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Chemische Kampfstoffe: Chemiewaffen sind wieder eine globale Gefahr

Fachleute warnen vor der nächsten Eskalation in der Ukraine: Chemiewaffen. Ihr Einsatz wäre die Fortsetzung eines Trends. Denn das Verbot von Sarin & Co ist immer schwerer umzusetzen. Experten für chemische Waffen fürchten daher, dass chemische Kriegführung bald häufiger wird.
Soldaten der Bundeswehr in ABC-Schutzkleidung

In der Ukraine scheint eine weitere Eskalationsstufe bevorzustehen. Russland hätte in Mariupol womöglich chemische Waffen eingesetzt, meldeten ukrainische Streitkräfte. Fachleute fürchten, dass bei der Erstürmung des noch immer umkämpften Azovstal-Geländes chemische Kampfstoffe zum Einsatz kommen könnten. Auch andere Staaten nehmen die Gefahr ernst. Der japanische Verteidigungsminister Nobuo Kishi erklärte am 19. April, Japan werde Gasmasken und Schutzkleidung gegen chemische Waffen an die Ukraine liefern. Man komme damit einer Anfrage der ukrainischen Regierung nach. Kommt der Gaskrieg zurück nach Europa?

Eigentlich sollte es gar keine chemischen Kampfstoffe mehr geben. Das jedenfalls war das Ziel der vor fast genau 25 Jahren, am 29. April 1997, in Kraft getretenen Chemiewaffenkonvention (CWC), die Entwicklung, Herstellung, Besitz und Einsatz chemischer Waffen verbietet. Bis heute haben 193 Staaten die Übereinkunft unterzeichnet, darunter auch Russland und die Ukraine. Tatsächlich allerdings gab es im vergangenen Jahrzehnt gleich mehrere Vorfälle mit chemischen Kampfstoffen. Im Syrischen Bürgerkrieg seit 2012 setzte die Regierung mutmaßlich das Nervengas Sarin ein. Auch in der Ukraine kamen 2014 beim Kampf um den Flughafen der Stadt Donezk angeblich chemische Kampfstoffe zum Einsatz.

Hinzu kamen Anschläge mit Nervengiften. 2017 wurde Kim Jong-nam, der Halbbruder des Koreanischen Herrschers Kim Jong-un, in Malaysia mit dem Nervengas VX getötet. 2018 vergifteten vermutlich russische Agenten in Salisbury den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Yulia mit einem Nowitschok-Kampfstoff, im Jahr 2020 den Putin-Kritiker Alexej Nawalny.

»Dass niemand für diese Vorfälle zur Verantwortung gezogen wird, erodiert und schwächt die internationalen Normen gegen Chemiewaffen«, schrieb im April 2022 Tuan H. Nguyen vom Center for Global Security Research des Lawrence Livermore National Laboratory in einem Kommentar für die Zeitschrift »Science«. Fachleute fürchten, dass das Verbot dadurch an Kraft verliert – und chemische Kampfstoffe auf die Schlachtfelder zurückkehren.

Nervengas & Co: Die chemischen Kampfstoffe

Chemische Waffen fallen grob in vier Kategorien: die berüchtigten Nervengase, die verhindern, dass Reize im Nervensystem weitergeleitet werden, sowie Senfgase, die Gewebe zum Beispiel der Atemwege angreifen. Der rechtliche Status dieser »klassischen« chemischen Kampfstoffe ist eindeutig, kein Land darf sie laut CWC herstellen, besitzen oder einsetzen.

Daneben gibt es noch Reizstoffe wie Tränengas. Sie zu produzieren und zu besitzen ist Staaten nicht verboten. Man darf sie laut Chemiewaffenkonvention zwar nicht gegen feindliche Soldaten, wohl aber gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Tatsächlich setzte das Deutsche Reich 1915 zuerst auf diese Art von Chemiewaffen – allerdings scheiterte das Experiment am Wetter.

