Gedächtnis: Lernen im Schlaf? Na klar!
In Aldous Huxleys Roman »Schöne neue Welt« schläft ein kleiner Junge friedlich in seinem Bettchen, während im Radio ein berühmter Schriftsteller spricht. Als Reuben erwacht, kann er den gesamten Wortlaut der Rede wiedergeben – obwohl er noch nicht einmal die englische Sprache beherrscht! Diese Entdeckung nutzt die totalitäre Regierung in Huxleys dystopischer Zukunftswelt, um das Bewusstsein ihrer Bürger durch nächtliche Beschallung zu manipulieren. Aber so etwas ist natürlich nicht möglich … oder etwa doch?
Vermutlich weiß jeder, dass es sich ausgeruht besser lernt; dagegen wurde die Idee des Lernens im Schlaf in den vergangenen 50 Jahren von kaum einem Wissenschaftler wirklich ernst genommen. Angesichts neuerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse könnte sich das Blatt jetzt wenden. Zum einen findet ein wichtiger Teil der Lernprozesse offenbar tatsächlich während des Schlafens statt. Schon seit mehreren Jahren ist bekannt, dass frisch entstandene Erinnerungsinhalte nachts unbewusst reaktiviert werden, was dazu beiträgt, sie im Gedächtnis zu verankern. Zum anderen haben es Forscher inzwischen geschafft, genau diese nächtlichen Gehirnprozesse bei Versuchspersonen durch bestimmte Geräusche oder Gerüche gezielt zu steuern: Die Probanden konnten sich dadurch ausgewählte Dinge besser merken als andere. Und nicht zuletzt gelang es Wissenschaftlern, schlafenden Menschen einfache Lernzusammenhänge ganz neu zu »implantieren«.
Als Aldous Huxley seinen berühmten Roman schrieb, hatten Wissenschaftler bereits erste Versuche unternommen, Personen im Schlaf zu manipulieren. 1927 erfand der geschäftstüchtige New Yorker Alois B. Saliger eine »automatische zeitgesteuerte Suggestionsmaschine«, die er als »Psychophon« vertrieb. Sie spielte einen zuvor aufgenommenen Text in der Nacht wiederholt ab. Dieses Verfahren schien Huxleys Zukunftsvision vorwegzunehmen, nur dass der Anwender selbst über den Inhalt der vermittelten Botschaft bestimmen sollte.
Auf Saligers Erfindung folgten in den 1930er und 1940er Jahren Publikationen, die über angebliche Beispiele für gelungenes Lernen im Schlaf berichteten. In einer Veröffentlichung von 1942 beschrieb Lawrence LeShan, der damals am College of William and Mary in Virginia forschte, ein Experiment, das er in einem Jugendcamp durchgeführt hatte. Einige der Jungen hatten die Angewohnheit, an den Nägeln zu kauen. Mit Hilfe eines tragbaren »Phonographen« spielte LeShan 20 von ihnen nachts immer wieder die gleiche Botschaft vor: »Meine Fingernägel schmecken schrecklich bitter.« Dieser Satz ertönte erstmals zweieinhalb Stunden nach dem Zubettgehen und wurde daraufhin 300-mal abgespielt. Das Ganze wiederholte sich in insgesamt 54 aufeinanderfolgenden Nächten.
Zweifel an Suggestionskraft
Zwei Wochen vor Ende des Ferienlagers ging der Phonograph kaputt, und LeShan übernahm selbst die nächtliche Suggestion. Er sah seine Mühen belohnt: Tatsächlich hörten acht Jungen mit dem Nägelkauen auf. In der Kontrollgruppe von 20 Kindern hatten dagegen alle ihre Angewohnheit beibehalten. Da LeShan aber nicht beweisen konnte, dass die Probanden während der Beschallung tatsächlich geschlafen hatten, bezweifelte man seine Ergebnisse.
1956 traten zwei Wissenschaftler der RAND Corporation auf den Plan. Diese Denkfabrik wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, um die amerikanischen Streitkräfte zu beraten. Per Elektroenzephalografie (EEG) hatten Charles Simon und William Emmons die Hirnaktivität von schlafenden Probanden überwacht, denen sie 96 Fragen und Antworten vorlasen (zum Beispiel: »In welcher Art von Geschäft arbeitete Ulysses S. Grant vor dem Sezessionskrieg?« Antwort: »In einem Eisenwarenladen.«). Am nächsten Tag konnten sich Versuchspersonen lediglich an jene Antworten erinnern, die präsentiert wurden, als sie Anzeichen von nächtlichem Erwachen zeigten! Die dargebotenen Informationen waren also offenbar nur dann ins Gedächtnis gelangt, wenn die Versuchsteilnehmer nicht wirklich geschlafen hatten. Angesichts dieser Ergebnisse verlor die Zunft den Glauben daran, dass Lernen im Schlaf tatsächlich möglich sei.
