Kosmologie: Schwarze Löcher könnten aus Dunkler Energie bestehen
Das Universum ist ein dunkler Ort. Zwar ist der nächtliche Himmel übersät mit funkelnden Sternen, rund 3000 kann man mit bloßem Auge erkennen. Allein in unserer Galaxie sind es mindestens rund 100 Milliarden. Das ergibt einen ziemlich großen Teppich an kleinen Kerzen. Lange Zeit beschränkte sich die Kosmologie auf die Erforschung ebensolcher sichtbarer Objekte. Doch vor 30 Jahren knipste eine Erkenntnis den Kosmologinnen und Kosmologen schlagartig das Licht aus: All die Elektronen, Protonen und Neutronen, aus denen Sterne, Planeten und alles Übrige im Weltall bestehen, machen gerade einmal etwas mehr als vier Prozent des Universums aus. Die restlichen knapp 96 Prozent liegen buchstäblich im Dunkeln – weil man sie bisher nicht direkt beobachten konnte, aber auch, weil niemand genau weiß, was sie überhaupt sind.
Der Löwenanteil dieser 96 Prozent wird als Dunkle Energie bezeichnet. Diese ist nach unserem heutigen Verständnis dafür verantwortlich, dass sich unser Universum ausdehnt. Allerdings tappen die Fachleute völlig im Dunkeln, wenn es darum geht, diese treibende Kraft genauer zu beschreiben. Die experimentell gesammelten Daten lassen vielfältige Schlüsse zu: von einer fünften Grundkraft bis hin zu mysteriösen Teilchen. Im Februar 2023 hat ein Forschungsteam um den Astrophysiker Duncan Farrah von der University of Hawaii eine hitzige Diskussion in der Fachwelt ausgelöst. Eine Auswertung von gesammelten Beobachtungsdaten führte die Forschenden zu einer überraschenden These: Die rätselhafte Dunkle Energie könnte sich im Inneren Schwarzer Löcher verbergen.
Auch wenn diese Annahme manche Beobachtungen erklären würde, wirft sie allerlei neue Fragen auf – insbesondere in Bezug auf Schwarze Löcher. Viele Fachleute stellen deshalb die These von Farrah und seinem Team in Frage. Doch brauchbare Alternativen für die Deutung Dunkler Energie sind bisher Mangelware. An Ideen fehlt es nicht, aber ohne empirische Hinweise, die sie stützen oder verwerfen, wird das physikalische Problem schnell philosophisch: Was sollte eine physikalische Theorie erfüllen? Genügt es, wenn sie einfach ist und zu den Beobachtungen passt? Oder muss sie bis ins kleinste Detail erklären können, was vor sich geht?
Ein Blick ins Dunkel offenbart noch mehr Dunkelheit
Dass die Dunkle Energie existieren muss, hat wie so vieles in der Physik mit Albert Einstein zu tun. Die allgemeine Relativitätstheorie ist die nach heutigem Stand beste Theorie, um zu beschreiben, was auf großen Skalen im Universum passiert. Genauer: Das Standardmodell der Kosmologie ist eine exakte Lösung der Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie mit der so genannten Friedmann-Lemaître-Robertson-Walker-Metrik (FLRW-Metrik). Sie fußt auf den grundlegenden geometrischen Annahmen, dass das Universum homogen (einheitlich) und isotrop (in alle Raumrichtungen gleich) ist, es also überall und in jede Richtung die gleichen Gesetze befolgt. Zudem hält das Standardmodell eine Beobachtung fest, die noch zu Einsteins Lebzeiten gemacht wurde: Das Universum ist nicht starr und unveränderlich, sondern es expandiert. Die FLRW-Metrik beschreibt also eine Raumzeit, die homogen, isotrop und beweglich ist. Auf dieser Grundlage lässt sich mit den einsteinschen Feldgleichungen der Zustand des Universums – zumindest theoretisch – zu jedem Zeitpunkt berechnen.
