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Anthropologie: Ein gemächlicheres Ticken der Evolutionsuhr

Forscher haben die Mutationsrate unserer DNA genauer geschätzt - und plötzlich passen genetische Relikte aus unserer Prähistorie besser zu archäologischen Funden.
<i>Homo heidelbergensis</i>

Lange haben sich unsere längst vergangenen Vorfahren nur über ihre Knochen- und Werkzeugrelikte offenbart – bis sich, in den 1960er Jahren, die DNA mit ihrer Version der Dinge eingemischt hat. Das hat manchen neuen Blickwinkel ermöglicht – zum Beispiel als Genanalysen belegt haben, dass alle modernen Menschen von Afrikanern abstammen, die vor 100 000 Jahren in die Welt gezogen waren. Manche neue Erkenntnis kam auch unerwartet, etwa wenn offenbar Schlüsselereignisse in der menschlichen Evolution stattgefunden haben müssen, die durch keinen archäologischer Fund irgendwie bestätigt werden.

Nach und nach aber beginnen Archäologen und Genetiker aber an einer gemeinsamen Geschichte zu schreiben. Anlass dafür war eine nun genauer als zuvor kalibrierte molekulare Uhr – jenem Zeitgeber, der die Geschwindigkeit der Mutationsrate misst und so das Fundament jeder genetischen Datierung bildet [1-4]. Archäologen wie Jeff Rose von der University of Birmingham in England finden das "eine unheimliche Befreiung. Endlich versöhnen sich Genetik und Archäologie ein wenig miteinander". Nun können die Experten beider Disziplinen sich mit viel größerer Gewissheit Erkenntnisse des anderen Fachs zu eigen machen, um spezielle Problemfelder der menschlichen Evolutionsgeschichte zu beackern. Und dabei müssen "beide sich einig werden", ergänzt Aylwyn Scally vom Wellcome Trust Sanger Institute im britischen Hinxton, "einig über den wahren Kern ihrer Geschichte".

Das Prinzip der Gen-Uhr ist simpel: Die Zahl der Unterschiede in den DNA-Buchstaben zweier Lebewesen gibt darüber Auskunft, wann ihr letzter gemeinsamer Vorfahre gelebt hat. Um präzise zu schätzen, brauchen Genetiker allerdings eine entscheidende Information möglichst genau, nämlich die Geschwindigkeit, mit der sich DNA-Buchstaben verändern. Bislang haben Genetiker die Mutationsraten durch den Sequenzvergleich des menschlichen Genoms mit dem anderer Primaten geschätzt. Auf der Grundlage von Spezies-Divergenzdaten – die sie ihrerseits lustigerweise Fossiluntersuchungen entlehnt hatten – errechneten die Genetikexperten, dass jede Base der menschlichen DNA einmal in einer Milliarde Jahre mutiert. "Eine verdächtig glatte Zahl", findet Linda Vigilant, Molekularanthropologin am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Ein offenbar begründeter Verdacht: In den letzten Jahren war es Forschern gelungen, der molekularen Uhr beim Ticken zuzusehen: Sie haben das komplette Genom mehrerer Dutzend Familien sequenziert [5] und die Mutationen gezählt, die in den Kindern der Eltern neu aufgetreten sind. Aus diesen Studien wird deutlich, dass die molekulare Uhr womöglich nur halb so schnell tickt wie früher geschätzt, fasst Scally zusammen.

In einem Übersichtspapier haben Scally und ihr Kollege Richard Durbin vor Kurzem auf der Basis dieser verlangsamten Uhr einige wichtige Verzweigungsereignisse der menschlichen Evolutionsgeschichte neu datiert [1]. "Halbiert sich die Mutationsrate, so verdoppelt sich die Zeitspanne, die ein Ereignis zurückliegt", so Scally: "ein doch recht radikaler Unterschied, scheint mir." Und trotzdem passen die von ihnen berechneten neuen Molekulardaten zu einigen archäologischen Paradefunden deutlich besser.

Ein Beispiel: die 400 000 bis 600 000 Jahre alte Sima-de-Los-Huesos-Ausgrabungsstätte in Spanien, deren Knochenfunde Homo heidelbergensis zugeschrieben werden, dem Vorfahren des Neandertalers. Zuvor hatten Gendaten allerdings vermuten lassen, die frühen Ahnen der Neandertaler hätten sich erst deutlich später – vor etwa 270 000 bis 435 000 Jahren – von dem Zweig abgespalten, der dann zum modernen Menschen geführt hat. Eine langsamer tickende molekulare Uhr verlegt diesen Abspaltung beruhigend weit nach hinten, auf eine Zeit vor 600 000 Jahren.

