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Jahresrückblick: Gelüftete Schleier des Vergessens

Wirtschaft, Sport oder das Liebesleben der Mäuse - gar vielfältig sind die Interessen der Neurowissenschaftler, Verhaltensforscher und Psychologen. Ein besonderes Augenmerk galt in diesem Jahr der Erforschung einer schleichenden und immer noch unheilbaren Krankheit.
Frühdiagnose von Alzheimer
Am 3. November 1906 referierte ein Frankfurter Neuropathologe auf der "37. Tagung der Südwestdeutschen Irrenärzte" in Tübingen über eine "eigenartige Erkrankung der Hirnrinde". Sein Name: Alois Alzheimer.

Heute, 99 Jahre später, hat sich die Alzheimer-Demenz, an der weltweit schätzungsweise 20 Millionen, in Deutschland über 800 000 Menschen leiden, zu einem Schwerpunkt neurowissenschaftlicher Forschung entwickelt. Auch im Jahr 2005 versuchten Wissenschaftler, die Ursachen des schleichenden und unaufhaltsamen Gedächtnisverlusts zu ergründen. Bereits Alzheimer beobachtete – neben dem dramatischen Verlust des Hirngewebes – zwei ungewöhnliche Veränderungen im Gehirn seiner Patientin "Auguste D.": Außerhalb der Nervenzellen erkannte er Eiweißklumpen, heute als beta-Amyloid-Plaques bekannt, während innerhalb der Neuronen faserartige Strukturen auftauchten, die inzwischen unter den Namen Tau-Fibrillen firmieren.

Gut und böse

Beide Substanzen stehen in Verdacht, die Krankheit irgendwie auszulösen. Das "Irgendwie" bleibt zwar immer noch rätselhaft, doch immerhin konnten Forscher aus den USA in diesem Jahr herausfinden, dass beta-Amyloid eine komplizierte Enzymkaskade auslösen kann, an deren Ende bestimmte Rezeptorproteine der Nervenzellen zu Grunde gehen.

Alzheimer-Regelkreis | Ein geschlossener Regelkreis: beta-Amyloid-Proteine steuern die Produktion der Fettsorten Cholesterin und Sphingomyelin, die wiederum die Herstellung der Amyloid-Proteine kontrollieren. Dabei aktiviert ein hoher Cholesterinspiegel (+) die Spaltung des Amyloid-Vorläuferproteins, sodass vermehrt beta-Amyloid 40 entsteht. Dieses wiederum blockiert (-) die Produktion von Cholesterin. Gleichzeitig aktiviert (+) die zweite Amyloid-Form – das beta-Amyloid 42 – in der Zelle winzige Scheren, die Sphingomyelin abbauen. Und Sphingomyelin verhindert (-) die Spaltung des Amyloid-Vorläuferproteins, sodass weniger beta-Amyloid 42 produziert wird.
Das Peptid begnügt sich jedoch nicht mit der Rolle des bösen Buben, sondern kann auch positive Wirkungen haben. Am überraschendsten dürfte wohl die diesjährige Erkenntnis sein, dass beta-Amyloid an der Synthese des Schutzpigmentes Melanin mitwirkt. Deutsche Forscher konnten wiederum beobachten, wie beta-Amyloid den Cholesterin-Gehalt in den Zellen senkt und damit eine wichtige Regulationsaufgabe erfüllt. Ein zu hoher Cholesterin-Spiegel kann dagegen die Bildung der zerstörerischen Plaques fördern, vermuten die Molekularbiologen. Und auch im Insulinstoffwechsel scheint das Peptid mitzumischen. Amerikanische Kollegen gehen sogar so weit, die Alzheimer-Demenz als eine neue Form von Zuckerkrankheit, einen "Diabetes Typ 3", zu bezeichnen.

Tau-Fibrillen | Tau-Fibrillen in genetisch veränderten Mäusen: Obwohl die Tiere unter alzheimerähnlichen Symptomen leiden, können die Tau-Fibrillen nicht ursächlich für den Gedächtnisverlust verantwortlich gemacht werden.
Die Rolle der zweiten Alzheimer-Substanz, der Tau-Fibrillen, erwies sich als noch komplizierter: Ein Hilfsprotein namens p25, das bei Mäusen zunächst als förderliche Gedächtnisstütze wirkt, könnte in zu hohen Konzentrationen die Bildung der fatalen Fasern auslösen. Andererseits scheinen die Tau-Fibrillen, wenn sie erst entstanden sind, nicht unmittelbar den Gedächtnisverlust zu verursachen, wie Experimente mit genetisch veränderten Mäusen ergaben.

