Mikrobiom: Kleine Untermieter im Tumor
In unserem Körper wimmelt es nur so von Mikroben: Mengenmäßig übertrumpfen allein die dort lebenden mehr als 30 Billionen Bakterien sogar die Zahl menschlicher Zellen. Und in dieser Schätzung sind die anderen Mitbewohner wie Viren und Pilze noch gar nicht eingerechnet. In den letzten Jahren kristallisierte sich zunehmend heraus, wie eng das Mikrobiom mit unserer Gesundheit verwoben ist. Von Bakterien weiß man bereits, dass sie die Entstehung von Krebs beeinflussen – und wie gut dieser auf Therapien anspricht. Aber auch Pilze scheinen sich auf den Verlauf von Krebserkrankungen auszuwirken, obwohl sie in unserem Körper weitaus seltener vorkommen.
Bereits im späten 19. Jahrhundert vermuteten Wissenschaftler, dass Mikroorganismen Krebsgeschwüre besiedeln. »1884 erschien der erste Artikel, in dem Bakterien in Tumorzellen beschrieben wurden«, erklärt Jens Puschhof vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. »Das hat aber überhaupt nicht verfangen, und fast 100 Jahre lang haben sich die Felder der Mikrobiologie, Onkologie und Immunologie größtenteils parallel entwickelt.« Die Krebsforschung konzentrierte sich auf genetische Veränderungen und gestörte Signalwege. Gleichzeitig entwickelten sich die Methoden der Mikrobiologie weiter – es gelang, viele neue Bakterien zu kultivieren und Antibiotika zu entwickeln.
Hinweise durch Immuntherapie
Seit den 1990er Jahren ist BCG, ein abgeschwächter Stamm des Bakteriums Mycobacterium bovis, als Therapie für bestimmte Formen vom Blasenkrebs zugelassen – der Erreger wird direkt per Katheter in die Blase injiziert. Die folgende Immunreaktion richtet sich zwar nicht spezifisch gegen den Tumor, aktiviert jedoch körpereigene Killerzellen, die das entartete Gewebe beseitigen. »Relativ früh gab es damit Hinweise darauf, dass das Immunsystem lokal aktiviert wird, den Krebs erkennt und bekämpft«, sagt Jens Puschhof.
Ähnliches hatte man auch schon im 19. Jahrhundert beobachtet: Bei manchen Krebspatienten schrumpfte der Tumor, wenn sie durch eine bakterielle Infektion an hohem Fieber litten. Trotzdem änderte sich unser Blick auf das Zusammenwirken von Mikroben und Krebs erst dann grundlegend, als Immuntherapien die Krebsbehandlung revolutionierten, wie der DKFZ-Forscher berichtet: »Wir fangen langsam an zu verstehen, wie wir das Immunsystem gegen bestimmte Krebsarten aktivieren können. Es ist naheliegend zu fragen, was für eine Rolle die Bakterien dabei spielen.«
2020 wiesen zwei Forschungsgruppen unabhängig voneinander nach, dass die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft im Darm beeinflusst, ob ein Patient mit Hautkrebs auf eine Immuntherapie anspricht. Bei jenen mit günstigem Krankheitsverlauf waren bestimmte Abwehrzellen verstärkt aktiv. Probanden und Probandinnen, bei denen die Behandlung keine Wirkung zeigte, erhielten das Mikrobiom von Personen, die darauf ansprachen – und damit verbesserte sich auch ihr Therapieerfolg.