»Eine beschleunigte Expansion ist sehr schwer zu erklären, weil das Universum dafür etwas tun muss, von dem niemand dachte, dass es das tun könnte«Duncan Farrah, Astrophysiker
Ende der 1990er Jahre, gut 80 Jahre nachdem Einstein seine Theorie der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte, machten zwei Forschungsteams unabhängig voneinander eine Beobachtung, die der Kosmologie das Licht ausknipsen sollte. Man wusste bereits, dass sich das Universum ausdehnt, nur nicht, in welchem Ausmaß. Denn die FLRW-Metrik ließ mehrere Szenarien zu. Sie alle hatten aber gemeinsam, dass sich die Expansion verlangsamt, dem Universum also mit der Zeit die Puste ausgeht. Die zwei Forschungsgruppen fanden jedoch nicht nur heraus, dass von Verlangsamung keine Spur ist – sie maßen sogar eine Beschleunigung.
»Eine beschleunigte Expansion ist sehr schwer zu erklären, weil das Universum dafür etwas tun muss, von dem niemand dachte, dass es das jemals tun könnte – nicht mal Albert Einstein«, sagt der Astrophysiker Duncan Farrah. Denn das Universum ist gefüllt mit Sternen, Planeten und Galaxien, also mit einer ganzen Menge Materie, die sich gegenseitig anzieht. Und wenn man einen beweglichen, sich ausdehnenden Behälter mit lauter anziehenden Objekten füllt, sollte das die Ausdehnung eigentlich verlangsamen.
Plötzlich waren die Kosmologen und Kosmologinnen mit einem Phänomen konfrontiert, das unmöglich ist und trotzdem gleich zweimal unabhängig voneinander beobachtet wurde. Folglich musste noch etwas anderes in diesem Behälter sein, das die Raumzeit immer schneller auseinandertreibt. Und es musste laut Messungen mindestens 70 Prozent der gesamten Materie und Energie ausmachen, während der sichtbare Anteil lediglich vier Prozent betragen konnte (die übrigen 26 Prozent sind nach heutiger Kenntnis Dunkle Materie). Dieses Etwas musste seine abstoßende Wirkung im Universum außerdem trotz Expansion konstant und überall gleichmäßig ausüben. Der Astrophysiker Michael S. Turner taufte es schließlich »Dunkle Energie«.
Kaum Fortschritt in der Forschung
Viel mehr hat man seither über die Dunkle Energie nicht herausfinden können. Immer feinere Messungen der Expansionsrate haben ihren prognostizierten Anteil über die Jahre auf 72 Prozent steigen lassen. Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung weisen mittlerweile außerdem darauf hin, dass das Universum keine geometrische Krümmung hat. Da laut Einstein die Krümmung der Raumzeit von der in ihr enthaltenen Masse abhängt und die sichtbare Materie bei Weitem nicht ausreicht, um für ein flaches Universum zu sorgen, braucht man auch hier zusätzlich etwas von der Größenordnung der Dunklen Energie. Doch all das sind nur indirekte Hinweise, Korrekturen, die Kosmologinnen und Kosmologen in ihren Annahmen vornehmen, damit das Standardmodell weiterhin funktioniert. Bis heute konnte die Dunkle Energie nicht direkt nachgewiesen werden. Sie ist so undurchschaubar wie vor einem Vierteljahrhundert.
Physiker und Physikerinnen lassen sich aber von rätselhaften bis hin zu jeglicher Intuition widersprechenden Beobachtungen nicht entmutigen. In der Quantenfeldtheorie fanden sie einen ersten Erklärungsansatz für die Dunkle Energie. Diese besagt nämlich, dass das Vakuum nicht leer ist, wie man zunächst annehmen könnte. Stattdessen sei es durchzogen vom Flackern spontan entstehender Teilchen-Antiteilchen-Paare, die sich sofort wieder gegenseitig vernichten. Diese so genannte Vakuumfluktuation verleiht dem Vakuum eine Energie, die einen negativen Druck erzeugen und so die Raumzeit auseinandertreiben würde.
Diese Vakuumenergie eignet sich auf den ersten Blick also perfekt als Kandidat für die Dunkle Energie. Auf den zweiten Blick fällt allerdings auf, dass die Größenordnungen nicht im Geringsten zusammenpassen: Der von der Quantenfeldtheorie vorhergesagte Wert ist um stolze 120 Größenordnungen größer als nötig. Dieser enorme Unterschied wird manchmal als die größte Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment in der gesamten Wissenschaft bezeichnet. Trotzdem bleiben die Fluktuationen, die das Vakuum gleichmäßig durchziehen, für viele der bisher vielversprechendste Ansatz.