Chemische Kampfstoffe | Vertreter der vier Klassen chemischer Kampfstoffe. Phosgen ist eine Industriechemikalie, die man zum Beispiel für die Herstellung bestimmter Kunststoffe verwendet. CS-Gas reizt die Schleimhäute. In vielen Ländern gehört es zur Ausrüstung der Polizei, sein Einsatz im Krieg ist verboten. Sarin ist ein klassisches Nervengas, die phosphorhaltige Gruppe ist typisch für diese Substanzklasse, zum Beispiel auch VX und die Nowitschok-Kampfstoffe. Senfgas bildet ein reaktives Zwischenprodukt und beschädigt die DNA. Außerdem wird dabei Salzsäure frei, die ebenfalls reizend wirkt.

Die letzte Klasse chemischer Kampfstoffe ist auch die am schwersten zu kontrollierende. Hochgiftige Chemikalien, die man in großen Mengen für zivile Anwendungen herstellt, kann man als chemische Kampfstoffe nutzen. Tatsächlich waren die ersten im großen Stil eingesetzten Chemiewaffen solche zweckentfremdete Industriechemikalien, nämlich Chlor und Phosgen. Mit diesen versuchten die Krieg führenden Parteien im Ersten Weltkrieg, die stark befestigten Grabensysteme an der Westfront auszuräuchern.

Das gelang aber nicht. Dafür lösten die Bilder von den schrecklichen Folgen weltweit Entsetzen aus. Unter dem Eindruck der Gasangriffe im Ersten Weltkrieg unterzeichneten 36 Staaten im Jahr 1925 das Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Waffen. Seither gilt international eine Art Chemiewaffen-Tabu – das aber immer wieder gebrochen wurde. Zum Beispiel setzte die irakische Armee von 1980 bis 1988 mehr als 300-mal chemische Kampfstoffe, darunter Nervengase, gegen den Iran ein.

Wie Chemiewaffen wirken

Während Substanzen wie Chlor oder Phosgen die Atemwege direkt angreifen und durch die Schädigung des Gewebes Lungenödeme verursachen können, beeinträchtigen die weit giftigeren Nervengase die Weitergabe von Signalen zwischen Nervenzellen. Die meisten dieser Substanzen, zum Beispiel Sarin, VX oder auch die Nowitschok-Kampfstoffe, sind Phosphorverbindungen. Sie hemmen das Enzym Azetylcholinesterase, das den Signalstoff Azetylcholin abbaut.

Wenn das Enzym nicht mehr arbeitet, reichert sich Azetylcholin an den Synapsen an, so dass die Nerven dauerhaft erregt bleiben. Dadurch bleiben Muskeln angespannt, was zu Atemlähmung oder Herzstillstand führt. Anders als Chlor und Phosgen nimmt man diese Stoffe auch über die Haut auf.

Als Senfgas wiederum bezeichnet man eine Klasse von Stoffen – meistens Flüssigkeiten –, die das Erbgut angreifen. Sie bilden sehr reaktive Zwischenprodukte, die chemisch an DNA binden. Die Zellen sterben ab, und betroffene Gewebe bilden Blasen, ähnlich wie bei Verbrennungen.

Neben den akuten Folgen der Vergiftungen verursachen chemische Kampfstoffe eine Reihe von ernsten Langzeitschäden. Wer Gase wie Chlor oder Phosgen einatmet, behält unter Umständen lebenslange Lungenschäden zurück; ein großer Teil der Betroffenen erholt sich jedoch. Senfgas dagegen schädigt das Erbgut und fördert Krebs, besonders in den Atemwegen. Außerdem treten für DNA-Schäden typische Veränderungen der Hautpigmente auf.

Hochgiftig, doch wenig effektiv

Nervengifte erzeugen in Mensch und Tier mindestens ein Jahr anhaltende neuromuskuläre und psychomotorische Störungen, Gedächtnisprobleme, verändertes Verhalten und eine Neigung zu Krampfanfällen. Moderne Langzeitstudien über die Folgen von chemischen Waffen gibt es allerdings kaum, weil die Stoffe nur sehr selten auf dem Schlachtfeld eingesetzt wurden. Man greift stattdessen zum Beispiel auf Daten von Industrieunfällen mit ähnlichen Stoffen zurück oder im Fall der Nervengase auf Vergiftungen mit chemisch ähnlichen Pestiziden.

