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Digitale Zwillinge: Olympische Schwimmer könnten dank neuer Technologie Rekorde brechen

Bei den Olympischen Spielen werden einige Schwimmerinnen und Schwimmer erstmals von ihrem digitalen Zwilling angeleitet. Diese helfen den Sportlern, ihre Technik deutlich zu verbessern.
Ein digitaler Mensch unter Wasser
Mit Hilfe von Sensoren und den aufgezeichneten Daten, lässt sich für jeden Schwimmer ein digitaler Zwilling erstellen.

Ende Juli 2024 richten sich alle Augen auf die schnellsten Schwimmerinnen und Schwimmer der Welt. Sie springen bei den Olympischen Spielen ins Schwimmbecken in der »Paris La Défense Arena«. Für sie geht an diesen Tagen ein Traum in Erfüllung, für den sie hart trainiert haben. Einige von ihnen sogar auf nie dagewesene Weise.

Pro Schwimmdisziplin qualifizierten sich vorab 60 bis 80 Athletinnen und Athleten für die Olympiatrials der Vereinigten Staaten, und nur die besten vier von ihnen – zwei Männer und zwei Frauen – wurden in die Olympiamannschaft berufen. Oft entscheiden Hundertstelsekunden über den Sieg.

Da stellt sich die Frage, wie die Trainer ihre Schützlinge am besten vorbereiten können. Sollen sie allen beibringen, genau wie die US-Schwimmstars Katie Ledecky und Michael Phelps zu schwimmen? Sicher nicht. Denn Schwimmerinnen und Schwimmer haben unterschiedliche Körperformen und Körpergrößen und damit einhergehende Stärken und Schwächen. Es gibt keine einfache, allgemein gültige Anleitung, um Olympioniken zum Sieg zu verhelfen. Individuelle Lösungen sind gefragt.

Dabei helfen Mathematik, Physik und Technik, drei Wissenschaften, die den Schwimmsport in den letzten Jahren revolutioniert haben. Denn die Frage, wie sich ein Athlet bestmöglich durch das Wasser bewegen kann, entspricht einem komplexen mathematischen Problem. Indem man dieses löst, können die Sportlerinnen und Sportler nahezu Perfektion erreichen. Dank fortschrittlicher Sensoren lassen sich diese Ideen nun umsetzen – und die Ergebnisse sind beeindruckend.

Die newtonschen Gesetze beschreiben nicht nur die Bahnen der Planeten, sondern auch die eines Schwimmers. Wenn dieser in ein Becken eintaucht und sich wellenförmig vorwärtsbewegt, geben die physikalischen Gesetze an, wie stark er durch die entstehenden Vortriebskräfte beschleunigt wird.

Bei der olympischen Disziplin 50 Meter Freistil versuchen acht Schwimmer, als Erster am Ende der Bahn anzuschlagen. Das Rennen ist kein Wettkampf zwischen den Athleten, sondern ein individueller Kampf gegen die Trägheit (erstes newtonsches Gesetz) und den Luftwiderstand (zweites newtonsches Gesetz). Die Schwimmer müssen Kräfte aufwenden (drittes newtonsches Gesetz), um ihr Ziel zu erreichen.

Ein digitaler Zwilling als Begleiter

Bei den Sommerspielen 2024 werden erstmals neun olympische Schwimmer von einem digitalen Zwilling begleitet. Seit 2015 rüsten Forschungsteams der Emory University und der University of Virginia unter der Leitung von Mathematiker Ken Ono die Athletinnen und Athleten mit inertialen Messeinheiten (IMU) aus, die Beschleunigung, Ausrichtung und Kräfte des Körpers aufzeichnen. Während herkömmliche Videokameras 24 Bilder pro Sekunde aufzeichnen, erfassen diese Sensoren 512 Informationen pro Sekunde. Die Schwimmer tragen die Sensoren am Handgelenk, Fußgelenk und am Rücken. Die Geräte registrieren, wie sich jede noch so kleine Bewegung auf ihre Beschleunigung auswirkt.

