Astroteilchenphysik : »Immer neugierig bleiben«
Herr McDonald, wenn Sie an den Anfang Ihrer Forscherkarriere zurückdenken, wie kam es, dass Neutrinos Sie in ihren Bann zogen?
Ende der 1960er Jahre promovierte ich am Caltech (California Institute of Technology, Anm. d. Red.) in Teilchenphysik. Der Leiter meines Labors war William Fawler. Er untersuchte die chemischen Reaktionen, die in den Sternen die Elemente produzieren. Für seine Entdeckungen bekam er später den Nobelpreis. Außerdem traf ich am Caltech auf die beiden Forscher Ray Davis und John Bahcall, die ein Experiment vorbereiteten, mit dem sie Neutrinos der Sonne nachweisen wollten. So hatte ich als Doktorand bereits eine enge Verbindung zur Astroteilchenphysik.
Aber intensiv beschäftigten Sie sich mit Neutrinos erst etwas später?
Ja, so richtig begann es im Jahr 1984. Ich war zu der Zeit Professor für Physik an der Princeton University. Damals gab es ein Treffen mit Kollegen, darunter Herb Chen, damals Professor an der University of California. Er stellte die Frage, ob man nicht mit großen Mengen an schwerem Wasser (im Gegensatz zu normalem Wasser sind hier die zwei Wasserstoffmoleküle aus H2O ersetzt durch Wasserstoffatome des Isotops Deuterium, Anm. d. Red.) das so genannte solare Neutrino-Problem lösen könne. Die Idee kombinierte Teilchen- und die Astrophysik und ließ mich nicht los. Doch knapp drei Jahre später verstarb Chen leider. Im Jahr 1989 ging ich dann an die Queen's University nach Kanada und wurde Direktor der Sudbury Neutrino Observatory Collaboration, die Chen noch ins Leben gerufen hatte.
Was war denn das solare Neutrino-Problem?
Eigentlich sollte man sagen, dass es gar kein Problem war, sondern eine Chance. Im Jahr 1968 war es Ray Davis gelungen, mit einem Detektor tief unter der Erde Neutrinos nachzuweisen, die von der Sonne stammten und dort bei der Kernfusion im Inneren entstanden sind. Es handelt sich dabei jedoch nur um Elektron-Neutrinos, da die Energie der Reaktionen in der Sonne nicht ausreicht, um die beiden anderen Arten zu erzeugen. Schon damals war ja klar, dass es drei bekannte Arten von Neutrinos gibt, neben Elektron-Neutrinos sind das Myon- und Tau-Neutrinos. Die Anzahl der detektierten Neutrinos entsprach aber nur einem Drittel der Menge, die Berechnungen über die Prozesse im Inneren der Sonne vorhergesagt hatten. Es gab also zwei Möglichkeiten: Entweder stimmte die Theorie über den solaren Fusionsprozess nicht, oder die Elektron-Neutrinos hatten die Fähigkeit, sich in einen der beiden anderen Typen umzuwandeln. Chen hatte dann wie erwähnt die Idee, dieses »Problem« mittels schweren Wassers zu lösen.
Das Projekt setzten Sie schließlich in die Tat um und erhielten dafür den Nobelpreis.
Richtig. Mit schwerem Wasser lassen sich sowohl die Elektron-Neutrinos als auch die anderen Neutrinos nachweisen. Und im Jahr 2001 gelang es uns zu zeigen, dass auf der Erde wirklich nur ein Drittel der gesamten Neutrinos als Elektron-Neutrinos ankommen. Der restliche Teil hat sich in die beiden anderen Sorten umgewandelt; sie oszillieren also, wie wir sagen. Außerdem zeigte die Menge aller ankommenden Neutrinos, dass die Berechnungen über die Prozesse innerhalb der Sonne tatsächlich sehr präzise waren. Und bereits drei Jahre vorher hatte Takaaki Kajita mit dem Kamiokande-Detektor gezeigt, dass auch die atmosphärischen Neutrinos oszillieren.
Die Oszillationen implizieren, dass Neutrinos eine von null verschiedene Masse haben.
Ja, aus der Tatsache, dass Neutrinos zwischen den unterschiedlichen Typen wechseln können, folgt, dass sie eine Masse haben müssen. Dabei handelt es sich um einen quantenmechanischen Effekt.
