Invasive Arten: Feuerameisen auf dem Vormarsch
Rote Feuerameisen gelten als eine der schlimmsten invasiven Arten weltweit. Ihren lateinischen Beinamen »invicta« – die Unbesiegte – bekam die Spezies, weil bisher nichts ihren globalen Siegeszug stoppen konnte, der in den 1930er Jahren in Südamerika begonnen hat. Von einem einzigen »Brückenkopf« in Alabama aus hat sich die Rote Feuerameise inzwischen in mindestens 15 südlichen Bundesstaaten der USA sowie in Puerto Rico ausgebreitet. Seit 2001 ist Australien betroffen, Taiwan seit 2003 und China seit 2004: Rasch eroberten sie mindestens 13 Provinzen. Verschiedene Regionen in Südostasien folgten. Nur Neuseeland ist es bisher gelungen, eine frei lebende Ameisenkolonie wieder zu vernichten.
Schon heute werden allein in den USA jährlich viele Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner von den Ameisen gestochen. Etwa jedes hundertste Opfer muss danach in ärztliche Behandlung, schätzen Gesundheitsbehörden – mit schweren Schmerzen oder einem allergischen Schock. Denn die Tiere sind sehr angriffslustig. Ihren Namen haben die Feuerameisen bekommen, weil sich die bis zu acht kreisförmig platzierten Stiche, die ein einzelnes Tier mit seinem Stachel am Hinterteil pfeilschnell setzen kann, wie eine Verbrennung anfühlen können. Es bilden sich erhöhte weiße Pusteln, oft bleiben Narben zurück.
Inzwischen ist auch Europa betroffen: Am 4. August 2023 informierten Wissenschaftler die italienische Regierung darüber, dass sie auf Sizilien die weltweit gefürchtete Rote Feuerameise nachgewiesen haben. Es drohe großer Schaden, sollte sich die invasive Art weiter in Europa ausbreiten. Nur wenig später, am 11. September, erschien die dazugehörige Studie der Insektenforscher Enrico Schifani, Roger Vila und Mattia Menchetti im Journal »Current Biology«. Die Nachricht verbreitete sich schnell, auch »Spektrum.de« berichtete. Denn überall, wo Solenopsis invicta sich bisher ansiedelte, hatte das schlimme Folgen. Zu ihrer eigenen Überraschung erhielten die Forscher aus der italienischen Regierung statt Dank jedoch scharfe Kritik. Sie hätten mit ihrer Mitteilung zu lange gewartet und wertvolle Zeit verspielt, warf ihnen Piero Genovesi, der zuständige Abteilungsleiter beim staatlichen italienischen Institut für Umweltschutz und Forschung (ISPRA), vor.
Zögerliche Behörden
Konkret unternommen haben die italienischen Behörden dann allerdings auch nichts. »Italien hat der Europäischen Kommission im November 2023 den Nachweis von Solenopsis invicta gemeldet, aber die italienischen Behörden haben die Kommission seither nicht über Ausrottungsmaßnahmen informiert, obwohl sie gemäß der EU-Verordnung über invasive gebietsfremde Arten dazu verpflichtet sind«, erklärte eine Sprecherin der EU-Kommission auf Anfrage. Die Kommission habe die zuständigen italienischen Behörden »bei mehreren Gelegenheiten, über verschiedene Kanäle und auf verschiedenen Ebenen auf ihre Verpflichtungen im Rahmen der Verordnung über invasive gebietsfremde Arten hingewiesen«. Es sei möglich, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einleiten werde, der EU-Recht nicht umsetzt.
Piero Genovesi bestätigte auf Anfrage, dass in Rom von konkreten Maßnahmen auf Sizilien noch nichts bekannt sei. Die zuständige Regionalregierung von Sizilien habe zwar »dem Umweltministerium den Entwurf eines Ausrottungsplans vorgelegt, das wiederum technische Ratschläge zur Verbesserung des Entwurfs gegeben hat«, so Genovesi. Das Umweltinstitut habe der sizilianischen Regionalregierung dann eine Liste möglicher Ausrottungstechniken vorgelegt, einschließlich einer Liste von Chemikalien, die in anderen Ländern zur Bekämpfung der Roten Feuerameisen eingesetzt werden. Man habe vorgeschlagen, Ausnahmen zu beantragen, um diese Mittel anwenden zu können. Zudem habe das Umweltministerium »die Notwendigkeit betont, ohne weitere Verzögerungen mit der Behandlung aller bekannten Ameisennester zu beginnen«. Es lägen aber noch keinerlei Informationen darüber vor, ob dies von den regionalen Behörden bereits getan wurde, erklärte Genovesi.