Allerdings sind chemische Kampfstoffe als Waffen keineswegs so effektiv, wie die verheerenden Folgen einer Vergiftung damit nahelegen. Im Ersten Weltkrieg erwies sich die chemische Kriegführung als militärisch nahezu bedeutungslos. Lediglich etwa ein Prozent der im Kampf Getöteten starb an chemischen Kampfstoffen. Ein Grund dafür ist, dass die Krieg führenden Staaten recht schnell effektive Gegenmaßnahmen wie Gasmasken entwickelten, die die Auswirkungen der Angriffe reduzierten.

Gasangriff an der Westfront | Diese Luftaufnahme von 1916 zeigt einen deutschen Angriff mit Chlorgas auf französische Stellungen in der Schlacht von Hulluch. Solche konzentrierten Angriffe in offenem Gelände erforderten große Mengen chemischer Kampfstoffe, sie erwiesen sich außerdem als wenig effektiv.

Deswegen sei auch im Ukraine-Krieg nicht zu erwarten, dass chemische Kampfstoffe eine nennenswerte militärische Rolle spielen, sagen Fachleute aus der ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr, die nicht genannt werden möchten. In einem Kampf zwischen professionellen Armeen, wie derzeit in der Ukraine, gelte der militärische Nutzen chemischer Kampfstoffe als eher gering, Schutzausrüstung wie Gasmasken, aber auch Spürpanzer gehören zum Standardrepertoire moderner Armeen. Die meisten Typen gepanzerter Fahrzeuge seien ohnehin vor chemischen Kampfstoffen geschützt.

Gegen eine modern ausgestattete, gut ausgebildete Armee seien konventionelle Waffen deswegen um ein Vielfaches effektiver, erklärt auch der Historiker Bret C. Devereaux von der University of North Carolina. »Es ist viel einfacher, sich vor chemischen Kampfstoffen zu schützen als vor der gleichen Menge Sprengstoff«, schreibt er in seinem Blog. Das sei vermutlich auch der Grund, weshalb chemische Waffen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs praktisch nicht zum Einsatz kamen – obwohl alle Kriegsparteien zehntausende Tonnen chemischer Kampfstoffe vorrätig hatten.

Ein Einsatz in großen Mengen ist unwahrscheinlich

Hinzu kommt, dass chemische Waffen nur schlecht zu den Anforderungen der heutigen, sehr mobilen Kriegführung passen. Chemische Kampfstoffe wirken relativ langsam und schränken auch die eigene Bewegung ein, so dass sie schnelle taktische Manöver eher erschweren. »Dieses Problem zeigte sich sogar schon im Ersten Weltkrieg«, erklärt Devereaux. »Selbst wenn dein Chemieangriff die feindliche Front durchbricht, ist der Rückstand des Angriffs nun ein Hindernis für dich selbst.«

Nicht zuletzt sind nach Angaben der Bundeswehr-Experten die für einen Angriff nötigen Mengen an Munition mit chemischen Kampfstoffen vermutlich nicht mehr vorhanden. Um chemische Waffen in einer offenen Feldschlacht, wie sie derzeit im Donbass geführt wird, erfolgreich einzusetzen, braucht man sehr viel davon. »Artillerieangriffe mit Chemiewaffen im Ersten Weltkrieg erforderten tausende und zehntausende Granaten«, schreibt der Historiker Devereaux.

