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Neuroethik: Moral ohne Stoppschalter

Was gut ist und was schlecht, entscheidet die Moral. Doch manchmal gibt es Situationen, in denen beide möglichen Optionen moralisch nicht zu verantworten sind. Hier helfen meist die Gefühle dabei, das ethische Problem zu lösen. Doch was passiert, wenn das emotionale Zentrum im Gehirn ausfällt?
Gehirn
"Ein Bekannter mit Aids will andere Menschen mit der Krankheit anstecken. Würden Sie ihn töten, um die Unschuldigen zu retten?" Eine eigentlich unbeantwortbare Frage. Doch genau dies verlangte der Neurologe Michael Koenigs von der Universität von Iowa von dreißig Probanden, die er zu einer Studie über moralische Entscheidungen eingeladen hatte. Mit Hilfe ihrer Antworten wollten er und sein Team überprüfen, wie sehr Emotionen moralische Entscheidungen beeinflussen.

Ein Philosoph der alten Schule würde hier möglicherweise schon insistieren. Moralische Entscheidungen, so lautete lange Zeit die landläufige Lehrmeinung, werden durch rationales Überprüfen einer Situation anhand festgelegter Regeln getroffen. Ob solche Regeln nun auf den christlichen Zehn Geboten oder der kantischen Befragung der eigenen Vernunft beruhen, sei dabei erst einmal dahin gestellt. Gefühle jedoch hatten nach traditioneller Auffassung zur Lösung moralischer Probleme nichts beizutragen.

Die modernen Naturwissenschaften haben diese scharfe Trennung jedoch aufweichen lassen. Studien zeigten, dass je nach aktueller Gefühlslage auch moralische Entscheidungen unterschiedlich ausfallen konnten. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren konnte zudem nachgewiesen werden, dass bei der Überlegung über einen moralischen Sachverhalt immer auch jene Hirnareale aktiviert werden, in denen Emotionen verarbeitet werden. Gefühle also haben durchaus ein Wörtchen mitzureden.

Was passiert jedoch, wenn die emotionsverarbeitenden Hirnareale nicht mehr richtig funktionieren? Verändert dies auch die Moral? Um dies in Erfahrung zu bringen, luden Koenigs und sein Team zu ihrem Experiment gezielt sechs Probanden ein, die seit ihrem Erwachsenenalter an einer beidseitigen Läsion des vorderen und mittleren präfrontalen Kortex litten. Da in diesem Areal Emotionen verarbeitet werden, reagierten die Probanden als Folge der Schädigung kaum noch auf Gefühle. Auch soziale Empfindungen wie Schuld, Scham oder Mitgefühl waren bei ihnen weniger ausgeprägt – obwohl sie genau wussten, welche moralischen Normen es gibt. Als Kontrollgruppen fungierten jeweils zwölf gesunde Menschen sowie ein Dutzend Teilnehmer mit einer Hirnschädigung in anderen Arealen.

Um ihr moralisches Urteilsvermögen zu testen, stellten die Forscher fünfzig Szenarien vor, in denen eine Entscheidung zu treffen war. Wie etwa würden die Teilnehmer reagieren, wenn sie die Gleisführung für einen unkontrolliert dahinrasenden Güterzug beeinflussen könnten, der auf fünf unschuldige Menschen zurast? Würden sie die Fahrt des Zugs ändern und in Kauf nehmen, dass dann statt der fünf ein einzelner Mensch sterben müsste? Auf diese Frage reagierten die Probanden alle gleich: Ja, sie würden den Zug umleiten und so ein Leben opfern, um fünf zu retten. Sie wählten aus zwei grauenvollen Optionen diejenige aus, die den meisten Beteiligten nutzen würde.

Was aber, wenn sie selbst die eine Person vor den Zug werfen müssten, um die fünf zu retten? Hier gingen die Meinungen in allen Gruppen auseinander. Sich die aktive Tötung eines Menschen vorzustellen, löste heftige Emotionen aus: Die utilitaristische Regel des Nutzens für die Mehrheit, die theoretisch auch in diesen Situationen hätte gelten können, ignorierten viele Versuchsteilnehmer – die Abscheu vor einer aktiven Tötung war zu groß. Entsprechend gemischt fielen die Antworten in den Probandengruppen aus. Nur die Teilnehmer mit der Läsion im Emotionszentrum zeigten eine klare Tendenz: Sie würden auch aktiv einen Menschen opfern, um andere zu retten.

Anders als die Kontrollgruppen entschieden sie nach den Regeln der Vernunft – selbst dann, wenn ihre Entscheidungen sie oder ihre Liebsten betroffen hätten. Schuldgefühle oder Mitleid konnten sie auf Grund ihrer spezifischen Hirnschädigung nicht beeinflussen. Anders als den normalen Menschen fehlte ihnen der emotionale Stoppschalter, der normalerweise dann eingreift, wenn die Entscheidung zu persönlich wird. Gefühle, folgern die Wissenschaftler aus ihrem Test, spielen also doch eine entscheidende Rolle in unserem moralischen Empfinden. Wenn sie uns überrollen, werden wir bestechlich – und verhindern so, dass wir Taten begehen, die in der Gemeinschaft kein Verständnis fänden.

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