Einige Sensoren messen zum Beispiel die Kraft der Hände. Die Hightech-Armbänder zeigen den Druckunterschied zwischen Handfläche und Handkante an und geben so Auskunft über die Kraftrichtung. Das ist wichtig, denn alle Kräfte, die in eine andere Richtung als nach vorne wirken, sind verschwendet. Was sich früher nur durch genaues Beobachten der Schwimmerinnen und Schwimmer beurteilen ließ, kann man jetzt exakt in Zahlen fassen. Wir können nun Tabellen und Diagramme erstellen, welche die Verteilung der Kräfte in alle Richtungen aufzeigen.

Mit diesen gesammelten Daten erstellen wir den digitalen Zwilling eines Sportlers: ein virtuelles Computermodell der Person, das ihre Bewegungen bis auf die Millisekunde genau festhält. Inzwischen haben wir eine umfangreiche Datenbank mit digitalen Zwillingen von mehr als 100 der besten US-Schwimmer aufgebaut. Damit können wir Empfehlungen zur Verbesserung der Schwimmtechnik geben, neue Wettkampfstrategien vorschlagen und langfristige Ziele setzen.

Wenn die Sensoren einen Mangel in der Schwimmtechnik erkennen, kann ein Trainer sofort eingreifen und geeignete Übungen vorschlagen, um die Schwachstelle zu beheben. Der digitale Zwilling quantifiziert sogar den Schweregrad eines Fehlers. Mit Hilfe der newtonschen Gleichungen können wir genau vorhersagen, wie viel schneller ein Sportler durch die Veränderung werden kann.

Typische Schwachstellen der Athleten sind eine falsche Kopfhaltung, zu tief liegende Beine, eine unausgewogene Körperrotation und eine ineffiziente Atmung. Das zeigt sich zum Beispiel in der Unterwassergleitphase beim Brustschwimmen. Hier geht es beim ersten Eintauchen und beim Abstoßen vom Beckenrand nach jeder Wende darum, möglichst wenig Geschwindigkeit zu verlieren. Man könnte meinen, dass es in dieser Phase kaum Verbesserungsmöglichkeiten gibt, da man scheinbar nichts tut. Doch dieser Vorgang kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Im November 2020 haben wir einen digitalen Zwilling von Katherine Douglass erstellt, die damals im Schwimmteam ihrer Universität war. Obwohl 200 Meter Brustschwimmen nicht auf Douglass' Wettkampfliste stand (ihre Zeiten waren nicht gut genug), konnten wir anhand ihres digitalen Zwillings erkennen, dass sie sowohl die physischen Fähigkeiten als auch die aerobe Kapazität besaß, um in dieser Disziplin auf Weltklasseniveau zu schwimmen. Also führten wir Computersimulationen durch und erstellten eine Liste möglicher Ziele, damit sie sich in diesem Bereich verbessern konnte.

Zwei Schwimmerinnen im Vergleich | Die Aufnahmen zeigen die Schwimmerinnen Lilly King (oben), die in der Vergangenheit die Goldmedaille bei Olympia gewonnen hat, sowie Katherine Douglass.

Es stellte sich heraus, dass die richtige Kopfhaltung der Schlüssel zum Erfolg war. Douglass neigte ihren Kopf beim Schwimmen zu weit nach unten, was zusätzliche Turbulenzen und Wasserwiderstand verursachte. Durch ihren digitalen Zwilling konnten wir die Auswirkungen quantifizieren. Mit unseren Gleichungen konnten wir vorhersagen, dass sie durch eine bessere Körperhaltung 0,1 bis 0,15 Sekunden pro Gleitperiode gewinnen würde. Da bei 200 Meter Brustschwimmen vier solcher Gleitphasen auftreten, könnte Douglass theoretisch 0,4 bis 0,6 Sekunden einsparen.