Kann man das auch als Laie verstehen?
Man kann es auf eine andere Art und Weise betrachten: Ein masseloses Teilchen würde sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, und aus Sicht des Teilchens würde keine Zeit vergehen. In diesem Fall wäre eine Umwandlung nicht möglich, weil man dafür eine Zeitachse braucht. Das heißt: Weil Neutrinos oszillieren, können sie sich nicht mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und haben folgerichtig eine von null verschiedene Masse.
Waren Sie von Anfang an davon überzeugt, dass die Neutrinos eine Masse haben?
Nein. Allerdings wussten wir, dass die Experimente zu einem wichtigen Ergebnis führen können: Entweder hat das Neutrino eine Masse, was wiederum Auswirkungen auf das Standardmodell hätte, oder die Modelle und Berechnungen zur Energieproduktion der Sonne sind falsch oder unvollständig. Wir wussten aber nicht, ob sich das Experiment überhaupt so realisieren ließ, wie wir es uns vorstellten. Doch es funktionierte, und das Ergebnis war eindeutig.
Aber im Standardmodell der Teilchenphysik sind Neutrinos masselos. Ist das Modell also falsch?
Nein, so kann man das nicht sagen. Das Standardmodell funktioniert extrem gut. Nur in Bezug auf Neutrinos ist es unvollständig. Man muss es erweitern und einen Mechanismus finden, wie diese Teilchen zu ihrer Masse kommen. Es kann nicht auf die gleiche Art und Weise geschehen wie bei allen anderen bekannten Elementarteilchen – nämlich durch den so genannten Higgs-Mechanismus. Theoretiker arbeiten jedoch bereits an Modellen, weshalb das Neutrino eine Masse hat. Und einiges deutet darauf hin, dass sich dies auf den ganzen Rest des Standardmodells nicht wirklich auswirken würde.
Nun gibt es etliche Versuche, die exakte Masse der Neutrinos zu bestimmen. Weshalb ist der Wert so interessant?
Es wäre einerseits wichtig, um zu sehen, wie genau die Anpassungen am Standardmodell aussehen müssen. Außerdem spielen Neutrinos bei der Entwicklung des Universums eine Rolle. Ihre Massen haben zum Beispiel Einfluss darauf, wie sich Sterne und Galaxien bilden. Wenn man die exakten Massen der verschiedenen Varianten kennen würde, wäre das für Kosmologen und ihre Modelle also sehr hilfreich.
Das klingt so, als ob die Neutrinoforschung ein klassisches Beispiel für Grundlagenforschung ist und mit dem alltäglichen Leben nur wenig zu tun hat. Kann man das so stehen lassen?
Ich denke nicht. Es gibt etliche Beispiele für Technologien, die mehr oder minder aus der Neutrinoforschung stammen. Zum Beispiel wurden einige Geräte, die man heutzutage in der Nuklearmedizin oder bei bildgebenden Verfahren benutzt, etwa die Positronenemissionstomografie, ursprünglich für Experimente in der Teilchen- und auch Neutrinophysik entwickelt. Oder unsere Simulationsprogramme können etwa helfen, Wettervorhersagen oder Wirtschaftsprognosen zu verbessern. Für die Fusionsforschung, die Energie ähnlich wie im Inneren der Sonne produzieren soll, sind unsere Erkenntnisse ebenfalls sehr aufschlussreich. Daneben haben auch die Grundlagen der Astroteilchenphysik direkt etwas mit uns Menschen zu tun: Die meisten Elemente, aus denen wir bestehen – also Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff –, sind im Inneren von Sternen entstanden.
Ist das Neutrino aus Ihrer Sicht etwas Besonderes unter den elementaren Teilchen?
Von Neutrinos können wir zum einen mehr lernen als von anderen Teilchen, weil man noch so wenig über sie weiß. Zum anderen wechselwirken Neutrinos im Gegensatz zu den anderen Teilchen fast nur durch die schwache Kernkraft. (Die schwache Kernkraft ist eine der vier elementaren physikalischen Wechselwirkungen, Anm. d. Red.) Somit haben Neutrinos eine einzigartige Eigenschaft. Womöglich sind sie deshalb interessanter als andere Teilchen. Sie stoppen nur, wenn sie genau auf einen Atomkern oder ein Elektron treffen. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Aber aus ebendiesem Grund ist es auch so schwierig, sie zu detektieren und ihnen Informationen zu entlocken. Doch wir sind auf einem guten Weg und erfahren jeden Tag mehr über die Neutrinos.