Da sich die zwei postulierten Energiewerte seither aber kaum näher zusammenbringen ließen, suchen Kosmologinnen und Kosmologen auch nach alternativen Ansätzen, unter ihnen Farrah und sein internationales Team. Im Februar 2023 veröffentlichten sie im »Astrophysical Journal« zwei Arbeiten, die zu hitzigen Debatten führten. Ihre These: Dunkle Energie ist nicht wie bei der Quantentheorie überall gleichmäßig in der Raumzeit verteilt, sondern sitzt an ganz bestimmten Orten im Universum, nämlich im Inneren Schwarzer Löcher.
Schwarze Löcher als Erklärung für Dunkle Energie?
Schwarze Löcher sind deutlich besser erforscht als die Dunkle Energie – zumindest von außen. Immerhin hat man sie schon beobachten, in zwei Fällen sogar fotografieren können. Doch wenn es um ihr Inneres geht, steht auch hier ein großes, dunkles Fragezeichen.
Schwarze Löcher sind astronomische Objekte mit sehr viel Masse bei sehr kleinem Volumen. Sie werden üblicherweise als Raumzeit mit derart extremer Krümmung beschrieben, dass sich an ihrem Rand ein so genannter Ereignishorizont bildet. Demnach ist die Gravitation hier so groß, dass weder Materie noch Strahlung wie Licht oder andere Formen von Information entkommen können, nachdem sie die Grenze einmal überschritten haben. So besagt es zumindest die Kerr-Metrik, eine Lösung der einsteinschen Feldgleichungen für rotierende Schwarze Löcher, die jegliche Interaktion mit deren Innerem kategorisch ausschließt. Sie schließt damit allerdings ebenso aus, dass man die Kerr-Lösung über den Ereignishorizont hinaus überprüfen kann. Sicher ist nur: Von außen sehen Schwarze Löcher so aus, wie die Kerr-Lösung es vorhersagt.
Diesen rätselhaften Objekten widmeten sich Farrah und sein Team in ihrer ersten Studie. Sie werteten darin Daten zu den Massen supermassereicher Schwarzer Löcher im Zentrum von Galaxien im Vergleich zur Masse aller Sterne in den Galaxien aus. Seit Längerem ist bekannt, dass die beiden Werte miteinander verbunden sind – je schwerer das Schwarze Loch im Zentrum, desto mehr Sterne befinden sich in dieser Galaxie. Die Eigenschaften des Schwarzen Lochs hängen also in irgendeiner Form mit denen seiner Galaxie zusammen.
Um mehr über diesen Zusammenhang zu erfahren, werteten Farrah und sein Team zwei bereits bestehende Datensammlungen aus: einerseits von elliptischen Galaxien in unserer näheren Umgebung und andererseits von weit entfernten Exemplaren, deren Informationen uns erst nach sechs Milliarden Jahren erreichen. Die Daten decken folglich einen großen Zeitraum ab. Die Forscherinnen und Forscher beschränkten sich auf elliptische Galaxien, da man bei diesen sehr alten Gebilden auch über lange Zeitskalen hinweg keine großen Veränderungen erwartet, auch nicht bezüglich des Verhältnisses der beiden genannten Massen.
Das Team fand aber etwas ganz anderes vor: Während die Masse der Galaxien sich wie erwartet kaum verändert hatte, war die Masse der Schwarzen Löcher erheblich gestiegen, und zwar ungefähr um den Faktor sieben. »Wir stellten fest, dass die Massen dieser supermassereichen Schwarzen Löcher nach einem ziemlich einfachen Muster mit der Zeit wuchsen: Wenn das Volumen des Universums sich verdoppelt hatte, hatte sich auch die Masse der Schwarzen Löcher verdoppelt«, so Farrah. Dieses Muster könnte reiner Zufall sein: »Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist, das auf konventionelle Weise zu erklären«, so Farrah, »aber es ist schwierig.«
Das Ergebnis inspirierte das Team zu einer zweiten Veröffentlichung, in der es eine unkonventionelle Erklärung für seine Beobachtung anbietet. Seine These basiert auf zwei Annahmen: Erstens wächst die Masse der Schwarzen Löcher im gleichen Verhältnis an wie das Universum. Bleibt zweitens die Anzahl Schwarzer Löcher gleich, so gilt bei einem expandierenden Universum: Je größer das Universum wird, desto kleiner wird die Anzahl Schwarzer Löcher pro Volumen.