Gefürchtete Insektenspezies
Doch auf Anfrage von Spektrum der Wissenschaft widerspricht Luca Ferlito, der beim Forstwirtschaftskorps der Region Sizilien als Sonderkommissar für die Feuerameise eingesetzt wurde. Erste Maßnahmen seien bereits angelaufen. Eine wissenschaftliche Taskforce sei eingerichtet worden und man habe in der Nähe von Syrakus erste Experimente unternommen, die Ameisen mithilfe von heißem Dampf zu bekämpfen. Die Ergebnisse seien so positiv, dass ab September mit einem größeren Einsatz begonnen werde. Früher sei dies nicht sinnvoll, da sich die Ameisen wegen der sommerlichen Hitze zu tief in ihre Bauten zurückgegriffen hätten. Auch der Einsatz von Eiweißködern mit Insektengift sei möglich. Allerdings wurde Wasserdampf bisher hauptsächlich zur Eindämmung der Roten Feuerameise eingesetzt, während bei Auslöschungsversuchen etwa in Australien flüssige Insektizide zum Einsatz kamen. Dagegen gibt es in der sizilianischen Regionalregierung aber offenbar Bedenken wegen möglicher ökologischer Nebenwirkungen. Dabei kann der Fünfte Kontinent mit den Insektiziden immer einzelne Erfolge aufweisen und die Ameisen immer wieder zumindest regional eliminieren.
Der Befall ist Ferlito zufolge noch viel gravierender als angenommen. Zuletzt waren die Wissenschaftler Schifani, Vila und Menchetti von 27 Nestern ausgegangen, von denen es einige schon seit 2017 geben könnte. Der sizilianische Sonderbeauftragte spricht nun von rund hundert Nestern und dem Beginn der Invasion schon im Jahr 2000. Das bedeutet, dass das Eindringen einer der am meisten gefürchteten Ameisenarten der Welt in die EU fast ein Vierteljahrhundert unbemerkt blieb, was infrage stellt, wie effektiv das von Brüssel vorgeschriebene Monitoring läuft.
Noch mehr Feuerameisen
Neben der »Unbesiegbaren« haben sich auch andere Feuerameisenarten weltweit ausgebreitet und verursachen Schäden. Solenopsis geminata etwa ist inzwischen in vielen tropischen Ländern verbreitet und gerade in medizinischen Einrichtungen gefürchtet. Ihr Stich löst mitunter sehr starke allergische Reaktionen beim Menschen aus, die lebensgefährlich werden können. Eine Studie aus dem Jahr 2015 konnte den Ausbreitungsweg der Tiere zumindest zum Teil nachverfolgen: Die Sechsbeiner gelangten demnach über Schiffe der spanischen Kolonialherren im 16. Jahrhundert von Mexiko nach Afrika und Asien. Von dort aus siedelten sie schließlich nach Europa über.
Und die Gefahr einer europaweiten Ausbreitung wächst: Die Forscher Schifani, Vila und Menchetti haben mit Hilfe von Computern modelliert, wo die Bedingungen für eine Ansiedlung der Roten Feuerameise schon heute gegeben sind – und wo sie es im Jahr 2050 sein könnten. Weite Teile von Südeuropa sind bereits jetzt gut geeignet; in Deutschland bieten der Rheingraben, das Ruhrgebiet und Berlin »moderat gute« Bedingungen. 2050 könnten infolge des dann weiter fortgeschrittenen Klimawandels große Teile Deutschlands zu den potenziellen Siedlungsgebieten der Insekten zählen.
Risiko auch für die Landwirtschaft
Die Folgen könnten gravierend sein: Für die Landwirtschaft stellen Rote Feuerameisen eine große Gefahr dar, weil sie sich als »opportunistische Allesfresser« über Mais, Kartoffeln, Sonnenblumen und weitere Nutzpflanzen hermachen. Die Eindringlinge greifen neben anderen Insekten auch Nutztiere an sowie Vögel, die am Boden brüten. Geschätzte fünf Milliarden Dollar kostet die Bekämpfung der Roten Feuerameise allein die USA pro Jahr.