Und man weiß ja mittlerweile auch einiges. Seit Ihrer Entdeckung sind mehrere ambitionierte Neutrino-Experimente entstanden.
Richtig. Am Anfang meiner Karriere sah das noch ganz anders aus. Damals war noch kaum etwas über die Teilchen bekannt. Die ersten Untersuchungen über Neutrinos von der Sonne begannen ja erst im Jahr 1968. Und auch das ganze Wissen darüber, wie sich das Universum entwickelt und wie es aufgebaut ist, hat dramatisch zugenommen von damals bis heute.
Zu Beginn Ihrer Karriere waren auch die Technologien, die Ihnen zu Verfügung standen, weit weniger entwickelt als heute. Wie hat sich dadurch Ihre Arbeit über die Jahre verändert?
Es ist wirklich sehr faszinierend, was sich in den fast 60 Jahren meiner Forschungstätigkeit bezüglich der technologischen Entwicklung getan hat. Zu Beginn meiner Studentenzeit habe ich noch einen Rechenschieber benutzt. Kurze Zeit später erhielten wir dann eine mechanische Rechenmaschine, und schließlich bekam das Physikinstitut den ersten Computer. Er wurde mit einem Kran auf das Dach gehievt. Das war 1964. Ich habe immer noch ein Foto davon. Mir und anderen Studenten wurde gesagt, wir sollten uns »Fortran«, die erste Programmiersprache, selbstständig beibringen und anschließend die Professoren darin unterrichten. Wenn man sich das Ausmaß der derzeitigen Computernutzung anschaut, sind die damaligen Zustände unvorstellbar.
Wozu benutzen Sie heutzutage Computer in Ihrer Forschung?
Im Grunde simulieren wir zunächst mit Programmen, wie sich Neutrinos und die Hintergrundsignale auf unsere Detektoren auswirken. Diese Simulationen vergleichen wir dann mit den tatsächlich gemessenen Signalen und analysieren sie auf bestimmte Muster, die von Neutrinos stammen könnten. Die Möglichkeit, präzise Simulationen bereits im Voraus machen zu können, ist ein fundamentaler Teil unserer Experimente.
Technologie ist also mittlerweile aus der Forschung nicht mehr wegzudenken. Was ist daneben wichtig, um erfolgreich Wissenschaft zu betreiben oder gar den Nobelpreis zu gewinnen?
In meinem Fall war es eine Leistung von vielen. Die Publikation über die Neutrinooszillation zählte am Ende 273 Autoren. 200 davon waren Studenten und Postdocs. Es war also sowohl eine große Forschungs- wie auch Ausbildungsleistung. Das ist ein wichtiger Punkt. Es war enorm wichtig für unser Projekt, junge Wissenschaftler gut zu schulen. Daher stellten wir ihnen sehr gute Möglichkeiten zur Verfügung – natürlich, damit sie zum einen die zu Grunde liegende Theorie lernten, zum anderen aber auch, damit sie sich die vielen technologischen Dinge aneignen konnten.
Mit Blick auf Ihre langjährige und sehr erfolgreichen Karriere: Welchen Tipp würden Sie jungen Wissenschaftlern geben?
Immer neugierig bleiben! Und: Die Universität ist ein Platz, wo man lernt, wie man lernt. Als Wissenschaftler wird man sich immer wieder neue Details des eigenen Forschungsbereichs und darüber hinaus aneignen müssen.
Um welche großen Probleme der Teilchen- oder Astrophysik zu lösen?
In diesem Feld gibt es momentan einige spannende Fragen. Speziell in der Neutrinophysik ist sicher der Wert der absoluten Neutrinomasse besonders bedeutsam. Aber daneben gibt es natürlich viele andere interessante Dinge, etwa die Frage: Was ist Dunkle Materie? Wir wissen einfach nicht, um was es sich dabei handelt, und das ist sehr spannend.
Herr McDonald, vielen Dank für das Gespräch!
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