»Die kurze Antwort ist: Ich weiß es nicht. Die längere Antwort ist: Ich glaube nicht, dass irgendjemand es weiß«Duncan Farrah, Astrophysiker
Zusammen ergeben die Annahmen, dass die Massendichte Schwarzer Löcher im Universum konstant bleibt. Das mag zunächst nicht sonderlich aufregend klingen, doch Farrah und sein Team machte es stutzig. »Das Seltsame an Dunkler Energie ist, dass man erwartet, dass ihre Energiedichte gleich bleibt, während das Universum expandiert«, so Farrah, »und das ist das komplette Gegenteil zum Verhalten gewöhnlicher Materie.« Doch die Massendichte Schwarzer Löcher scheint sich in diesem Zusammenhang wie die Dunkle Energie zu verhalten. Es sei das erste Mal, dass man auf dieses seltsame Verhalten im Universum gestoßen ist. Könnte es sein, dass diese Schwarzen Löcher nicht nur wie Dunkle Energie agieren, sondern tatsächlich aus Dunkler Energie bestehen? Laut Farrah ist das zumindest möglich und sollte diskutiert werden: »Ich glaube nicht, dass diese Hypothese in irgendeiner Form bewiesen ist oder auch nur starke Hinweise dafür sprechen, aber ich bin überzeugt, dass sie eine interessante Möglichkeit darstellt, der man weiter nachgehen sollte.«
Die von Farrah und seinem Team postulierten neuartigen Objekte würden weiterhin von außen wie die durch die Kerr-Lösung beschriebenen Schwarzen Löcher aussehen, und Farrah würde sie auch weiterhin als solche bezeichnen. Sie hätten aber vermutlich keinen Ereignishorizont mehr, da die Dunkle Energie, die in ihrem Inneren säße, durchaus mit der Außenwelt wechselwirken würde – schließlich ist sie für die beschleunigte Expansion des Universums verantwortlich. Wie genau die Dunkle Energie in den Schwarzen Löchern die Ausdehnung verursachen würde, ist Farrah noch nicht klar: »Die kurze Antwort ist: Ich weiß es nicht. Die längere Antwort ist: Ich glaube nicht, dass irgendjemand es weiß.«
Dass Schwarze Löcher im Inneren aus Vakuumenergie bestehen, ist keine neue Idee, sondern wird in der Kosmologie schon seit den 1960er Jahren diskutiert. Ganz so ideal ist die Kerr-Lösung nämlich nicht. Tatsächlich braucht man zusätzliche Annahmen, um Schwarze Löcher auf großen Skalen zu beschreiben. Denn in der Kerr-Lösung ist die Raumzeit starr, was nicht zum expandierenden Universum passt.
Die beschleunigte kosmische Ausdehnung könnte dadurch zu Stande kommen, dass der negative Druck der Vakuumenergie das Innere des Schwarzen Lochs wie ein Gummiband auseinanderzieht, wodurch sich der negative Druck weiter erhöht und noch stärker am Gummiband zieht. Sollte sich herausstellen, dass Schwarze Löcher tatsächlich die Quelle für Dunkle Energie sind, hätte man somit gleich zwei große Rätsel auf einmal gelöst: den Ursprung der Dunklen Energie und eine bessere Beschreibung Schwarzer Löcher.
Es fehlt allerdings noch an alternativen Modellen für einen solchen Geniestreich. Die Kerr-Lösung ist bisher die einzige, die Schwarze Löcher auf kleinen Skalen beschreiben kann. Die These von Farrah und seinem Team bietet demnach eine Erklärung für das Phänomen Dunkle Energie, wirft aber im Gegenzug weitere drängende Fragen auf, für die noch keine Antwort in Sicht ist. Matthias Bartelmann, Professor für theoretische Astrophysik an der Universität Heidelberg, begegnet ihr daher mit großer Skepsis.
Eine einfache Lösung, die viele Fragen offen lässt
Schwarze Löcher seien auf kosmologischen Längenskalen viel zu klein, als dass ein bedeutender Einfluss auf die Ausdehnungsrate des Universums plausibel wäre. »Wenn ich ein einzelnes Schwarzes Loch selbst von einer Million Sonnenmassen betrachte, dann bekomme ich einen Radius (des Ereignishorizonts) von ungefähr einer Million Kilometern – und das ist winzig im Vergleich zu kosmologischen Längenskalen«, so Bartelmann. Dass die Kerr-Lösung die Raumzeit als starr beschreibt, sei daher auch eine zulässige, in der Physik übliche Vereinfachung. »Wenn Sie Fluiddynamik betreiben, interessiert es Sie ja auch nicht, dass das Wasser, in dem Sie schwimmen, aus Molekülen zusammengesetzt ist.« Zudem erklärten Farrah und seine Kolleginnen und Kollegen das Phänomen der beschleunigten Ausdehnung, das sehr homogen ist, mit den sehr inhomogen verteilten Schwarzen Löchern.