Fachleute der kanadischen University of Calgary untersuchten den Mechanismus genauer. Sie fanden heraus, dass das Darmbakterium Bifidobacterium pseudolongum den Verlauf von Hautkrebs positiv beeinflusst, indem es Inosin produziert. »Der Metabolit wandert aus dem Darm in den Blutstrom«, erläutert Puschhof. »Er sorgt dafür, dass die Immuntherapie besser wirkt, weil Immunzellen das Inosin der Darmbakterien benötigen.«
Mikroorganismen als Krebstreiber
Leider sind nicht alle Mikroben derart hilfreich. Mittlerweile schätzt man, dass rund 20 Prozent der Krebserkrankungen mit einer viralen oder mikrobiellen Infektion zusammenhängen. Die meisten solchen Fälle sind auf nur wenige Viren zurückzuführen, etwa HPV bei Gebärmutterhalskrebs, Epstein-Barr-Virus bei Lymphomen, Hepatitis-B- und -C-Viren bei hepatozellulärem Karzinom und HTLV bei Leukämie und Lymphomen. Helicobacter pylori ist weiterhin das einzige Bakterium, welches von der International Agency for Research on Cancer als Ursache für eine menschliche Krebsart anerkannt ist. So zeigten Barry Marshall und Robin Waren, dass es Magengeschwüre und in deren Folge Magenkrebs verursacht – sie erhielten für ihre Entdeckung 2005 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
»Fast 100 Jahre lang haben sich die Felder der Mikrobiologie, Onkologie und Immunologie größtenteils parallel entwickelt«Jens Puschhof, Krebsforscher
Die Liste der potenziell Krebs erregenden Mikroben wurde aber seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr aktualisiert, und es mehren sich die Hinweise darauf, dass H. pylori kein Einzelfall ist: Dutzende Mikroorganismen könnten demnach Krebs beeinflussen und befeuern, auf die unterschiedlichsten Arten.
Dank neuer Techniken wie Genomsequenzierung oder Shotgun-Metagenomik (hierbei wird der gesamte DNA-Gehalt einer Probe analysiert) ließen sich bereits viele Bakterien identifizieren, die in einem frühen Stadium von Krebs besonders häufig zu finden sind. Ein Team um Jens Puschhof zeigte 2020, dass bestimmte Stämme des Bakteriums Escherichia coli Darmkrebs fördern. Und auch Fusobacterium nucleatum, welches unsere Mundhöhle sowie unseren Darm bevölkert, wird seit einigen Jahren mit Darmkrebs in Verbindung gebracht.
Viele denkbare Mechanismen
So klar wie bei H. pylori und Magenkrebs ist der Zusammenhang jedoch bei keiner anderen Bakterienart, betont Puschhof. »Angesichts der großen Datensätze an Mikroben fragen wir uns: Welches Bakterium macht denn wirklich was – und wie trägt es zur Entstehung von Krebs bei?« Hier gibt es mehrere Ideen, die sich gegenseitig nicht ausschließen. Einerseits könnten Bakterien lang anhaltende Entzündungen verursachen, andererseits Krebs fördernde Mutationen in unseren Körperzellen erzeugen. Eine weitere Möglichkeit: Die Mikroben schaffen eine immununterdrückende Umgebung, in der Tumoren besser wachsen.
»Die Zusammenhänge zwischen chronischer Entzündung und Krebs werden intensiv erforscht«, sagt Puschhof. Bekannt ist: Bei anhaltenden Entzündungen versucht der Körper immer wieder Gewebe zu reparieren, was die Zellteilung anregt. Diese Prozesse erhöhen das Risiko für Mutationen und fördern so die Entstehung und das Wachstum von Tumorzellen.
Zudem wies man nach, dass manche Stämme des Darmbakteriums Escherichia coli Mutationen in Darmzellen auslösen – durch das Molekül Colibactin, welches menschliche DNA schädigt. Und genau diese E. coli-Stämme finden sich vermehrt bei Patienten, die an Dickdarmtumoren leiden. Allerdings gibt es hier Unterschiede. So bleiben manche Colibactin erzeugende Stämme in der Schleimschicht des Darms und verursachen nur wenige Mutationen. Andere dagegen sitzen direkt an Darmzellen und dringen sogar in die tieferen Gewebeschichten ein. Die DNA-Schäden und Krebserkrankungen waren in Mäusen, die mit Letzteren besiedelt waren, deutlich höher.
»Wir untersuchen nun, ob Pilze etwa Toxine produzieren, die ihre Umgebung beeinflussen, oder ob sie auf andere Weise die Immunantwort triggern«Iliyan Iliev, Immunologe
Das könnte erklären, warum sich entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa teilweise zu Darmkrebs entwickeln – bei den Betroffenen sammeln sich bestimmte Bakterien an, die das Erbgut schädigen. »Daran forschen wir aktuell mit einer Gruppe an der Yale University«, berichtet Puschhof.
