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Gluonenball: Ein Teilchen aus elementarer Kraft?

Seit Jahren suchen Physiker nach einem exotischen Gebilde, das allein aus elementaren Kraftteilchen besteht. Nun zeigt sich: Wir könnten den "glueball" längst gefunden haben.
Kollision von Teilchen im Beschleuniger

Sie gehören mit Sicherheit zu den exotischsten Materiezuständen überhaupt: Gluonenbälle, im Englischen "glueballs" genannte und bislang noch völlig hypothetische Gebilde aus reiner Kernkraft. Schon länger vermuten Theoretiker, dass sich Gluonen, also die Kraftteilchen der starken Kernkraft, die sonst die Atomkerne zusammenhalten, auch ohne jegliche Materieteilchen zu einem kurzlebigen Verbund zusammenschließen können. Alle quantenphysikalischen Rechnungen zu solchen Gluonenbällen liefern allerdings wenig verwertbare Resultate, die ihre Existenz einer experimentellen Falsifizierung oder Bestätigung zugänglich machen würde. Dies liegt an der außerordentlich komplizierten Struktur der Theorie, mit der Teilchenphysiker solche Materiezustände beschreiben. Physiker der TU Wien haben nun allerdings ein Modell angewandt, mit dem sie Methoden der Stringtheorie in die Sprache der Kernphysik übersetzen konnten.

Die Rechnungen von Frederic Brünner und Anton Rebhan deuten darauf hin, dass es sich bei einem in Experimenten an Teilchenbeschleunigern entdeckten, aber noch unidentifizierten Teilchen tatsächlich um einen Gluonenball handeln könnte. Ob das als Meson f0(1710) bezeichnete Teilchen wirklich der lang gesuchte Kernkraftball ist, müssen allerdings erst noch weitere Messungen und Rechnungen bestätigen.

Für die Teilchenphysik wäre der Nachweis wichtig, obgleich er keine Revolution bedeuten würde. Denn seit der Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 ist der Baukasten der Teilchenphysik abgeschlossen. Alle Elementarteilchen, die laut dem so genannten Standardmodell der Teilchenphysik existieren sollten, sind damit nachgewiesen. Dieses Standardmodell beinhaltet sowohl die Konstituenten, aus denen sämtliche Materie in unserem Universum – inklusive uns selbst – besteht, als auch die Wechselwirkungsteilchen, die die verschiedenen Kräfte zwischen den Materieteilchen vermitteln. Der Gluonenball – in Form des Mesons f0(1710) – wäre eine zwar seit Jahrzehnten postulierte, bislang aber unbestätigte Kombination von bereits bekannten Teilchen. Es würde den Baukasten also nur insofern komplettieren, als man dann besser verstünde, wie sich die Teilchen aus diesem Baukasten zu Materiezuständen zusammensetzen lassen.

Ein extrem kurzes Aufblitzen im Detektor

Die Schwierigkeiten beim Nachweis von Gluonenbällen sind einerseits experimenteller und andererseits theoretischer Natur. Auf der experimentellen Seite liegen sie vor allem in der extrem kurzen Lebensdauer der zu beobachtenden Zustände. Mesonen, wie sie bei hochenergetischen Kollisionen in Beschleunigern entstehen, zerfallen praktisch an Ort und Stelle wieder in eine Reihe stabilerer Teilchen. Physiker sprechen wegen dieser Kurzlebigkeit auch von Resonanzen: Finden sie in einem bestimmten Energiebereich eine höhere Rate von Kollisionen und Streuprodukten, liefert das einen Hinweis darauf, dass sich dort ein Teilchen verbirgt – so auch beim Meson f0(1710). Es entsteht bei einer Masse von 1710 Megaelektronvolt und zerfällt häufiger als gedacht in schwere Quarks, weshalb es schon länger als Kandidat für einen Gluonenball galt. Mit herkömmlichen Methoden lassen sich seine Zerfallseigenschaften aber nicht genau bestimmen. Das Meson f0(1710) könnte so auch einer von vielen bekannten Quark-Antiquark-Zuständen sein. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es ein Mischzustand aus einem gewöhnlichen Quark-Antiquark-Zustand und einem Gluonenball darstellt.