Bessere Übereinstimmung: Gen- und Fossildaten | Genetische und archäologische Datierungsverfahren kommen bei einigen Ereignissen der Menschheitsgeschichte zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Legt man eine langsamere molekulare Uhr zugrunde, so lösen sich einige der Streitpunkte von selbst.

Die entschleunigte Molekularuhr dürfte den Wissenschaftlern die Chance geben, einige Eckdaten der Prähistorie noch einmal neu zu bewerten wie die Migration des modernen Menschen aus Afrika. In aller Welt erhobene Gendaten hatten nahe gelegt, dass die Vorfahren von Europäern und Asiaten Afrika vor etwa 60 000 verlassen haben. Das wiederum hat viele darin bestärkt, ein 100 000 Jahre altes Menschenfossil aus Israel für den Beleg einer frühen, aber in der Sackgasse geendeten Protomigration zu halten – nicht aber für einen Vertreter des erfolgreichen Exodus in die ganze Welt, erklärt Scally. Nach ihren Berechnungen muss der Auszug aus Afrika eher vor 120 000 Jahren begonnen haben, was die Fundstelle in Israel zum möglichen Sprungbrett der frühen Ausbreitung nach Asien und Europa macht.

Die Gendaten passen auch besser zu einigen Ausgrabungsfunden des Mittleren Ostens: Werkzeugen, die ganz offenbar von modernen Menschen gefertigt wurden, allerdings vor etwa 100 000 Jahren. Zu dieser Zeit lag der Meeresspiegel zwischen Afrika und der arabischen Halbinsel niedriger als heutzutage und das Klima dürfte die Halbinsel feucht, von üppiger Vegetation überwuchert – und bewohnbar gemacht haben. Womöglich hat das Menschen angezogen? Rose, der an einer der Fundstätten im Oman arbeitet, beschreibt sich als "überglücklich, nachdem ich die Studie von Scally und Durbin in die Finger bekommen habe".

Michael Petraglia von der Oxford University weist darauf hin, dass die Rekalibrierung der molekularen Uhr auch einen Streit über eine Hypothese beilegen könnte, die eine recht weite Ausbreitung des Menschen nach Asien hinein bereits vor 60 000 vertritt. Petraglia verficht ein solch frühes Datum.

Wenn die molekulare Uhr wirklich langsamer tickt, könnte das also einerseits Debatten um die menschliche Evolution beilegen – aber gerade bei länger zurückliegenden Ereignissen auch zu einigen sehr merkwürdigen Schlussfolgerungen zwingen: Die klassischen zwei Seiten einer Medaille, meint David Reich von der Harvard Medical School in Boston. So müsste auf Basis der langsamsten anzunehmenden Mutationsrate der gemeinsame Vorfahre von Menschen und Orang-Utans vor 40 Millionen Jahren gelebt haben, erläutert der Evolutionsgenetiker – und damit etwa 20 Millionen Jahre früher als das insgesamt stimmige Bild bislang vorsieht, das man sich aus vielen gut datierten Fossilfunden gemacht hat. Die langsamere Uhr würde die Lebenszeit des gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Affen in die Zeit der Dinosaurier zurückverlegen. Und das, kommentiert Reich trocken, mache es dann doch arg problematisch.

Einige Forscher, darunter auch Scally, haben schon vorgeschlagen, dass die Mutationsrate sich ja erst in den vergangenen 15 Millionen Jahren verlangsamt haben könnte, was solche Abweichungen erklärbar machen würde. Immerhin legen Fossilfunde nahe, dass die Vorfahren der Affen kleiner waren als die lebenden Exemplare – und kleinere Arten pflanzen sich schneller fort, was die Mutationsrate erhöht. Es gebe allerdings wenige Belege für diese These, meint Reich. Die molekulare Uhr müsse in der Tat langsamer ticken als bisher gedacht; die Frage sei allerdings, um wie viel langsamer. "Derzeit bin ich vor allem völlig sicher, dass die Frage nach der Mutationsgeschwindigkeit noch gänzlich offen ist".

  • Quellen
[1] Nature Rev. Genet. 13: 745, 2012
[2] Proc. Acad. Natl. Sci. USA 10.1073/pnas.1211740109, 2012
[3] Proc. Acad. Natl. Sci. USA 10.1073/pnas.1212718109, 2012
[4] Nature Gen. 10.1038/ng.2395, 2012
[5] Nature 488, 471, 2012

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