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Flaggschiff-Initiative: Der simulierte Kranke

Per Mausklick zur richtigen Behandlung - das ist das Ziel von Medizinern um Hans Lehrach. Enorme Rechnerleistungen sollen der personalisierten Medizin zum Durchbruch verhelfen. Doch Kritiker fürchten, dass aus dem virtuellen auch gleich der gläserne Patient wird.
Virtueller Patient
Hans Lehrach blickt mit Neid auf die Computerspieleindustrie: "Wenn man sich überlegt, was da für Rechenkapazitäten im Spiel sind – die könnten wir für die Informationstechnologie im Gesundheitsbereich auch gut gebrauchen", sagt er. Das, was der Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin mit dem EU-Projekt "IT Future of Medicine" (ITFoM) derzeit koordiniert, hat noch ganze andere Parallelen zu den Spielen am Bildschirm. Zum Beispiel kann man in der virtuellen Formel Eins den Ferrari gegen die Wand fahren, im flammenden Cockpit zu Tode kommen – und Sekunden später wieder an den Start gehen und es nochmal versuchen.

Lehrach und seine ITFoM-Kollegen aus 15 Ländern arbeiten allerdings statt an virtuellen Boliden an virtuellen Patienten: "Es ist doch besser", erklärt der aus Wien stammende Professor mit dem unverkennbaren Akzent seiner Heimatstadt, "einen Kranken auf der Suche nach der richtigen Therapie ein paar Mal im Computer sterben zu lassen als in Wirklichkeit."

Noch mehr Technik? | Wenn es um Leben und Tod geht, entscheiden mitunter Sekunden über den erfolgreichen Ausgang einer medizinischen Behandlung. Um die Gefahr von Fehlgriffen – etwa bei der Wahl eines Medikaments – zu verringern, könnte zukünftig noch mehr Technik zum Einsatz kommen: in Form eines virtuellen Patienten, der blitzschnell berechnet, ob ein Wirkstoff hilft – oder schadet.
ITFoM ist derzeit bei der Europäischen Union als eine von sechs möglichen "Flaggschiffinitiativen" im Bereich "Future and Emerging Technologies" in der Testphase, gefördert mit erst einmal 1,5 Millionen Euro. Der virtuelle, individuelle Patient ist das Kernstück des Vorhabens: Alle verfügbaren Patientendaten – von Alter, Blutgruppe, Allergien und Krankengeschichte über Blutwerte und bisher eingenommenen Medikamenten bis hin zu Tomografieaufnahmen und molekularen Analysen etwa eines Tumors – sollen zu jenem Kranken aus Bits und Bytes zusammengesetzt werden. Dazu kommen enzyklopädisches und ständig aktualisiertes Wissen über die menschliche Physiologie, biochemische Signal- und Stoffwechselwege, Studienergebnisse, Erfahrungen mit Therapien.

Mit Drag-and-drop zur Therapie

Der Arzt soll dann – ohne selbst jene elektronische Riesenversion der guten alten Patientenakte lesen oder gar komplett verstehen zu müssen – die Möglichkeit haben, quasi per Drag-and-drop in einer riesigen Datenbank Therapien an einem solchen elektronischen Pappkameraden auszuprobieren. Wenn er oder sie dann Sekundenbruchteile nach der Eingabe als fortgeschritten erkrankt oder gar verstorben gemeldet wird – wegen einer Medikamenteninteraktion etwa oder einer Mutation, bei der das Mittel oder der Mittel-Mix sinnlos ist –, kann der Arzt es nochmals mit einer anderen Strategie probieren. Idealerweise tut er das, bis die beste und am ehesten Erfolg versprechende Behandlung gefunden ist. Kombiniert mit dem individuell besten Rat hinsichtlich Lebensstil und Ernährung bekäme der reale Patient sie verordnet und würde – ebenfalls idealerweise – gesund oder zumindest mit weniger Beschwerden noch lange weiterleben.
Europaflagge

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Zusätzlich könnte jeder virtuell und real behandelte Patient die Datenlage insgesamt verbessern und damit angewandte medizinische und Grundlagenforschung weiter vorantreiben.

Die Mitglieder des derzeit etwa zwei Dutzend Forschungsinstitutionen und Unternehmen umfassenden Konsortiums glauben, mit ihrem Ansatz der jüngst auf Grund enormer Kosten und bislang kaum gehaltener Versprechen arg in die Kritik geratenen "personalisierten Medizin" endlich zum Durchbruch verhelfen zu können.