Teilchen aus reiner Kernkraft | Normale Kernteilchen (links) sind aus Quarks aufgebaut, die durch hier wellenförmig dargestellte Gluonen zusammengehalten werden. Ein "glueball" hingegen besteht nur aus Gluonen.

Schon in den frühen 1970er Jahren hatten die Begründer der Quantenchromodynamik die Existenz von Gluonenbällen vermutet. Diese Theorie beschreibt eine der vier fundamentalen Kräften in der Natur: die starke Kernkraft, die vor allem für den Zusammenhalt von Atomkernen verantwortlich ist. Die Schwierigkeit bei der theoretischen Beschreibung solcher Prozesse rührt nun daher, dass Gluonen nicht nur die Quarks in den Protonen und Neutronen des Atomkerns zusammenhalten, sondern ihrerseits auch untereinander wechselwirken. Dies ist eine besondere Eigenschaft, die die anderen fundamentalen physikalischen Kräfte nicht besitzen. Sie ermöglicht überhaupt erst den gebundenen Zustand nur aus Gluonen, macht zugleich aber sämtliche Rechnungen extrem kompliziert. Viele Eigenschaften von Materiezuständen aus Quarks und Gluonen lassen sich nur über aufwändige Computersimulationen bestimmen – und selbst diese liefern dann häufig nur grobe Ergebnisse.

Ein Rechentrick im holografischen Universum

Die Wiener Theoretiker haben sich deshalb ein Modell zu Nutze gemacht, mit dem sie die komplizierten Gleichungen der Quantenchromodynamik in einfacher zu lösende stringtheoretische Rechnungen übersetzen konnten. Dieses nach seinen Begründern genannte Witten-Sakai-Sugimoto-Modell basiert auf der Idee des "holografischen" Universums: Ähnlich wie in einem flachen Hologramm die Informationen enthalten sind, um ein dreidimensionales Objekt darzustellen, könnten sich die Naturgesetze unserer bekannten Welt mit Hilfe bestimmter Übersetzungsregeln in höheren Dimensionen darstellen lassen. Dann ließe sich die vieldimensionale Stringtheorie nutzen, um komplizierte Rechnungen in der dreidimensionalen Quantenwelt durchzuführen.

Allerdings beruht das Modell auf einer Vermutung des argentinischen Theoretikers Juan Maldacena, die zwar mächtige mathematische Werkzeuge bereitstellt, allerdings bislang noch nicht bewiesen ist. Zudem liefert das holografische Modell keine direkt physikalisch sinnvollen Werte. Anton Rebhan und sein Doktorand Frederic Brünner mussten die Ergebnisse ihrer Rechnungen deshalb auf physikalisch sinnvolle Werte extrapolieren.

Dies klingt nach verdächtig viel Spielraum, um Ergebnisse passend hinbiegen zu können. "Aber diese Extrapolation hat bereits in vielen Fällen erstaunlich gut funktioniert", sagt Rebhan. "Man erhält fast parameterfreie Vorhersagen, die meist nur 10 bis 30 Prozent von den experimentellen Daten abweichen." Nach diesen Rechnungen stimmen die Zerfallseigenschaften von f0(1710) gut mit denen eines Gluonenballs überein.

Bessere Daten ab kommendem Jahr

Über den physikalischen Wahrheitsgehalt der bislang noch nicht experimentell bestätigten Stringtheorie selbst sagen diese Ergebnisse nichts aus. Sollte sich aber die Identifizierung von f0(1710) mit dem Gluonenball bestätigen, würde dies eindrucksvoll demonstrieren, dass sich der mathematische Apparat der Stringtheorie geschickt zur Bearbeitung anderer Fragen einsetzen lässt.

Noch müssen die Forscher allerdings auf weitere Messungen warten. Die Daten, mit denen sie arbeiten konnten, stammten zum Teil aus Experimenten am CERN aus den 1990er Jahren sowie vom Beijing Electron Positron Collider aus den 2000er Jahren. Dank der jüngsten Verbesserungen am CERN erwarten die Forscher jedoch neue Daten mit hoher Statistik, die nächstes Frühjahr öffentlich gemacht werden. Wie exotisch f0(1710) wirklich ist, wird sich vielleicht schon kommendes Jahr erweisen.

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