Alles, was die Art für die Ausbreitung braucht, ist eine Königin, die nach ihrer Ankunft in einem neuen Gebiet hinreichend lange überlebt. Schon nach kurzer Zeit beginnt sie dutzende Eier pro Stunde zu legen. Im Lauf eines Jahres kann eine Kolonie auf mehrere hunderttausend Arbeiterameisen anwachsen und diverse Ableger bilden. Nur ein vergleichsweise kühles und zudem sehr trockenes Klima scheint der invasiven Art effektiv einen Riegel vorzuschieben. Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass der globale Klimawandel der Roten Feuerameise massiv bei der Besiedlung neuer Habitate hilft, und das nicht nur der höheren Temperaturen wegen. Kommt es beispielsweise zu Überschwemmungen, bilden die Tiere dichte Matten aus zahllosen Individuen, die auf dem Wasser neuen Ufern entgegentreiben – und unterwegs sogar Fische töten, die sich zu weit annähern.
Dort, wo die Rote Feuerameise sich etabliert, kommt es zu vielen Angriffen auf Menschen, weil sie sich ausgerechnet in vergleichsweise monotonen künstlichen Lebensräumen am wohlsten fühlt, die gut bewässert werden: auf Golfplätzen, auf Freiflächen von Kindergärten und Schulen, in Freibädern und Privatgärten sowie auf landwirtschaftlichen Arealen. Zudem dringen die invasiven Insekten sehr oft in Elektroanlagen und Computergehäuse ein. Kurzschlüsse und defekte Klimaanlagen sind die Folge.
Weltweite Schäden in großer Höhe
In vielen Teilen der Welt habe die Ausbreitung der kleinen Ameise bereits zu »großen bis massiven Folgen für Umwelt, Wirtschaft und soziales Leben« geführt, heißt es in einer Risikobewertung für die Europäische Union aus dem Jahr 2017. Die Risikoanalyse von 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass die Ameise, einmal hier, »nur sehr schwer mit menschlichen Mitteln eingedämmt werden kann«. Es dauerte dennoch bis Juli 2022, bis die EU-Staaten Solenopsis invicta in die Liste der gefährlichsten invasiven Arten aufnahmen. Seitdem sind Mitgliedsstaaten verpflichtet, sofort Alarm zu schlagen, wenn die Art gefunden wird. Binnen dreier Monate müssen sie eine Strategie entwickelt und konkrete Maßnahmen zur Ausrottung der Eindringlinge eingeleitet haben, heißt es im EU-Gesetz über die Bekämpfung invasiver Arten aus dem Jahr 2014. Die Maßnahmen müssten eine »vollständige und dauerhafte Beseitigung« der invasiven Art zur Folge haben, wobei zugleich mögliche Nebenwirkungen für Umwelt und menschliche Gesundheit zu berücksichtigen seien. Diese Frist hat Italien nun schon weit überschritten.
Schon länger da als vermutet
Den ersten Hinweis auf das Vorkommen der Roten Feuerameise in Sizilien bekam der italienische Ameisenforscher Enrico Schifani am 4. Oktober 2022, als ihm ein Bekannter Fotos aus der Nähe der sizilianischen Stadt Syrakus schickte – verbunden mit der Aussage, dass Menschen von diesen Ameisen gestochen worden seien und ihnen das sehr weh getan habe. Schifani schaltete zwei Kollegen ein und sammelte vor Ort mehrere Tiere, denn eine genaue Artbestimmung ist mitunter schwer. Anschließend wollten die drei Forscher zuerst den wissenschaftlichen Begutachtungsprozess durchlaufen.
»Wir befanden uns in einer absurden Situation«Roger Vila, Entomologe
»Wir befanden uns in einer absurden Situation«, erinnert sich Roger Vila, Leiter der Arbeitsgruppe für Ameisen- und Schmetterlingskunde am Institut für biologische Evolution in Barcelona. Die Arten der Gattung seien notorisch schwer auseinanderzuhalten, es gebe Hybriden und so genannte kryptische Arten – also Spezies, die einer bekannten Art stark ähneln und ihr deshalb zugerechnet werden, aber eigentlich eigenständig sind. Auf Sizilien komme zudem eine etwas ähnliche, nicht näher verwandte Art vor. »Als Ameisenexperten wollten wir auf Nummer sicher gehen und uns weder den Behörden noch der Öffentlichkeit gegenüber mit einer Falschmeldung blamieren«, sagt Vila. Am Tag, an dem ihre Studie zur Publikation akzeptiert war, informierten die Forscher die italienischen Behörden. Für die dadurch verlorene Zeit mussten die Wissenschaftler harsche Kritik über sich ergehen lassen – ausgerechnet von jener Umweltbehörde in Rom, die nun auch ein Jahr nach der Meldung noch von keiner Gegenmaßnahme zu berichten weiß. Die Behörde versprach bereits 2023 eine »schnelle Reaktion«.