Natürlich versuchten Neurowissenschaftler in diesem Jahr auch herauszufinden, wodurch die Krankheit überhaupt erst ausgelöst wird – Vererbung, Infektionskrankheiten während der Kindheit oder eine zu kupferarme Ernährung werden diskutiert – und wie sie sich vermeiden lässt. Dass geistige Aktivität das Erkrankungsrisiko mindert, zeigten Ratten, deren Behausung abwechslungsreich ausgestattet war. Während sich Hoffnung auf Vitamin E als Alzheimer-Medikament nicht erfüllte, verliefen erste Versuche mit Antikörpern gegen die Plaques im Tierversuch erfolgreicher. Und sogar eine Gentherapie konnte bei sechs Alzheimer-Patienten zumindest das Fortschreiten der Krankheit verzögern. Bei der Früherkennung der bisher erst nach dem Tod sicher diagnostizierbaren Krankheit tauchten ebenfalls Hoffnungsschimmer am Horizont in Form von Markersubstanzen auf.

Von Großmüttern und Filmstars

Auch auf anderen Gebieten konnten Neurobiologen mit spannendes Neuigkeiten aufwarten. Am spektakulärsten dürfte hier der Nachweis der "Großmutterzellen" sein: Im Juni dieses Jahres berichteten amerikanische Forscher von Epilepsie-Patienten, bei denen sie die Aktivität einzelner Neuronen messen konnten. Wie sie dabei feststellten, regte sich bei einer Versuchsperson eine ganz bestimmte Nervenzelle, sobald die Schauspielerin Halle Berry ins Blickfeld geriet. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie als Foto, Zeichnung oder als "Catwoman", der Rolle ihres letzten Films, auftrat – selbst der Schriftzug "Halle Berry" brachte die Zelle auf Trab. Demnach könnte an der alten, aber bisher als vollkommen abwegig geltenden Vermutung, dass einzelne Nervenzellen die Erinnerung an bestimmte Personen – wie beispielsweise der Großmutter – repräsentieren, durchaus etwas dran sein.

Synapse | Computersimulation einer Synapse: Die synaptischen Vesikel (gelbe Kreise) enthalten den Neurotransmitter Acetylcholin. Das freigesetzte Acetylcholin (grüne Ovale) wandert durch den synaptischen Spalt zur postsynaptischen Membran (hellblau). Dort bindet es an zwei verschiedene Rezeptoren (blaue Pyramiden und rote Polyeder). Hier sind drei einzelne Vesikelfreisetzungen zu verschiedenen Zeitpunkten dargestellt.
Einen Monat nach der Rehabilitation der Großmutterzellen räumten Neurobiologen mit der Lehrbuchweisheit auf, dass Neuronen nur über Synapsen miteinander kommunizieren. Im Gehirn von Hühnern konnten sie nachweisen, dass Neurotransmitter auch "ektopisch", also außerhalb von Synapsen, freigesetzt werden. Und diese ektopische Freisetzung spielt womöglich eine wichtige Rolle in der neuronalen Informationsübertragung – sie scheint damit mehr zu sein als eine Kuriosität.

Anfreunden mit der Technik | Junge Mönche freunden sich mit der wissenschaftlichen Technik an, bevor sie die Tests zum binokularen Wettstreit absolvieren. Mit bestimmten Meditationsmethoden können sie klassische Effekte wie das ständige Wechseln von Bildeindrücken beeinflussen.
Kurios klingt der Beitrag, den tibetische Mönche für die Neurowissenschaften im Juni lieferten: Sie demonstrierten, dass jahrelange Meditationserfahrung die Wahrnehmung beeinflussen kann. Im Gegensatz zu Ottonormalseher konnten sie sich bei schnell wechselnden Bildern auf ein bestimmtes Objekt lange und ausdauernd konzentrieren. Der Gastvortrag, den der Dalai Lama am 12. November auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience in Washington hielt, stieß übrigens auf ein geteiltes Echo. Vor allem Wissenschaftler aus China hätten das im Exil lebende Oberhaupt des buddhistischen Tibet am liebsten wieder ausgeladen.

Und ewig lockt ...

So interessant klösterliche Erfahrungen für Neurowissenschaftler und Psychologen sein mögen, ein Objekt der wissenschaftlichen Begierde durfte auch in diesem Jahr nicht fehlen: die Frau. Ob bei der Wahrnehmung von Schmerz, beim Sinn für Humor oder allgemein bei der Nutzung bestimmter Hirnareale – die Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein wurden immer wieder deutlich. Dass Frauen sich als bessere Autofahrer erwiesen, weil sie sich effektiver auf verschiedene Reize konzentrieren können, braucht hier nicht gesondert erwähnt zu werden.