Die meisten Neurowissenschaftler mieden das Thema seitdem. Einige untersuchten aber, ob Schlafentzug die Fähigkeit zur Speicherung neuer Inhalte beeinträchtigt. Leider verzerrten verschiedene Störfaktoren die Ergebnisse. Zum Beispiel kann allein der durch Schlafmangel verursachte Stress kognitive Funktionen beeinträchtigen. Erst allmählich gelang es, die methodischen Fallstricke zu umgehen. So bestätigt heute eine solide Datenbasis, dass Schlaf dazu dient, neue Gedächtnisinhalte, die während des Tages erworben wurden, durch die nächtliche Reaktivierung im Langzeitgedächtnis zu festigen. Damit war die Wirkung des Schlafs auf das Gedächtnis als Forschungsgegenstand rehabilitiert.
Viele Wissenschaftler, die sich nun wieder des Themas annahmen, konzentrierten sich zunächst auf die Schlafphase mit schnellen Augenbewegungen, den REM-Schlaf. Hier träumen wir am häufigsten und lebhaftesten. Konnte die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten mit Träumen in Zusammenhang stehen? Doch eindeutige Belege dafür blieben aus, und 1983 spekulierten zwei bekannte Wissenschaftler, Graeme Mitchison und Francis Crick, der Traumschlaf sei eher für das Vergessen überflüssiger Informationen verantwortlich. Hierzu passend stellten Giulio Tononi und Chiara Cirelli von der University of Wisconsin in Madison die Hypothese auf, dass der REM-Schlaf Verbindungen zwischen bestimmten Nervenzellen schwächen würde, was die Aufnahme neuer Informationen am folgenden Tag erleichtere.
Etliche Forscher nahmen nicht den REM ins Visier, sondern den Slow-Wave-Schlaf (SWS), eine Phase tiefen Schlummers ohne rasche Augenbewegungen. 2007 führte ein Team um Björn Rasch und Jan Born an der Universität Lübeck folgendes Experiment durch: Im Wachzustand prägten sich die Teilnehmer die genaue Position von Motiven auf dem Bildschirm ein, während sie gleichzeitig Rosenduft schnupperten. Später wurden sie im Schlaf dem gleichen Duft ausgesetzt; dabei überwachten die Forscher mittels Ableitung der Hirnströme, in welcher Schlafphase sich die Teilnehmer gerade befanden. Der Duft aktivierte offenbar den Hippocampus, einen Hirnbereich, der für die räumliche Orientierung und die Speicherung neu hinzugewonnener Informationen essenziell ist. Nach dem Erwachen erinnerten sich die Probanden tatsächlich deutlich besser an die gelernten Ortsinformationen, allerdings nur, wenn sie den Rosenduft während der SWS eingeatmet hatten.
Zwei Jahre später erweiterten wir diesen Studienansatz, wobei wir Geräusche statt Gerüche benutzten. Die Probanden lernten zuerst die Position von 50 Bildern, auf denen etwa eine Katze oder ein Teekessel zu sehen war. Gleichzeitig hörten sie jeweils ein passendes Geräusch: ein Miauen, ein Pfeifen und so weiter. Nach dieser Lernphase machten die Probanden in unserem Schlafraum ein Nickerchen. Mittels Ableitung der Hirnströme über Elektroden am Kopf stellten wir sicher, dass sie tatsächlich schliefen.
Sobald das EEG eine SWS-Phase anzeigte, spielten wir Geräusche ab, die zu einer Teilmenge der Objekte aus der Lernphase gehörten. Die Geräusche ertönten recht leise, nicht viel lauter als der Pegel der allgemeinen Hintergrundgeräusche, so dass sie die Probanden nicht aufweckten. Nach dem Erwachen erinnerten sich diese besser an den Ort von Objekten, die im Schlaf akustisch nochmals aufgerufen worden waren. Die verwendeten Geräusche reaktivierten offenbar gezielt das Gedächtnis und verhinderten so das Vergessen! Wir konnten dadurch die Erinnerung an bestimmte Informationen unserer Wahl verbessern. Daher bezeichneten wir unsere Methode als gezielte Gedächtnisreaktivierung (TMR – Targeted Memory Reactivation).
Hört das schlafende Gehirn?
Zu Beginn war unser auditives Verfahren sehr umstritten, denn unter Schlafforschern herrschte die Auffassung vor, die sensorischen Netzwerke der Hirnrinde seien – mit Ausnahme des Geruchssinns – beim Schlafen quasi abgeschaltet. Doch wir ließen uns nicht beirren und verfolgten unsere Hypothese, wonach das wiederholte leise Abspielen von Geräuschen das schlafende Gehirn veranlasst, zuletzt gespeicherte Inhalte nochmals zu bearbeiten. Tatsächlich bestätigten sich die TMR-Effekte auf die Merkfähigkeit in zahlreichen Studien. Mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie und EEG ließ sich sogar beobachten, welche Hirnareale und welche Hirnwellenmuster an dem TMR-Prozess beteiligt sind. Zwei 2018 veröffentlichte Arbeiten – eine von Scott Cairney und Kollegen an der University of York in England, die andere von einem Team um James Antony an der Princeton University – konnten das Auftreten von »Schlafspindeln« im EEG mit dem nächtlichen, TMR-vermittelten Aufruf von Erinnerungen in Zusammenhang bringen.