Einer der Betroffenen ist Stefano Nicolosi. Mit seiner Familie hat er sich südlich von Syrakus 2022 ein Ferienhaus am Meer gekauft, nur um dort auf sehr unliebsame Mitbewohner zu stoßen. »Es war Sommer, wir aßen draußen an einem Tisch, da kletterten einige Ameisen unsere Beine hoch und stachen uns schmerzhaft«, erinnert er sich. Im Folgejahr verschlimmerte sich die Situation. Die Ameisen waren während des Winters in das Haus eingedrungen: »Sie gelangten sogar in einen Koffer mit Kleidung und Lebensmitteln, und nachdem wir die Kleidung in der Waschmaschine gewaschen hatten, lebten darin immer noch Ameisen.« Weil er sich auch sonst für Insekten interessiert, postete er schon im August 2023 ein Bild auf der Naturliebhaber-Plattform iNaturalist. Einen Hinweis, es könnte sich um die Rote Feuerameise handeln, hielt er zuerst für einen Scherz. Die Studie in »Current Biology« beseitigte seinen Zweifel flugs – und weckte bei Nicolosi die Erwartung, dass der italienische Staat schnell einschreiten würde, um die gefürchtete Invasion zu stoppen. Doch: Fehlanzeige.
Nur die Spitze des Eisbergs?
Statt drei Monate, wie vom EU-Recht vorgeschrieben, lässt sich Italien also sehr viel Zeit. – auch wegen der Bedenken gegen Insektizide. Der Sonderbeauftragte der Regionalregierung, Luca Ferlito, zeigt sich inzwischen aber dem Einsatz von Giftködern gegenüber zumindest offen. Er weist darauf hin, dass es derzeit keine Berichte über das Auftreten der Art außerhalb der sizilianischen Provinz Syrakus gibt und zeigt sich optimistisch: »Wenn sich die Ameise in 25 Jahren oder mehr nicht massiv in Sizilien angesiedelt hat, bedeutet dies, dass sie keine idealen Bedingungen vorfindet«, meint er. Mit einer gezielten Suche außerhalb der Provinz Syrakus wird allerdings erst im September 2024 begonnen. Ferlito sagt, er glaube, »dass wir mithilfe der Wetter- und Umweltbedingungen und einer aktiven Bekämpfung die Ausbreitung der Ameise eindämmen und sie vielleicht sogar ausrotten können.« Allerdings verlief die Ausbreitung der Feuerameise in den USA ähnlich, wie der Insektenforscher Edward O. Wilson herausgefunden hat: Ein Wissenschaftler habe die Art 1925 erstmals in Mobile, Alabama, entdeckt. Erst ab 1950 tauchte sie dann plötzlich in weiteren US-Regionen auf.»Wir haben die Art mindestens acht Jahre nach ihrer Ankunft in Sizilien entdeckt«Mattia Menchetti, Entomologe
Für die Wissenschaftler Schifani, Vila und Menchetto steht deshalb eines fest: Die Monitoring- und Abwehrmaßnahmen der EU gegen invasive Arten – sie funktionieren nicht, oder mindestens nicht gut genug. »Es kann nicht sein, dass es an einem Zufallsfund und an dem freiwilligen Engagement von Forschern wie uns liegt, ob eine derart große Bedrohung erkannt wird oder nicht«, sagt Roger Vila. Hätte sein Forscherkollege Enrico Schifani die beiden unscharfen Fotos am 4. Oktober 2022 weggeklickt, um sich weiter seiner Doktorarbeit zu widmen, wäre die Ankunft einer der gefährlichsten invasiven Tierarten in Europa womöglich bis heute nicht bekannt. Nun hat zumindest die EU-Kommission im Blick, ob Italien Gegenmaßnahmen ergreift oder untätig bleibt. Ein Vertragsverletzungsverfahren steht im Raum – und wäre für die italienischen Behörden und die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni durchaus eine Blamage.
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