»Es ist viel einfacher, sich vor chemischen Kampfstoffen zu schützen als vor der gleichen Menge Sprengstoff«Bret C. Devereaux, University of North Carolina

Russland und die Ukraine jedoch haben beide die Chemiewaffenkonvention unterzeichnet – und alle ihre Vorräte an Kampfstoffen gemeldet und zerstört. Russland zum Beispiel hat seine ursprünglich rund 40 000 Tonnen chemische Kampfstoffe 2017 als vernichtet deklariert. Fachleute vermuten zwar, dass Russland weiterhin chemische Waffen besitzt – aber wohl nicht in den für die Kriegführung gegen eine Armee nötigen Mengen.

Fachleute befürchten allerdings, dass Russland chemische Kampfstoffe als Terrorwaffe gegen die Zivilbevölkerung einsetzen könnte – oder es schon getan hat. Ukrainische Quellen beschuldigen russische Truppen, in Mariupol einen bislang unbekannten Stoff freigesetzt zu haben. Bereits im Syrischen Bürgerkrieg, an dem russische Einheiten beteiligt waren, gab es chemische Angriffe auf von Rebellen gehaltene Städte.

Wie man sich vor chemischen Kampfstoffen schützt

Auch ohne Schutzausrüstung kann man sich in gewissem Maß vor chemischen Waffen schützen. Hinweise, dass man angegriffen wird, liefern zum Beispiel ungewöhnliche Gerüche wie nach Mandeln oder Heu, die für bestimmte Kampfstoffe charakteristisch sind und die man schon in sehr geringen Konzentrationen wahrnimmt. Hinweise auf mögliche chemische Waffen sind auch tote Pflanzen und Tiere sowie Menschen mit Vergiftungssymptomen.

Die größte Gefahr besteht direkt nach dem Angriff – die meisten chemischen Kampfstoffe verflüchtigen sich binnen weniger Stunden. Den besten Schutz vor chemischen Waffen bieten geschlossene Gebäude, schreibt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) im »Informationsblatt Chemische Kampfstoffe«. Ideal seien fensterlose Räume in höheren Stockwerken, denn die meisten giftigen Gase sind schwerer als Luft.

Um sich zu schützen, kann man zusätzlich Türritzen mit Klebeband abdichten. Hat man die Möglichkeit nicht, sollte man den ganzen Körper mit Kleidung schützen und Mund und Nase bedecken, um keine mit Kampfstoffen kontaminierten Stäube einzuatmen, rät das BBK.

Attentat mit Nervengift | In einem Einkaufszentrum in Salisbury entsorgen Fachleute nach dem Attentat auf die Skripals möglicherweise mit einem Nowitschok-Kampfstoff kontaminiertes Material. Der Anschlag gehört zu einer Serie von Ereignissen im Zusammenhang mit chemischen Kampfstoffen, die nach Ansicht von Chemiewaffenexperten das Verbot dieser Waffen aushöhlt.

Wenn die Gefahr vorbei ist, müssen Oberbekleidung und Maske entsorgt werden. Ist man bekanntermaßen oder wahrscheinlich mit einem chemischen Kampfstoff in Berührung gekommen, sollte man sich mit Seifenwasser oder verdünnter Chlorbleiche abwaschen. Personen, die mit chemischen Kampfstoffen in Kontakt gekommen sind, benötigten so schnell wie möglich medizinische Hilfe, schreibt das BBK weiter. Speziell gegen Nervengifte müsse ein Gegengift verabreicht werden.

Wie ein zukünftiger Gaskrieg verhindert werden soll

Fachleute vermuten aus mehreren Gründen, dass chemische Waffen in Zukunft wieder häufiger eingesetzt werden. Zwischenstaatliche Kriege werden seltener, während Bürgerkriege und Rebellionen seit der Jahrtausendwende stark zugenommen haben. Dadurch steigt einerseits das Risiko, dass die vorhandenen chemischen Kampfstoffe in die Hände nichtstaatlicher Gruppen fallen.

Andererseits fallen in solchen Konflikten wichtige Faktoren weg, die chemische Kampfstoffe für moderne Armeen uninteressant machen. Milizen und meist auch die Armeen instabiler Staaten haben nicht das nötige Training und die Feuerkraft für effektive konventionelle Kriegsführung. Ihre Einheiten sind weniger beweglich, und sie sind für effektiven ABC-Schutz nicht ausreichend ausgebildet und ausgestattet.