Bakterien, die auf Tumoren wachsen
Und schließlich wird auch die alte Idee wieder aufgegriffen, dass Bakterien Tumoren besiedeln und sich in deren Zellen einschleusen. Das verschafft der eindringenden Mikrobe zahlreiche Vorteile, etwa Schutz vor dem Immunsystem sowie ein günstiges Nahrungsumfeld bis hin zu einer Nische, um sich zu replizieren. Es gibt Hinweise darauf, dass Bakterien bestimmte Bereiche eines Tumors kolonisieren und dadurch eine andere Immunumgebung schaffen. Einerseits könnten sich eindringende Mikroben eine Nische mit reduzierter Immunantwort schaffen – womit auch der Tumor dem Angriff durch das Immunsystems entgeht. Andererseits könnte die Immunattacke auf einen Tumor gerade wegen seiner Untermieter stärker ausfallen: Etwa, wenn Immunzellen die Antigene von intrazellulären Bakterien entdecken und daraufhin die Krebszellen angreifen.
Noch ist unklar, wie einflussreich die intrazellulären Bakterien tatsächlich sind, sagt Puschhof. »Bei Organen, die normalerweise ebenfalls ein Mikrobiom haben – wie etwa der Verdauungs-, aber auch der Vaginaltrakt oder die Haut – sind die Daten meiner Auffassung nach sehr überzeugend.«
Für Krebs in anderen Organen, beispielsweise in der Brust oder im Gehirn, sei die Datenlage noch unzureichend, so Puschhof: »Hier sind noch weitere Studien nötig, um eine Rolle von Bakterien nachzuweisen. Vor allem: Ist das Mikrobiom konsistent zwischen Patienten? Wie viele Bakterien sind es? Und ist das tatsächlich genug, um funktionell relevant zu sein?«
Auch der Beitrag von Bakterien zur Metastasierung ist nicht vollständig verstanden und ein Forschungsfeld, das sich noch in den Kinderschuhen befindet. Eine Studie aus dem Jahr 2017 wies das gleiche Bakterium bei einem Patienten sowohl im Primärtumor im Darm als auch in einer Lebermetastase nach. Es handelte sich dabei nicht nur um die gleiche Spezies, sondern tatsächlich um den identischen Bakterienstamm. Die Entdeckung wirft spannende Fragen auf, findet Jens Puschhof: »Wandern die Bakterien zusammen mit den Krebszellen zu neuen Organen? Und wie beeinflussen sich Krebszellen und Bakterien während dieses Prozesses gegenseitig?« Der DKFZ-Forscher und sein Team untersuchen solche Fragen nun systematisch und wollen unter anderem herausfinden, wie sie in die Vorgänge eingreifen können.
Die Rolle der Pilze
Bakterien machen zwar einen großen Teil unserer Biomasse aus, aber auch andere Mikroorganismen besiedeln unseren Körper. Hier rücken derzeit vor allem Pilze in den Fokus der Forschung. Diese konnten mit den Sequenzierungsmethoden, mit denen sich das bakterielle Mikrobiom aufspüren ließ, nicht erfasst werden, erklärt Puschhof. »Wir brauchen hier andere Ansätze und hinken daher etwas hinter der Forschung an Bakterien hinterher.«
Iliyan Iliev vom Weill Cornell Medical College in New York, arbeitet mit seinem Team daran, die Rolle von Pilzen bei Krebserkrankungen zu verstehen. Iliev konnte 2022 belegen, dass menschliche Tumorproben Pilze, also ein »Mykobiom«, enthalten. Dafür suchten er und seine Kollegen zunächst nach Spuren von Pilz-DNA in den Sequenzierungsdaten von Krebsgeschwüren. Da Pilze in unserem Körper selten sind, war die Suche schwierig.