"Wenn solches 'Overselling' nötig ist, um Finanzierungen für derartige Projekte zu bekommen", so Jeantine Lunshof, Philosophin und Bioethikerin an der Freien Universität Amsterdam, dann würden die Bürger auch in Zukunft "enttäuscht werden". Doch dass ITFoM jetzt mit ebensolchen Versprechungen an den Start geht und große Hoffnungen weckt, liegt in der Natur der Sache, meint Hans Westerhoff von der University of Manchester: "Die EU hat Flaggschiffvorhaben gefordert, die ambitioniert und komplex sind und große Herausforderungen mit sich bringen", so der Niederländer. Er arbeitet mit seinem Team daran, die Vielzahl von Patientendaten aus den verschiedensten Fachgebieten und mit den verschiedensten Formaten – von Laborwerten über Genomdaten bis hin zu Tomografiebildern – zu integrieren und für komplexe Modellierungen nutzbar zu machen.

Verbesserter Wirkungsgrad

Zwar geben die Vordenker des Projekts wie Lehrach oder Westerhoff zu, dass die Herausforderungen und möglichen Hürden gewaltig und teilweise noch nicht absehbar sind. Doch eines ihrer Hauptargumente für ihre Vision einer "Zukunft der Medizin" mit informationstechnologischer Unterstützung ist, dass die Medizin der Gegenwart insgesamt alles andere als effizient und kostengünstig arbeitet – und oft auch nicht gesund macht. "Auf derzeit in milliardenteuren Verfahren zugelassene Medikamente wie zum Beispiel gegen Krebs sprechen vielleicht 20 bis 30 Prozent der Patienten an. Und manche vielleicht sinnvollen Mittel schaffen es gar nicht, weil sie zufällig an den falschen Patienten getestet werden", sagt Lehrach. Therapieerfolg sei oft Glückssache, wer Pech hat, sterbe, obwohl es für ihn oder sie vielleicht irgendwo doch die richtige Behandlung gegeben hätte: "Das ist nicht nur katastrophal für den Kranken, mir kann auch keiner sagen, dass hier das Geld sinnvoll eingesetzt wird."

Grund für das Nichtansprechen auf eine Therapie ist meist, dass das Medikamentenmolekül im erkrankten Gewebe nicht das krankheitsrelevante Molekül vorfindet, für das es bestimmt ist. Auch Interaktionen mit anderen Medikamenten – oder gar Komponenten aus dem täglichen Essen wie etwa einer Substanz aus Grapefruits – können die Wirkung verhindern oder zusätzlich krank machen. "Schon mit dem, was wir heute mit molekularer und sonstiger moderner Diagnostik können, vermögen wir meist besser zu sein als diese 20 oder 30 Prozent", betont Lehrach. Erst in diesem Jahr veröffentlichte Studienergebnisse scheinen das zu bestätigen, die etwa bei Krebspatienten bessere Überlebensraten als beim Hausarzt oder im Kreiskrankenhaus fanden, wenn sie an spezialisierten Zentren behandelt wurden.

Der berechnete Patient | Bis der virtuelle Kranke simuliert werden kann, sind noch viele Fragen zu klären – auch ethische und rechtliche.
Auch die höhere Kompetenz der Ärzte an solchen Einrichtungen könnte diese Befunde erklären – was für Kritiker der so genannten Apparatemedizin ein Argument für bessere Aus- und Weiterbildung von Menschen und nicht für mehr Maschineneinsatz ist. "Wir haben tatsächlich derzeit in der Medizin-IT eine Situation wie bei den Schachcomputern vor ein paar Jahren noch", schränkt Westerhoff ein: "Die besten Ärzte sind immer noch besser als die besten Computer, wenn es um einen Therapieplan geht. Das wird sich aber bald ändern." Ärzte müssen Kompetenzen abgeben

Die Ärzte, die auch zukünftig letztlich über eine Therapie entscheiden, aber an Kollege Computer und den virtuellen Simulanten doch einige Kompetenzen abtreten müssten, sind nur eine Gruppe von Akteuren, denen eine solche Zukunftsmedizin Umdenken abverlangen würde. Der Freiburger Gesundheitssystemforscher Bernhard Bührlen etwa spricht von einer Gesamtheit der "etablierten Leistungserbringer" – von den derzeitigen Marktbeherrschern bei Hard- und Software im Medizinbereich in jedem einzelnen Land über die Ärzte bis hin zu den Krankenkassen –, "die dabei auch viel zu verlieren hätten". Auch die Macht über die Daten würden die, die sie mit ihren Infrastrukturen generieren, sicher nicht gern aus der Hand geben, glaubt Bührlen: "Die Bürger, Versicherten, Patienten müssen aber die Macht über ihre Daten bekommen, um sie über die Grenzen von Einrichtungen und Sektoren hinweg denen geben zu können, die für die Patienten und aus Sicht der – gut von unabhängiger Seite beratenen – Patienten das Beste mit den Daten anfangen."

Bührlen glaubt, dass zwar eine entsprechende Cyber-Infrastruktur machbar, "verbessertes Management und Verarbeitung von Patientendaten realistisch" sei. Die größeren Ziele von der individualisierten Krankenbehandlung bis zur Prävention seien allerdings auf Grund der eingefahrenen Strukturen und etablierten Interessen schwer zu erreichen. "Wie man das machen will, wird in der Projektbeschreibung abgesehen von großspurigen Floskeln wie 'truly personalised health care' auch überhaupt nicht erwähnt", so Bührlen.

