Warum Ichthyostega tatsächlich seine Füße auf festen Boden setzte, wird wohl immer ein Geheimnis der Erdgeschichte bleiben: Wollte dieses Ur-Amphib den zahllosen Feinden im Wasser entgehen? Erkannte es die Vorzüge eines damals noch weit gehend konkurrenzlosen Teilzeitlebens auf dem Festland? Oder handelte es aus Zwang, weil sein Lebensraum häufigen Veränderungen unterworfen war und jene sterben mussten, die aus physiologischen Gründen nicht weichen konnten?

Denn eigentlich wirft das Leben auf dem Trockenen zunächst einmal große Probleme auf: Die Erdanziehung und damit das eigene Körpergewicht kommen voll zur Geltung, da die tragende Kraft des Wassers wegfällt. Und die Atmung sollte umgestellt werden, da der Sauerstoff nun nicht mehr im Wasser gelöst ist, sondern direkt aus der Luft gewonnen werden muss.

Ichthyostega im Vergleich | Die neue Rekonstruktion des Ichthyostega (oben) von Forschern um Per Ahlberg zeigt im Vergleich zu einem älteren Modell (Mitte) und zur Art Acanthostega – ein ebenfalls im Devon auftretendes Ur-Amphibium – markante Unterschiede im Aufbau der Wirbelsäule. Nach den Fossilfunden verfügte demnach Ichthyostega bereits über eine deutlich ausdifferenzierte Wirbelsäule mit fünf funktional unterschiedlichen Abschnitten, von denen die vorderen vier in früheren Modellen nicht extra ausgewiesen wurden.
Dennoch ist dieser Lebenswandel zwischen Wasser und Land bis in die Gegenwart ein Erfolgsmodell. Schließlich existieren heute weit über 4500 Lurcharten auf der Erde, und selbst einige Fische verbringen zeitweise ihr Leben auf trockenem Grund wie der Schlammspringer (Periophthalmus), der bei Ebbe in der Mangrove auf Jagd geht und damit gleichzeitig die Gefahren des offenen Meers meidet. Zur terrestrischen Fortbewegung setzt er seine verdickten Brustflossen ein, mit denen er vorwärts robbt. Zudem gibt es die Lungenfische (Dipnoi), die eingekapselt in Schlamm und Schleim auch längere Zeit ohne Wasser überleben können und die – der Name sagt es bereits – über Lungen statt Kiemen atmen.

So ähnlich könnten es auch die Vorläufer der Paläo-Amphibien vor über 360 Millionen Jahren im Oberen Devon gehalten haben, bevor sich mit Ichthyostega selbst die ersten bekannten echten und vierbeinigen Land-Wasser-Tiere ausgebildet haben. Näheren Aufschluss über diese erste Eroberung des Festlandes durch Tetrapoden erhofften sich deshalb Per Ahlberg von der Universität Uppsala und seine Kollegen durch detaillierte anatomische Studien bislang bekannter Fossilien des Urzeit-Lurchs.

Die daraus entwickelte Rekonstruktion zeigt denn auch einige Besonderheiten und Innovationen, welche die Art deutlich von ihren damaligen fischigen Mitbewohnern abheben: So entwickelte Ichthyostega erstmals eine für das Devon neuartige Wirbelsäule, die es ihm ermöglichte, den Rumpf über den Grund zu erheben. Gleichzeitig waren die Rippen an der Basis seines Schwanzes so angelegt, dass sie dessen rudernde Schwimmbewegungen erleichterten. Was die Spezies aber einzigartig unter ihren Zeitgenossen machte, ist die erstmalige Differenzierung dieser Wirbelsäule in fünf verschiedene, klar getrennte Abschnitte vom Nacken bis zum Schwanz, wie sie später allen höheren Wirbeltieren zuteil werden sollte.

Fossilreste und ihre ursprünglichen Funktionen | Aus den Untersuchungen aller bekannten Versteinerungen von Ichthyostega rekonstruierten die Forscher das Skelett des Tiers und leiteten daraus deren ungefähre Funktion ab.
Die Dornfortsätze der Wirbelsäule hinter dem Schultergürtel etwa sind nach hinten gerichtet, während jene im Hüftbereich nach vorne weisen und die dazwischen liegenden sich nahezu senkrecht zur Längsachse orientieren. Da die daran angelegten Muskeln ihre maximale Kraft entfalten, wenn sie im rechten Winkel zu ihren Anknüpfungspunkten agieren, vermuten die Forscher, dass sie dadurch den zentralen Körperteil des Neulanderoberers in der Schwebe halten konnten.

Ein potenzielles Anzeichen für die Lungenatmung stellen die außergewöhnlich langen vorderen Rippen von Ichthyostega dar – wie der Rippenbogen der meisten heutigen Wirbeltiere dienten sie wohl dem Schutz des Atmungsorgans. Andernfalls hätte der Brustkorb bei Landgängen auch durchaus kollabieren können. Zudem stabilisierten sie die Wirbelsäule in diesem Abschnitt, was sich hier wiederum nachteilig auf die Schwimmfähigkeit auswirkte, denn Wellenbewegungen des Vorderkörpers wurden auf die Weise bis hinunter zum Kreuzbein unterbunden.

Um in beiden Umwelten überleben zu können, musste die Art zumindest im Wasser Abstriche an ihrem Vorwärtskommen machen. Aber auch die neuartige Fortbewegung an Land fiel anscheinend noch etwas grobmotorisch aus, wobei prinzipiell zwei Gangarten anatomisch möglich waren. Beim "normalen" Laufen setzte der Grenzgänger seine Füße diagonal synchronisiert voreinander, wie es heute etwa noch Salamander praktizieren. Oder aber der Vierfüßler machte es den Spannerraupen gleich: Durch Heranziehen der hinteren Gliedmaßen und der daraus resultierenden Biegung der Lendenwirbelsäule setzte Ichthyostega seinen Körper so unter Spannung, dass er die Vorderfüße in Bewegungsrichtung strecken konnte und auf diese Weise vorwärts kam.

Doch anscheinend waren diese Einschränkungen im Bewegungsapparat zu viele Unzulänglichkeiten für die Spezies, denn es gibt keine direkten Erben für diese Linie – folglich starb sie wieder aus. Vielmehr war sie Teil einer 15 Millionen Jahre währenden Experimentierphase der Evolution, in der sich letztendlich Landgänger mit einem verlängerten Zentralbereich der Wirbelsäule durchsetzen konnten: Wie bei vielen Eroberern hat sich für Ichthyostega dieser Gewinn an Lebensraum langfristig betrachtet also nicht gelohnt.

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