Argumente wie diese widerlegen Farrahs These nicht, sorgen jedoch dafür, dass viele Physiker und Physikerinnen bei ihrem Anblick erst einmal die Augenbrauen hochziehen. Für Bartelmann liegt aber das größte Problem in der Dunklen Energie selbst.
Denn es gibt auch eine Möglichkeit, die einsteinschen Feldgleichungen an die beschleunigte Ausdehnung anzupassen, ohne dieses mysteriöse Etwas zu postulieren. Die Idee stammt wieder einmal von Einstein selbst, der den Trick anwendete, um sein starres, mit anziehender Materie gefülltes Universum vor dem Kollaps zu retten. Dazu führte er eine Konstante als Gegengewicht zur Gravitation in seine Gleichungen ein. Als Beobachtungen dann eine Expansion des Universums zeigten, musste Einstein einfach nur den Wert der Konstante daran anpassen.
Diese »kosmologische Konstante« oder kurz Lambda (Λ) ist seitdem fester Bestandteil des Standardmodells und kann auch die beschleunigte Ausdehnung in die Gleichungen einführen. »Die einfachste Möglichkeit, die Dunkle Energie zu erklären, ist die kosmologische Konstante, und die halte ich auch nach wie vor für die beste Erklärung«, stellt Bartelmann fest. Der Mathematiker David Lovelock habe sogar gezeigt, dass Lambda nicht nur eine Verlegenheitslösung, sondern eine mathematische Notwendigkeit ist. Dieser hatte Anfang der 1970er Jahre im »Journal of Mathematical Physics« bewiesen: Für jede lokal wirkende Gravitationstheorie in einer vierdimensionalen Raumzeit, die nur mit Ableitungen zweiter Ordnung arbeitet, sind die einsteinschen Feldgleichungen die einzig mögliche Lösung. Und diese enthalten sowohl die newtonsche Gravitationskonstante G als auch die kosmologische Konstante. »Man kann auch sagen: Lovelock hat gezeigt, dass Gravitation sowohl anziehend als auch abstoßend sein kann«, resümiert Bartelmann.
»Solange ich keine empirischen Argumente für die komplizierte Lösung habe, muss ich zu der einfacheren greifen«Matthias Bartelmann, Astrophysiker
Statt also den Wert von Λ durch eine neuartige Form von abstoßender Energie zu erklären, die sich bisher nicht beobachten ließ, plädiert Bartelmann dafür, sie einfach als notwendig hinzunehmen: »Solange ich keine empirischen Argumente für die komplizierte Lösung habe, muss ich zu der einfacheren greifen.« Sonst begebe man sich auf einen schlüpfrigen Pfad, denn: »Physik ist die Denkbewegung, möglichst viele empirisch festgestellte Phänomene auf möglichst wenige, vereinheitlichende mathematische Strukturen abzubilden.«
Für Farrah ist das keine Option. Zwar könne man Λ genau so anpassen, dass die Theorie den Beobachtungen entspricht, doch das liefere keinerlei Erklärung für das Phänomen, dass Gravitation nicht nur anziehend, sondern auch abstoßend sein kann. »Für mich ist Physik die Suche sowohl nach der Frage, warum etwas ist, als auch, was etwas ist«, so Farrah.
Die Dunkle Energie wird zu einer philosophischen Frage
Am Umgang mit der Dunklen Energie zeigt sich, was man grundlegend von physikalischen Theorien erwartet. Langsam beginnt daher auch die Philosophie das Thema für sich zu entdecken. Der Wissenschaftsphilosoph Niels Martens von der Universität Utrecht und ehemaliger Fellow des Projekts Philosophy of Dark Energy ordnet die Positionen der zwei Physiker auf der Skala zwischen Empirismus und Anti-Empirismus ein.