»Wir fanden die mikrobiellen Signale um Tumorzellen herum, nicht innerhalb von Zellen«, sagt Iliev. So entdeckten sie, dass Pilze im Zusammenhang mit Magen-, Darm- sowie Kopf-Hals-Krebs auftreten. Bei Darmkrebs sagte das Vorhandensein der Spezies Candida vorher, ob der Tumor Metastasen bilden wird. »Wir sehen auch einen Zusammenhang mit Lungen- und Brustkrebs, diesen haben wir aber nicht validieren können«, so der Immunologe.
»Wir sollten Pilze nicht einfach ignorieren«Deepak Saxena, Pathobiologe
Bisher wurde zwischen Pilzen und Krebs lediglich eine Korrelation hergestellt, betont Iliev. Ob Pilze ursächlich wirken, ist noch ungeklärt. »Wir untersuchen nun, ob sie Toxine produzieren, die ihre Umgebung beeinflussen oder auf andere Weise die Immunantwort verändern.« 2022 zeigte eine Studie etwa, dass Pilzbesiedelung bei Bauchspeicheldrüsenkrebs die Freisetzung eines Proteins namens IL-33 fördert, welches die Immunantwort hemmt. Dadurch könnte der Krebs die Abwehrreaktionen des Immunsystems umgehen.
Auch Deepak Saxena und seine Arbeitsgruppe von der New York University untersucht das Mykobiom; 2019 entdeckten sie den Zusammenhang zwischen Pilzen und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Pathobiologe hält es aber für unwahrscheinlich, dass Pilze Krebs direkt verursachen: »Was wir sagen, ist, dass das Mikrobiom – in diesem Fall Pilze – das Tumorwachstum fördert.« Wenn ein genetisch vorbelasteter Mensch ein höheres Risiko habe, Bauchspeicheldrüsenkrebs zu entwickeln, und dazu ein Ungleichgewicht im Mikrobiom bestehe, so könnten sich Tumoren hier viel schneller entwickeln als bei Personen mit einem gesunden Mikrobiom.
Und die einzelnen Mitglieder der Mikrobengemeinschaft sind nicht unabhängig voneinander. Ein nächster Schritt ist daher, so Saxena, das Zusammenspiel zwischen ihnen näher zu beleuchten. »Pilze und Bakterien hängen zusammen. Erhöht sich die Zahl einer Pilzart, so steigt auch die Menge bestimmter Bakterien.« Womöglich sind hier Metabolite involviert: Bakterien erzeugen Stoffwechselprodukte, die das Wachstum von Pilzen fördern. Oder die Immunantwort des Wirtsorganismus beeinflusst beide, etwa bei einer Entzündung. »Im gesunden Organismus existieren Bakterien, Pilze und Viren in einer Balance. Dieses Netzwerk ist schwierig zu untersuchen und zu verstehen. Wir brauchen mehr Studien – aber wir sollten Pilze nicht einfach ignorieren«, betont Saxena.
Potenzial für neue Therapien
Bisher haben die Erkenntnisse noch nicht die Therapie verändert – doch das Potenzial dafür besteht. »Ähnlich wie für Hautkrebs gibt es nun zahlreiche klinische Studien für andere Krebsarten, die untersuchen, wie sich das Mikrobiom auf den Erfolg einer Immuntherapie auswirkt«, sagt Puschhof. Bei Hautkrebs wird bereits das »fecal microbiota transplant« erprobt. Durch diese Stuhltransplantation verändert man das Mikrobiom von Patienten derart, dass es jenem von Personen ähnelt, die auf Immuntherapie gut ansprechen. Denkbar wäre in Zukunft auch, Betroffenen gezielt mikrobielle Metabolite zu geben.
»Ein weiteres großes Potenzial besteht bei der Dosierung und Auswahl von Chemotherapeutika«, so Jens Puschhof. So könnte sich das Mikrobiom auf oral einzunehmende Medikamente auswirken. 5-Fluorouracil etwa, ein häufig verabreichtes Chemotherapeutikum, wird von Darmbakterien abgebaut. »Haben wir dann vielleicht Patienten, die eine ganz andere Dosis des Medikaments brauchen, weil ihre Darmmikroben die Chemotherapie verdauen? Auch hier könnten die unbeachteten Effekte des Mikrobioms gewaltig sein.«
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