Durch TMR lässt sich das Erlernen einer Klaviermelodie optimieren oder das Memorieren von Vokabeln und Grammatikregeln. Zudem kann die Technik eine Konditionierung verstärken, also etwa die automatische Reaktion auf einen Reiz, der zuvor mit einem elektrischen Schlag gekoppelt war. Aktuell laufende Studien prüfen den Einsatz bei weiteren Gedächtnisleistungen, wie bei der Verknüpfung von Namen mit Gesichtern nach dem ersten Kennenlernen.
Regloses Bewegungslernen
Künftig könnte die TMR auch bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen zum Einsatz kommen. Unser Team prüft derzeit zusammen mit dem Neurologen Marc Slutzky von der Northwestern University Möglichkeiten, Schlaganfallpatienten dabei zu unterstützen, Arme und Hände wieder besser zu benutzen. Bei den Trainingsübungen ertönen Markierungsklänge, die dann während des Schlafs wiederholt werden. Wir hoffen, dass die Patienten dadurch verloren gegangene Bewegungsabläufe schneller wieder erlernen. Die Erfolgsaussichten sind gut, denn wie wir bereits wissen, kann die TMR ähnliche motorische Lernprozesse bei gesunden Probanden beschleunigen.
Da Gedächtnisinhalte also offenbar mittels TMR gefestigt werden können, stellt sich die Frage, ob nicht doch auch ganz neue Informationen während des Schlafs – vom Schlafenden unbemerkt – ins Gehirn »hochgeladen« werden können. Freilich würde das ethische Probleme aufwerfen. Die konventionelle Antwort auf derartige Spekulationen war über viele Jahre ein klares »Nein, das ist unmöglich«. Aber einem Team um Anat Arzi, inzwischen an der University of Cambridge, gelang es, durch gezielten Einsatz von Gerüchen einfache Lernzusammenhänge neu zu erzeugen. So konnten sie in einem Experiment bei Rauchern das Verlangen nach der nächsten Zigarette verringern. Dazu setzten sie die schlafenden Teilnehmer dem Geruch von Zigarettenrauch und verdorbenem Fisch aus. In der darauf folgenden Woche zündeten sich diejenigen, denen beide Gerüche gleichzeitig präsentiert worden waren, im Schnitt 30 Prozent weniger Zigaretten an. Offensichtlich assoziierten sie das Rauchen nun mit einem abstoßenden Fischgeruch!
Ein Team um Karim Benchenane vom französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) manipulierte dagegen die Ortspräferenzen von Mäusen in ihrem Käfig – während diese schliefen. Wie man heute weiß, feuern einzelne Neuronen, so genannte Platzzellen, wenn das Tier bestimmte Zonen des Geheges durchquert. Dieselben Nervenzellen werden im Schlaf erneut aktiv: Offenbar wird dann die Erinnerung an die jeweiligen Orte abgespielt. Die Forscher stimulierten nun das Belohnungszentrum des Mäusegehirns genau in dem Moment, in dem die zugehörigen Platzzellen im Schlaf aktiv wurden. Interessanterweise verbrachten die Tiere danach mehr Zeit an den entsprechenden Stellen im Käfig und begaben sich nach dem Aufwachen sofort dorthin.
Die Grenzen des Machbaren sind noch nicht ausgelotet. Klar ist, dass das Gehirn nachts weiterlernt. Schlaf dient sicher nicht nur der Erholung, sondern trägt auch dazu bei, die Lerninhalte dauerhaft zu fixieren. Schlechter oder zu kurzer Schlaf wirkt sich daher negativ auf die Erinnerungsleistung aus. Die aktuellen Erkenntnisse zur gezielten nächtlichen Gedächtnisreaktivierung könnten zu Schlaf-Lern-Programmen führen, die den Erwerb von Wissen beschleunigen oder aber dabei helfen, schlechte Gewohnheiten wie das Rauchen abzulegen. Und in fernerer Zukunft könnte es sogar gelingen, die Kontrolle über Träume zu gewinnen, und auf diese Weise Albträume loszuwerden, erholende Traumreisen zu unternehmen oder Probleme im Schlaf zu lösen. Eine Gesellschaft, welche die Smart Watch zur Schlafüberwachung nutzt und Gentests per Post bestellt, wird auch bereit sein, darüber nachdenken, die nächtliche Auszeit produktiv zu nutzen. Für manche mag dies eine erschreckende Vorstellung sein, für andere eine willkommene Gelegenheit, das eigene Gehirn zu tunen.
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