Ein Umdenken wäre auch bei den großen Arzneimittel-Zulassungsbehörden wie EMA in Europa und FDA in den USA notwendig, was "sicher eine der größten Hürden sein wird", so Westerhoff. Denn deren Richtschnur sind bisher große Studien, die die Sicherheit und Effektivität eines neuen, einzelnen Wirkstoffs nachweisen müssen – auch wenn dieser dann vielleicht nur 20 bis 30 Prozent der Patienten hilft. Die ITFoM-Vordenker dagegen wollen Einzelpatienten mit individuell errechneten Therapien behandeln. Ihr Konzept heißt auch nicht, jedem Individuum sein individuelles Einzelmedikament zu geben, denn "das ließe sich tatsächlich nicht finanzieren", sagt Lehrach. Stattdessen gilt es eine Gruppe von Substanzen so zu kombinieren, dass letztlich jeweils eine individuelle, optimale Behandlung herauskommt. Einige solcher Kombinationsmöglichkeiten haben es sogar schon durch Studien geschafft – allerdings meist nur ein Mix aus zwei Substanzen. Im ITFoM-Konzept wären aber meist viel komplexere und auch quantitativ variierende Mischungen nötig, oft mit Substanzen, die erst noch speziell in dieses Konzept passend gefunden werden müssten. Wie dafür Test- und Zulassungsverfahren aussehen könnten, weiß bislang niemand genau.

Auch Westerhoff gibt zu, dass die Zahl der Unbekannten jenseits des schon Erwähnten in der derzeitigen Version der ITFoM-Gleichung noch ziemlich hoch ist. "Es werden sich auch noch jede Menge neue Fragen ergeben, aber wir müssen das anschieben, damit sich etwas bewegt und wir diese Aspekte finden, damit wir uns dann um sie kümmern können."

Viele offene Fragen

Ein paar weitere wichtige Komplexe offener Fragen sind schon absehbar. So wissen Mediziner noch immer viel zu wenig über das Wechselspiel von Genen, Stoffwechselprozessen, Verhalten und sozialem Umfeld – was bedeutet, dass ein gegenwärtiger virtueller Simulant noch ein eher unzuverlässiges Modellsystem wäre. Und der Medizinanthropologe Jörg Niewöhner von der Berliner Humboldt-Universität sieht nicht nur in der Komplexität des Sieben-Milliarden-Einzelmenschen-Forschungsgegenstands eine Herausforderung, sondern auch in der Dynamik eines solchen Projekts mit gigantischer Komplexität.
Die Bürger, Versicherten, Patienten müssen aber die Macht über ihre Daten bekommen
(Bernhard Bührlen)
Solche Infrastrukturen seien weit mehr als nur Mittel zum Zweck, sondern entwickelten sich erfahrungsgemäß selbst zu Akteuren. Deshalb müsse man hier sicher begleitend untersuchen, wie etwa Vernetzungs-, Denk- und Diskussionsprozesse sich dadurch verändern, dass sie nun virtuell unterstützt werden. "Mit Sicherheit kann man sagen, dass nicht einfach Daten verfügbar werden und dadurch die medizinische Versorgung besser wird, der Prozess wird komplizierter", so Niewöhner, "und dabei haben wir Bedenken um Privatheit von medizinischen Daten, Recht auf Nichtwissen und anderes noch gar nicht angesprochen."

Gerade in Deutschland, wo selbst die Einführung einer elektronischen Patientenkarte mit den wichtigsten medizinischen Daten jedes Einzelnen weiter auf sich warten lässt, könnte Letzteres die Implementierung eines solchen Vorhabens ausbremsen. Die Amsterdamer Bioethikerin Lunshof meint, man werde in Zukunft wohl bereit sein müssen, "die Illusion absoluter Datensicherheit aufzugeben und das auch ganz klar der Öffentlichkeit zu kommunizieren, anstatt falsche Versprechen hinsichtlich Vertraulichkeit, Privatheit und Anonymität zu machen".

Lunshof ist selbst nicht bei ITFoM involviert, kennt aber viele der Akteure persönlich. Trotz aller Unwägbarkeiten und Unbekannten findet sie, ein "größer Denken" bei der EU sei im Gesundheitsbereich durchaus angezeigt. "Und wir sind an einem Punkt, wo informationstechnologisch angetriebene Medizin der logische und notwendige nächste Schritt ist", so die Forscherin. Für dieses spezielle Projekt hätten sich "ein paar der echten Pioniere auf diesem Gebiet zusammengefunden – darin steckt enormes Potenzial, und diese Leute sind wirklich angetrieben von der Idee, ihre Vision verwirklicht zu sehen".

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