Gleichzeitig machen es gleich mehrere Faktoren schwieriger, das in der Chemiewaffenkonvention festgeschriebene Verbot in der Praxis zu überwachen. Die Chemiewaffenkonvention sieht mehrere Instrumente vor, mit denen verhindert werden soll, dass Staaten heimlich chemische Kampfstoffe herstellen. Zum einen sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, den Handel mit dazu geeigneten Chemikalien und Geräten zu überwachen. Zum anderen inspiziert die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) Anlagen, die für Chemiewaffen nötige Chemikalien herstellen oder verwenden – oder im Verdacht stehen, chemische Kampfstoffe zu produzieren.

Es ist schlicht unmöglich, alle Geräte und Stoffe zu verbieten, die man für chemische Waffen braucht. Denn die meisten Anlagen und Chemikalien, mit denen man chemische Kampfstoffe herstellen kann, haben auch legitime Anwendungen. So ist zum Beispiel der Stoff DMMP Ausgangsstoff für die Herstellung der Nervengifte Sarin und Soman – daneben aber auch ein gebräuchliches Flammschutzmittel. Thiodiglycol, aus dem man direkt Senfgas herstellt, kommt auch beim Färben von Textilien zum Einsatz.

Allerdings gibt es einige Schlüsselelemente, mit denen man mögliche Verstöße gegen das Verbot aufspüren kann. Man braucht besondere Reaktoren und spezialisierte Sicherheits- und Reinigungstechnik, um mit den aggressiven und hochgiftigen Chemikalien sicher zu arbeiten. So spezialisierte Industrieanlagen sind recht einfach nachzuverfolgen – ebenso wie eine Reihe von Chemikalien, die auch oder fast ausschließlich zur Herstellung von chemischen Kampfstoffen dienen.

Chemiewaffen werden immer schwieriger zu überwachen

Deswegen reichte es bisher, eine relativ begrenzte Liste von Stoffen und Geräten im Blick zu behalten. Außerdem kontrolliert die OPCW durch Inspektionen, ob die Vorgaben der Konvention eingehalten werden. Die Anlagen, die Chemiewaffen herstellen können, waren bisher sehr groß und aufwändig, und Fachleute der OPCW können sie an den spezialisierten Einrichtungen zum Umgang mit aggressiven und hochgiftigen Chemikalien erkennen.

Doch Fortschritte in Chemie und Technik machen diese Art der Kontrolle zunehmend schwieriger. »In den vergangenen Jahren sind politische Positionen und Strukturen in Frage gestellt worden, die uns seit Jahrzehnten gute Dienste geleistet haben«, schrieb 2018 der norwegische Chemiker Leiv K. Sydnes, Vorsitzender einer Internationalen Arbeitsgruppe, die die Auswirkungen des wissenschaftlichen Fortschritte auf die CWC bewerten sollte, in einem Kommentar in »Nature«.

»Wir brauchen eine neue Mentalität«Leiv K. Sydnes, Universität Bergen

So gibt es jetzt Verfahren, die weniger aufwändige Installationen erfordern – oder gar Synthesewege, die ohne kontrollierte Chemikalien auskommen. Gleichzeitig wird es durch die wirtschaftliche Entwicklung vieler Schwellenländer immer einfacher, Dual-Use-Produkte aus verschiedenen Ländern zu beziehen. »Viele tödliche Komponenten sind für professionelle Chemiker einfach herzustellen, wenn sie Zugang zu den Materialien haben«, schreibt Sydnes. Er fordert, den Handel damit genauer zu überwachen – und Chemikerinnen und Chemiker für die Gefahren zu sensibilisieren. »Wir brauchen eine neue Mentalität.«

Inzwischen gibt es neue Typen von Produktionsanlagen, die ohne große, spezialisierte Reaktoren und Schutztechnik auskommen. Gefährliche Abfälle und Nebenprodukte entstehen dank modernerer Verfahren nur in kleinen Mengen, so dass die Fabriken auf den ersten Blick aussehen wie normale Chemieanlagen.