Empirismus ist eine Position in der Erkenntnistheorie, nach der Wissen nur auf direkter Sinneswahrnehmung fußen kann. In ihrer extremen Form ist die Position heutzutage in der Wissenschaftsphilosophie eher unüblich. Doch während Bartelmann den Bezug zu empirischen Beobachtungen für besonders wichtig hält und somit eher ein empiristisches Bild von Wissenschaft hat, ist Farrah auch zu spekulativeren Hypothesen ohne direkte empirische Grundlage bereit, solange sie auf der Suche nach Erklärungen helfen.
»Die kosmologische Konstante ist nach Ockhams Rasiermesser die einfachste Annahme«Matthias Bartelmann, Astrophysiker
Das von Bartelmann angeführte Prinzip, möglichst viel mit möglichst wenig zu erklären, wird in der Philosophie als Ockhams Rasiermesser bezeichnet. Es ist nach dem Philosophen Wilhelm von Ockham benannt, der im 14. Jahrhundert zur Sparsamkeit beim Postulieren von Entitäten aufgerufen hatte. In dieser Hinsicht hat die Dunkle Energie tatsächlich keine besonders gute Bilanz, da sie nur ein einziges Phänomen abdeckt. »Eine neue Entität hinzuzufügen, um genau ein Problem zu lösen, ist laut vielen Wissenschaftsphilosophen keine sonderlich gute Wissenschaft«, so Martens. Er stimmt daher Bartelmann zu: »Die kosmologische Konstante ist nach Ockhams Rasiermesser die einfachste Annahme.« Aber sie liefere eben auch keine richtige Erklärung – »damit passt man tatsächlich nur seine Kurvenfunktion an die Datenpunkte an«.
Wer die Dunkle Energie einfach aus der Theorie wegrasiert und sich mit Λ zufriedengibt, zahlt also an anderer Stelle einen hohen Preis. Ob er zu hoch ist oder nicht – darüber lässt sich wie immer in der Philosophie hervorragend streiten. Sollten sich irgendwann sowohl die Konstante als auch die Dunkle Energie als zu teuer erweisen, könnte es am Ende sogar der allgemeinen Relativitätstheorie selbst an den Kragen gehen. Schließlich betreiben die Fachleute den Aufwand bloß, um ihre Gleichungen immer wieder an die Beobachtungen anzupassen.
Eine solche ausgewachsene Krise sieht Martens in der Kosmologie zurzeit noch nicht: »Das Standardmodell, das die meisten Kosmologen weithin akzeptieren, sagt schlicht: Dunkle Energie ist eine Konstante. In gewissem Sinn gibt es also gar keine Kontroverse. Aber es gibt trotzdem Leute, die versuchen, Abweichungen von dieser Konstante zu messen. Und ich würde sagen, das ist auch gut so.« Anders als in der Teilchenphysik, in der lange Zeit jeder einfach nur nach Hinweisen für seine Lieblingstheorie gesucht habe, werde hier das kosmologische Standardmodell sehr systematisch überprüft. Ob das allerdings zu den gewünschten Ergebnissen führt, ist noch nicht ganz klar.
»Ich hoffe, dass dieses Jahrzehnt das Jahrzehnt sein wird, in dem wir endgültige Antworten finden«Duncan Farrah, Astrophysiker
Im November 2023 haben beispielsweise der Philosoph William J. Wolf und der Astrophysiker Pedro G. Ferreira im Fachjournal »Physical Review D« eine Arbeit veröffentlicht, in der sie argumentieren, dass Quantenfeldmodelle der Dunklen Energie notwendigerweise unterbestimmt sind. Selbst immer genauere Beobachtungsdaten könnten demnach nicht entscheiden, welches Modell das richtige ist, da in jedem Fall mehrere zu den Daten passen würden.
Das Muster in den empirischen Daten, das Farrah und sein Team entdeckt haben, macht Martens dennoch neugierig: »Ich glaube, sie haben Recht, dass es da etwas gibt, was wir noch nicht verstehen. Ob das Dunkle Energie ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Aber sobald sie es herausfinden, würde ich es gerne erfahren.« Wenn es nach Farrah geht, sollte das nicht mehr allzu lange dauern. »Ich hoffe, dass dieses Jahrzehnt das Jahrzehnt sein wird, in dem wir endgültige Antworten finden.« Vielleicht werden es ja am Ende die Schwarzen Löcher sein, die das Licht für die Kosmologie wieder anknipsen.
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