Das "starke Geschlecht" zeigte sich dafür als depressionsanfälliger bei sozialem Abstieg und litt besonders unter Einsamkeit. Wer übrigens bei Frauen punkten möchte, sollte nicht unbedingt den starken Macho spielen. Zumindest in ihrer unfruchtbaren Phase steht Sie eher auf den Typ Frauenversteher. Im beruflichen Alltag sollten Frauen übrigens auf eine allzu freizügige Kleidung – die ja bei der Jagd nach dem anderen Geschlecht durchaus vorteilhaft sein könnte – besser verzichten, erweist sie sich doch als Karrierebremse, wie amerikanische Psychologen herausgefunden haben wollen. Haben sich Mann und Frau erst einmal gefunden, dann empfiehlt sich ein harmonisches Zusammenleben – denn glückliche Menschen sind auch körperlich gesünder, während Ehekonflikte das Immunsystem schwächen.

Singende Maus | Ein Mäusemännchen singt im Ultraschallbereich sobald es einer Mäusedame ansichtig wird.
Soviel zum Liebesleben von Homo sapiens. Dass verliebte Mäusemännchen ihren Angebeteten im Ultraschallbereich hinterher flöten, war schön länger bekannt. Dass es sich dabei jedoch weniger um ein eintöniges Fiepen, sondern vielmehr um komplexe, strophenreiche Gesänge handelt, wie sich im November offenbarte, hätte man den kleinen Nagern weniger zugetraut. Und auch der rättische Sinn für Humor – die Tiere lieben es, sich durchkitzeln zu lassen, wobei sie, ebenfalls im Ultraschall, freudig aufjauchzen – weist vertraut menschliche Züge auf. Spanische Forscher schafften es sogar, Ratten den klanglichen Unterschied zwischen holländisch und japanisch gesprochenen Sätzen beizubringen.

Affengesichter | Erwachsense können in den Gesichtern von Berberaffen kaum individuelle Unterschiede wahrnehmen – Kleinkinder haben da keine Schwierigkeiten.
Das befähigt die Ratten natürlich noch nicht zum gesprochenen Wort. Aber immerhin können sie wohl sprachliche Feinheiten heraushören, wie auch Kleinkinder unterschiedliche Laute der verschiedenen Sprachen durchaus noch wahrnehmen – eine Fähigkeit, die mit zunehmenden Alter leider wieder verloren geht. Dieses kleinkindliche Unterscheidungsvermögen geht sogar noch weiter: Selbst individuelle Gesichtszüge von Berberaffen erkennen die Kleinen – im Gegensatz zum erwachsenen Forscher – mühelos.

... der Sport

Unterschieden wird bekanntlich auch im Bereich des Sports, bei dem es in harten Wettkämpfen um oben und unten geht. Allerdings gewinnt hier nicht immer der Bessere. Englische Forscher überraschten im Mai die Szene mit der Meldung, dass auch die Trikotfarben ein Wörtchen über Sieg und Niederlage mitzureden haben: Rot schlägt Blau.

Nicht nur für den Sport, auch für die Wirtschaft konnten Psychologen interessante Erkenntnisse gewinnen. So sollte sich die Industrie über vermeintlich imageschädigende Produktwarnungen nicht allzu sehr grämen. Denn das Gedächtnis des Verbrauchers ist kurz; nur der Name des Produkt bleibt hängen, sodass die Warnung hinterher als kostenlose Werbung wirkt. Unklug handelt dagegen ein Verkäufer, der seine Waren in dunkle Ecken oder in überfüllte Durchgänge platziert. Denn bei Kunden, die sich einsam oder von zu vielen Menschen bedrängt fühlen, sitzt das Portmonee weniger locker. Der Konsummuffel könnte jedoch auch von der "gefühlten" Inflation abgeschreckt werden, welche die wahre Teuerungsrate um das Vierfache übersteigen kann.

Und zur Jahreswende sollte noch auf eine wichtige Warnung amerikanischer Mediziner hingewiesen werden: Lange Arbeitszeiten gefährden die Gesundheit. Unabhängig von der Art der Tätigkeit führen Überstunden nach den Erkenntnissen der Forscher zu mehr Krankheitsfällen. Lassen wir das Jahr 2006 also ruhig und gelassen antreten.

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