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News: Die gläserne Lunge

Eine einzelne Zelle unter dem Mikroskop erinnert an einen wassergefüllten Ballon - elastisch und druckempfindlich. Doch die Ähnlichkeit trügt. Denn neuen Untersuchungen zufolge verhalten sich Zellen bei mechanischen Verformungen eher wie geschmolzenes Glas.
Eine Zelle hat einerseits feste Eigenschaften, um mechanischen Einwirkungen zu widerstehen, andererseits aber auch flüssige, um sich zusammenziehen und teilen zu können. Deshalb beschreiben Wissenschaftler den Zustand einer Zelle oft als Mischung aus fest und gelartig. Der Übergang zwischen diesen beiden Zuständen wird deutlich, wenn man abwechselnd an einer Zelle zieht und sie wieder loslässt – sie sozusagen langsam schüttelt. Bei einer geringen Schüttelfrequenz gibt die Zelle nach und ist elastisch, bei einer höheren Frequenz versteift sie sich jedoch plötzlich.

Um zu untersuchen, wie menschliche Zellen auf solches Schütteln reagieren, befestigten Wissenschaftler um Ben Fabry von der Harvard School of Public Health fünf Mikrometer große ferrimagnatische Perlen an glatten Muskelzellen der Lunge und legten ein magnetisches Wechselfeld an. Dadurch begannen die Perlen zu rotieren und an den Zellmembranen zu ziehen. Eine CCD-Kamera nahm diese Bewegung auf, und ein Computer berechnete aus den Bildern die Positionen der Perlen auf fünf Nanometer genau. Nun veränderten die Forscher die Schüttelfrequenz. Bei einem langsamen Schütteln verhielten sich die Zellen wie erwartet. Bei einer erhöhten Frequenz wurden sie jedoch nicht plötzlich steif, sondern verhärteten sich nur langsam. Dieses Verhalten widerspricht dem bisherigen Modell und ähnelt vielmehr dem weicher glasartiger Materialien.

Bei diesen Materialien gibt es keine fest definierte Schmelz- oder Erstarrungstemperatur, sondern einen Übergangsbereich, in dem sich keine Phasenumwandlung zeigt. Dadurch sind die Atome und Moleküle nicht in einem Kristallgitter angeordnet, sondern eher kreuz und quer wie in einer Flüssigkeit. Das Verhalten glasartiger Materialien hängt offenbar nicht von den Eigenschaften der jeweiligen Atome oder Moleküle ab, sondern ist allen Stoffen gemeinsam, die bestimmte Merkmale erfüllen. Dazu zählt, dass sie aus zahlreichen diskreten Teilchen bestehen, die nicht speziell angeordnet sind und nur schwach miteinander wechselwirken.

Fabry und seine Kollegen möchten deshalb den Zustand der Zellen nicht mehr als Mischung zwischen fest und gelartig beschreiben, sondern als glasartig. Obwohl sie nur zwei bestimmte Zellenarten der Lunge untersucht haben, gehen sie davon aus, dass ihr Modell auch für andere Zellen gilt. Die Forschungsergebnisse könnten außerdem helfen, Erkrankungen wie Asthma besser zu verstehen, da diese mit den mechanischen Eigenschaften der Zellen in der Lunge oder den Atemwegen zusammenhängen. Peter Sollich vom King's College ist erfreut, dass die Eigenschaften glasartiger Materialien auch auf biologischen Fragestellungen übertragen werden können, fordert jedoch, dass noch andere Eigenschaften der Zellen untersucht werden.

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