Neue Techniken erleichtern auch die Forschung an neuen chemischen Waffen. Im März 2022 demonstrierte eine Arbeitsgruppe, dass ein Maschinenlern-Algorithmus nicht nur potenzielle neue Medikamente finden kann, sondern auch extrem giftige neue Kampfstoffe. Screening-Methoden der Industrie könnten zum Beispiel eingesetzt werden, um Stoffe zu finden, die so tödlich sind wie Sarin, aber zu einer anderen Stoffklasse gehören. Solche Stoffe könnte man deswegen mit anderen, womöglich völlig unverdächtigen Chemikalien und Geräten herstellen.

Moderne Technik macht den Nachweis schwerer – und leichter

Nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass sich neue Kampfstoffe nicht identifizieren lassen – und ihr Einsatz zum Beispiel als Terrorwaffe nicht nachweisbar ist. Wenn der Verdacht auf Einsatz einer chemischen Waffe besteht, nehmen idealerweise Fachleute der OPCW Proben vom Ort des Geschehens und – sofern möglich – von Blut und Gewebe möglicher Opfer. Der ursprüngliche Kampfstoff hat sich dann längst zersetzt, aber seine Abbauprodukte sind weiter in den Proben nachweisbar.

Chemiewaffen nachweisen | Während der UN-Untersuchung der angeblichen Giftgasangriffe in Syrien nimmt ein Mitarbeiter Bodenproben in der Stadt Zamalka. Dank hochsensibler Analyseverfahren lassen sich auch lange nach einem Angriff mit chemischen Kampfstoffen verräterische Abbauprodukte in der Umwelt nachweisen.

Man konzentriert sich bei der Analyse auf die primären Abbauprodukte, also jene Stoffe, die direkt beim Zerfall des Kampfstoffs entstehen. Bei Sarin ist das zum Beispiel das Molekül Isopropylmethylphosphonat. Um diese Stoffe zu finden, reichert man sie aus den Proben an und analysiert sie per Massenspektrometrie. Die gewonnenen Daten vergleicht man mit denen bekannter Kampfstoffe.

Mit Hilfe dieses Verfahrens lassen sich die Nervengase nicht nur untereinander sicher unterscheiden, sondern auch von den vielen chemisch sehr ähnlichen Pestiziden. Komplizierter wird es allerdings, wenn man auf ein bisher unbekanntes Molekül stößt, zu dem es keine Vergleichsdaten gibt. Ein Angriff mit völlig neuen, bisher unbekannten Chemiewaffen ließe sich womöglich nicht sicher nachweisen – und damit auch nicht ahnden.

Andere technische Fortschritte wiederum kommen jedoch der Kontrolle chemischer Kampfstoffe entgegen. Moderne Detektoren sind kleiner und billiger geworden und Analyseverfahren empfindlicher. Dadurch kann man heute auch winzigste Spuren eines Stoffs in der Umwelt nachweisen und unbekannte Moleküle identifizieren. Dadurch lässt sich ein Chemiewaffeneinsatz möglicherweise belegen, selbst wenn der Tatort erst nach Wochen oder Monaten zugänglich ist oder der Kampfstoff bisher unbekannt war.

Die vielleicht wichtigste Veränderung aber sind moderne Kommunikationstechniken, die das Geschehen im Kriegsgebiet nahezu in Echtzeit dokumentieren. Satellitenfotos und Handybilder können handfeste Belege für Angriffe mit Chemiewaffen liefern, ohne dass man auf die Ergebnisse aufwändiger Analysen warten muss. Doch vor allem könnten solche über das Internet verbreiteten Aufnahmen das gleiche weltweite Entsetzen hervorrufen wie die Folgen der Gasangriffe im Ersten Weltkrieg – und damit auf den Angreifer zurückfallen.

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