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Räuber-Beute-Interaktionen: Generatoren des Kryptischen

Tarnen und Täuschen entscheiden in der Natur oft über das Wohl oder Wehe eines Tiers: Je länger es seinen Fraßfeinden erfolgreich entgeht, desto mehr Nachwuchs kann es potenziell zeugen, bis ihm seine Jäger auf die Schliche kommen. Dieser Wettlauf zwischen Räuber und Beute treibt die Evolution an.
Blauhäher
Eines der klassischen Paradebeispiele für die Wirksamkeit und Wirklichkeit der Evolution auch über geologisch kurze Zeiträume ist die Geschichte des Birkenspanners (Biston betularia): In den Zeiten und Räumen ohne Luftverschmutzung konnte sich dieser Falter trefflich auf der Rinde von Birken vor übel wollenden Fraßfeinden verstecken. Muster und Farbe seiner Flügel verschmolzen regelrecht mit der weißen, grau-grün-schwärzlichen punktierten Kolorierung des Baumstammes.

Neben der hellen Variante gab es allerdings schon immer auch eine dunkle Ausprägung der Falter, deren schwarze Flügel durch ein einziges dominantes Gen bedingt wurden – sie blieben allerdings stets in der Minderheit, da sie auf den hellen Birken leicht zu erspähen waren. Mit dem Anbruch des Industriezeitalters und der zunehmenden Verfeuerung von Kohle im 19. Jahrhundert verkehrten sich nun aber die Schicksale der unterschiedlich gefärbten Birkenspanner ins Gegenteil: Auf den schwarz eingerußten Baumstämmen im Umfeld großer Städte oder Industrieanlagen stachen nun die Exemplare mit den hellen Flügeln deutlich hervor und wurden folglich leichte Beute für die Vögel.

Das Zuviel des Farbstoffs Melanin im Erscheinungsbild ihrer Artgenossen bot nun dagegen einen entscheidenden ökologischen Vorteil: Statt der weißen dominierten bald die schwarzen Konsorten den Bestand – innerhalb von nur fünfzig Jahren stieg ihr Anteil in belasteten Regionen auf bis zu 95 Prozent der Population. Erst die zunehmende Luftreinhaltung nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrte diese Entwicklung langsam wieder ins Gegenteil, und die weißen nehmen wieder auf Kosten der schwarzen Tiere zu.

Computermotten vor Computerhintergrund | Computermotten vor Computerhintergrund: Auf jedem Hintergrund verstecken sich – mal mehr, mal weniger gut – vier computergenerierte Motten. Die besten Überlebensvoraussetzungen hatten "Spezialisten" auf den beiden oberen Oberflächen, die ihre Färbung exakt auf den Hintergrund abstimmten, während Generalisten mit breitem Farbspektrum hier den Jägern leichter auffielen.
Der Nachstellungsdruck der Jäger und die Färbung des Hintergrunds bedeuten also wichtige Stellschrauben in der Evolution der Tarnung der potenziellen Beute. Im Vorteil sollen dabei vor allem jene Exemplare sein, die sich nicht nur besonders gut an ihren Rückzugsort anpassen, sondern auch noch möglichst seltene Musterungen an den Tag legen. Sie sind vor den wachsamen Augen von Vögeln besser geschützt als häufige Varianten: Die auf Masse konditionierten Räuber übersehen rare Flügelzeichnungen eher, weil sie nicht in das typische Bild der Beute passen – so die Theorie.

Ob diese Wechselwirkung tatsächlich so eintritt, wollten nun die beiden Biologen Alan Bond und Alan Kamil von Universität von Nebraska experimentell nachprüfen, um den Einfluss anderer Umweltfaktoren auf das Räuber-Beute-Verhältnis auszuschließen. Sie ließen deshalb 27 Blauhäher (Cyanocitta cristata) Jagd auf künstliche Computermotten machen, die sich auf drei verschieden Hintergründen tummeln durften. Die Kunstmotten selbst bestanden aus symmetrischen Dreiecken, deren "Flügel" aus unterschiedlich gepixelten hellen und dunklen Flecken bestand. Jeder Vogel hatte jeden Tag 160 Versuche, die vermeintliche Beute zu erpicken, wobei jede erfolgreiche Nachsuche mit einem realen Leckerbissen belohnt wurde.

Die Jagdgesellschaft startete dabei pro Hintergrund mit einer Mottenausgangspopulation von 200 Faltern, die alle weit gehend ähnlich aussahen und auf den unterschiedlichen Hintergründen – einheitlich feinkörnig und dunkel oder hell, grob oder feinkörnig dunkel und hell gescheckt – in etwa gleichermaßen gut getarnt waren. Am Ende jedes Wettbewerbs durften sich die Motten fortpflanzen, wobei die "Chromosomen" der unentdeckt gebliebenen Falter eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit hatten, zu einem neuen Genom rekombiniert zu werden, als jene von ertappten Tieren. Die daraus erzeugte Nachfolgegeneration musste sich anschließend neuerlich dem Hähertest stellen.

Nach 200 Wiederholungen betrachteten die Wissenschaftler dann den Ausgang ihres Experiments. Tatsächlich hatte auch der Hintergrund einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der Flügelmuster: So überlebten auf den einheitlich gefärbten sowie den grob gescheckten Flächen deutlich weniger Generalisten die Jagden als auf den feinkörnigen Schwarzweißarealen. Dagegen waren sie ein Eldorado für Spezialisten, die hier doppelt so häufig auftraten wie auf den gleichmäßig punktierten Vergleichsbildschirmen. Ihre seltenen Färbungen boten ihnen hier bessere Überlebenschance, während die Generalisten leichter von den Hähern erspäht werden konnten.

Allerdings passten auch die Vögel ihre Suchstrategien den Bildschirmflächen an: Komplexe Hintergründe mit einer Vielzahl an mottenähnlichen Strukturen hielten sie zu einer langsamen, seriellen Suche an, die hauptsächlich auf selektiver Wahrnehmung einzelner Mottentypen basierte. Die Folge war eine erhöhte so genannte apostatische Auswahl – Typen, die von der durchschnittlichen Norm abweichen, werden dabei häufiger übersehen, mehr unterschiedliche Motten-Phänotypen entstehen und überleben. Bei den Umgebungen mit einheitlicher Farbgebung dagegen fallen ungewöhnliche Muster leichter auf, während die Durchschnittsbeute eher überlebt. Die unbewusste apostatische Selektion fällt geringer aus, weniger Beutevarianten kommen durch.

Die Vielfalt der Umgebung – etwa ausgelöst durch Flechten an Baumrinden – bildet also einen ebenso wichtigen Motor der Evolution, wie es der Jagddruck durch Räuber vermag. Zum Glück auch für reale Insekten können sie fast ähnlich schnell auf entsprechende Veränderungen reagieren wie die Computermotten – der Birkenspanner hat das schon mehrfach bewiesen.

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