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Architektur: Lebendige Bauwerke

Die Bionik ist nicht mehr alleine, zu ihr gesellt sich die Baubotanik. Nicht nur von der Natur zu lernen, sondern ihr reichhaltiges Potenzial zu nutzen - das ist ihr Anliegen. Konstruiert wird mit lebenden Holzstoffen.
Der Steg
Holz zählt zu einem der ältesten Baustoffe des Menschen. Die Idee, lebendige Pflanzen als tragende Strukturen einzusetzen, klingt allerdings zunächst eher ungewöhnlich. Doch genau diesen Ansatz verfolgen Architekten der Universität Stuttgart: Unter dem Stichwort "Baubotanik" erforscht seit 2004 das "Institut Grundlagen moderner Architektur", wie sich die natürlichen Wachstumsvorgänge von Bäumen nutzen lassen, um optimale tragende Baustrukturen entstehen zu lassen.

Der Steg im Winter | Der "Steg" ist die bisher größte baubotanische Konstruktion der Stuttgarter Architekten: 64 Weidenbündel tragen in fast drei Metern Höhe einen 22 Meter langen Stahl-Gitterrost.
"Ein Leben lang passen sich Bäume wechselnden Umweltbedingungen an", erklärt Ferdinand Ludwig. "Sie zeigen ein unglaublich breites Spektrum an Formen und Strukturen in Reaktion auf wechselnde Situationen." Baubotaniker nutzen diese Anpassungsvorgänge gezielt, um "lebende Baumaterialien" und "wachsende Tragwerke" zu entwickeln. "Wir sprechen von 'trainierbaren Tragwerken'." Bäume – und damit auch die von Baubotanikern entwickelten Strukturen – reagieren aktiv auf Belastungen: Sie werden an belasteten Stellen dicker oder bilden stabiles Holz aus.

Die Architektur der Natur

Biologen wissen schon lange, dass Holz bei relativ geringem Eigengewicht eine erstaunlich hohe mechanische Leistungsfähigkeit aufweist – sie ist mit derjenigen von Stahl vergleichbar. Doch bei den im herkömmlichen Holzbau eingesetzten Balken und Brettern ist das komplizierte Holzgefüge fast vollkommen zerstört, sodass die Struktur völlig anders belastet wird, als es der Baum ursprünglich "plante". Als totes Material kann das Holz nicht mehr auf neue Belastungen reagieren und Zerstörungen reparieren – was der lebende Baum sein ganzes Leben lang macht. Baubotaniker setzen daher lebende Holzpflanzen direkt als Konstruktionswerkstoff ein. Ihrer Meinung nach passt sich der Werkstoff "lebendes Holz" ohne zusätzliche Kontroll- und Regelungsmechanismen wechselnden Belastungen an.

Der Steg im Sommer | Im Sommer lassen neu austreibende Zweige und Blätter den Steg ergrünen.
Die Stuttgarter Baubotaniker verwenden für ihre Konstruktionen die schnell wachsende Silber- (Salix alba) und Korb-Weide (Salix viminalis). Bei diesen Pioniergewächsen bilden sich rasch neue Wurzeln, Blätter und Zweige aus, sobald man unbewurzelte Pflanzenteile eingräbt. Diese lebenden Bauelemente verbinden die Architekten mit technischen Bauteilen und lassen sie miteinander verwachsen. Dadurch entstehen Strukturen, die von Anfang an die gewünschte Geometrie besitzen und meist unmittelbar nach Fertigstellung belastbar sind.
Das bislang größte in Stuttgart verwirklichte Projekt ist der "Steg": 64 aus Weiden gebildete Bündelstützen formen ein Tragwerk, das auf fast drei Metern Höhe eine 22 Meter lange Laufbahn aus Stahl-Gitterrosten trägt. Das Bauwerk wäre durch statischen Verbund auch ohne Wurzelverankerung im Boden standfest; die Wurzelbildung und das Dickenwachstum der Pflanzen erhöhen aber mit der Zeit immer weiter seine Stabilität.