Und tatsächlich: Nach drei Jahren hatte Douglass ihre Zeit dank der verbesserten Technik um 0,44 Sekunden verkürzt. Wenige Monate später, im Jahr 2023, brach sie den US-Rekord über 200 Meter Brust mit einer Zeit von zwei Minuten und 19,3 Sekunden – und unterbot damit den bisherigen Rekord aus dem Jahr 2012 um 0,29 Sekunden.

Die Formel zum Erfolg

Der digitale Zwilling kann auch Tempoänderungen oder das Timing von Körperbewegungen vorschlagen und bestimmte Atemmuster empfehlen. Durch virtuelles Experimentieren mit dem digitalen Doppelgänger eines Athleten können wir verschiedene Szenarien durchspielen und den optimalen Trainingsplan ermitteln.

Dabei zeigt sich: Keine Strategie gleicht der anderen. Das verdeutlicht ein Experiment, bei dem wir die Technik von zwei Brustschwimmerinnen mit Hilfe ihrer digitalen Zwillinge verbessert haben. Dazu untersuchten wir die Phase, in der sich die Schwimmerinnen von der Wand abstoßen, unter Wasser gleiten und dann einen Grätschbeinschlag ausführen. Wir haben die Beschleunigungen grafisch dargestellt und festgestellt, dass eine der Schwimmerinnen eine außergewöhnliche Stromlinienform hat, die es ihr ermöglicht, fast ohne Verzögerung zu gleiten. Im Unterschied zur anderen Schwimmerin hatte sie jedoch einen schwachen Grätschbeinschlag, den sie fast eine Sekunde früher ausführte. Aus strategischer Sicht könnte sie also ihren Gleitvorteil besser ausnutzen, indem sie den Beinschlag verzögert. Die andere Schwimmerin hingegen wurde in der Gleitphase deutlich langsamer. Daher wäre es sinnvoll, den Beinschlag so früh wie möglich auszuführen, um ihren Gleitnachteil auszugleichen. In mehreren Simulationen konnten wir diese Strategien bestätigen, das optimale Timing der einzelnen Beinschläge ermitteln und die zu erwartende Zeitersparnis abschätzen.

Digitale Zwillinge im Vergleich | Die Grafik zeigt die Schwimmstile der digitalen Zwillinge zweier Schwimmerinnen.

Mit diesem Ansatz lassen sich ehrgeizige Ziele formulieren, die sich nach Monaten oder Jahren intensiven Trainings verwirklichen lassen. Doch einige Computervorgaben sind angesichts der sportlichen Fähigkeiten eines Athleten unrealistisch. Schließlich spürt der digitale Zwilling nicht den Schmerz brennender Muskeln noch die Sauerstoffarmut in der Lunge. Zum Beispiel könnte ein Modell einen zusätzlichen Beinschlag bei 100 Meter Schmetterling empfehlen, der zwar mehr Sauerstoff verbraucht, aber die Zeit um 0,1 Sekunden verkürzen kann. Ein Trainer könnte den Athleten dabei helfen, die aerobe Kapazität zu steigern, um die Simulation in eine echte Wettkampfstrategie auf höchstem Niveau umzuwandeln.

Die Olympischen Spiele 2024 finden wieder in Paris statt – wie vor 100 Jahren. Zwar fließt wie damals die Seine durch die Stadt, und der Eiffelturm thront noch immer über der Veranstaltung. Trotzdem hat sich enorm viel verändert. Und die Fortschritte der Moderne führen auch bei den Olympischen Spielen zu Leistungen, die vor 100 Jahren unvorstellbar waren. So wird der Sport zum Sinnbild dafür, wie Mensch und Technologie gemeinsam immer wieder zu neuen Grenzen vorstoßen.

Dieser Artikel wurde im Original unter dem Titel »Swimming in Data« bei »Mathematical Intelligencer« veröffentlicht.

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