Handlauf | Der Steg besitzt einen Handlauf aus Edelstahl, der fest mit den tragenden Weiden verwachsen ist.
Bisher ermöglichen diese botanischen Bauwerke nur recht einfache Tragkonstruktionen, die sich auch nur entsprechend eingeschränkt nutzen lassen. In Zukunft wollen die Baubotaniker herausfinden, wie auch größere und komplexere Strukturen gebaut werden können und wie sich die Tragfähigkeit ihrer Bäume über einen längeren Zeitraum weiterentwickelt.

Parasitische Statik

"Die zum Einsatz kommenden Pflanzen müssen ähnliche Anforderungen erfüllen wie die Luftwurzeln einer Würgefeige", erläutert Ludwig. Diese Baumparasiten keimen typischerweise direkt in der Krone eines Wirtsbaums und schicken von dort sehr dünne, hängende Luftwurzeln zum Boden, die sich bei Bodenkontakt verkürzen. Damit erschließt sich die Würgefeige nicht nur den Nährstoff- und Wasservorrat des Bodens, auch die Statik des Wirtsbaum-Feige-Verbunds wird optimiert. Anschließend entsteht ein dichtes Netzwerk – mit fatalen Konsequenzen für den Wirt: Durch sein eigenes Dickenwachstum auf die die ihn umschlingende Struktur der Würgefeige stranguliert er sich selbst und stirbt schließlich auch durch die zunehmende Wurzel- und Kronenkonkurrenz des immer stärker dominierenden Schmarotzers ab. Der Baum fault weg, und die Feige erreicht allmählich eine eigene Stabilität.

Weidenprinz-Pavillon | In Überlingen am Bodensee steht der 2005 gebaute Weidenprinz-Pavillon. Die Bäume formen eine grüne Wand und tragen ein leichtes Sonnen- und Regendachs. Sturm- und Schneelasten hat die Konstruktion bisher problemlos widerstanden.
Werden solche Pflanzen als baubotanische Strukturen eingesetzt, benötigen sie übergangsweise einen "Wirtsbaum", also eine Stützstruktur. Hierfür wollen die Baubotaniker Tragwerke verwenden, die über Druckluft eine zeitlich begrenzte Stützfunktion übernehmen. Solche luftgestützten Tragwerke sind nicht nur leicht, ihre Steifigkeit lässt sich auch recht einfach steuern, sodass sich die Pflanzen allmählich an ihre tragende bauliche Funktion anpassen.

Wer sich Pflanzen in baubotanischer Weise zu Nutze macht, bekommt auch Kritik zu hören. Immer wieder wird den Forschern vorgeworfen, sie seien "Baumquäler" und hinderten das Gewächs daran zu werden, wie es will. Baubotaniker seien von dem sehnsüchtigen Wunsch getrieben, die Natur zu beherrschen und für ihre Zwecke frei gestalten zu können.
"Dem Baum ist es schlichtweg egal, ob er Blätter trägt oder ein Auto"
(Ferdinand Ludwig)
Dem widersprechen die Baubotaniker entschieden. "Wir nutzen lediglich die natürlichen Mechanismen des Baumwachstums, ohne diesen in seinen Lebensfunktionen einzuschränken", meint Ludwig. "Dem Baum ist es schlichtweg egal, ob er Blätter trägt oder ein Auto – solange er genügend Blätter hat, um seine Lebensfunktion aufrecht zu erhalten."

Wahrscheinlich wird sich die Baubotanik für die breite Masse von Bauwerken nicht durchsetzen. Aber die Architekten wollen konventionelle Formen des Bauens auch gar nicht generell ersetzen. Einsatzmöglichkeiten sehen sie vielmehr in besonderen Bauaufgaben, bei denen ökologische und sinnliche Eigenschaften von Bedeutung sind. In Zukunft wollen die Baubotaniker ganze Städte zu Parks erwachsen lassen, die bewohnbare Teile einer Stadt enthalten. So entstehen Gartenstädte, denen dieser Namen tatsächlich zusteht.

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