Geplatzte Sensation: Neue Physik ohne neue Teilchen?
Am Large Hadron Collider (LHC) bei Genf, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt, haben Physiker die Eigenschaften der Natur bei höheren Energien als je zuvor untersucht. Sie haben dabei etwas Entscheidendes gefunden – nämlich nichts Neues. Und das ist vielleicht das einzige Ergebnis, mit dem vor 30 Jahren, als erste Pläne für den LHC geschmiedet wurden, niemand gerechnet hat.
Die berühmt-berüchtigte "Diphoton-Delle", die sich im Dezember 2015 in den Daten zeigte, ist wieder verschwunden. Es war nur eine vorübergehende, zufällige Schwankung in den Daten und kein revolutionäres neues Teilchen. Tatsächlich haben die Kollisionen in der gewaltigen Anlage bislang kein einziges Teilchen hervorgebracht, das nicht bereits im seit Langem herrschenden, gleichwohl unvollständigen Standardmodell der Teilchenphysik erfasst ist. In den Trümmern der Zusammenstöße fanden die Physiker weder Teilchen der Dunklen Materie noch Geschwister des Higgs-Bosons. Sie fanden keine Hinweise auf zusätzliche Dimensionen und keine Leptoquarks. Und sie fanden keines der verzweifelt gesuchten supersymmetrischen Teilchen, die nötig scheinen, um die Gleichungen der Teilchenforscher abzurunden und ihre "Natürlichkeit" zu erfüllen. Dieses Prinzip sollten nach Ansicht der Forscher alle Naturgesetze erfüllen: Dimensionslose Verhältnisse zwischen den Parametern und Konstanten einer Theorie müssen vernünftige Werte annehmen und können nicht beliebig klein oder groß sein.
"Es ist verblüffend, dass wir 30 Jahre lang über diese Dinge nachgedacht und doch keine einzige Voraussage gemacht haben, die tatsächlich bestätigt wurde", sagt Nima Arkani-Hamed, Professor für Physik am Institute for Advanced Studies im US-Universitätsstädtchen Princeton. Auf der internationalen Fachtagung über Hochenergiephysik ICHEP Anfang August 2016 in Chicago präsentierten die Teams der LHC-Experimente ATLAS und CMS ihre jüngsten Ergebnisse. Diese beiden gewaltigen Detektoren sind auf den Positionen 6 und 12 Uhr am knapp 27 Kilometer langen Ring des LHC platziert. Die beiden jeweils über 3000 Mitglieder zählenden Teams haben drei Monate lang fieberhaft eine Fülle von Daten analysiert, produziert von dem Beschleuniger, der nach einem Upgrade auf die doppelte Energie endlich mit voller Kraft arbeitet. In dem Ring stoßen Protonen mit einer Energie von 13 Teraelektronvolt (TeV) zusammen: 13 Billionen Elektronvolt. Das ist mehr als das 13 000-Fache der Masse eines Protons. Genug Rohmaterial, um selbst extrem massereiche Elementarteilchen zu erzeugen. Wenn es sie denn gibt.
Diphoton-Katerstimmung unter Teilchenphysikern
Bislang hat sich kein solches Teilchen gezeigt. Besonders enttäuschend für die Forscher war das Verschwinden der Diphoton-Delle. Dieser Überschuss an Photonenpaaren zeigte sich im Jahr 2015 in den ersten 13-TeV-Daten. In mehr als 500 Veröffentlichungen suchten theoretische Physiker nach einer Erklärung für die Delle. Im Juni 2016 dann verbreiteten sich erste Gerüchte, die Diphoton-Delle sei verschwunden. Das führte zu einer "Diphoton-Katerstimmung" unter Teilchenphysikern.
"Die Delle hätte auf eine aufregende Zukunft für Teilchenexperimente hingewiesen", sagt Raman Sundrum, theoretischer Physiker an der University of Maryland in den USA. "Ihr Verschwinden wirft uns dahin zurück, wo wir vorher waren."
"Es ist verblüffend, dass wir 30 Jahre lang über diese Dinge nachgedacht und doch keine einzige Voraussage gemacht haben, die tatsächlich bestätigt wurde"Nima Arkani-Hamed
Das Fehlen jeglicher Anzeichen für eine neue Physik verschärft eine Krise, die bereits 2012 mit der ersten Versuchsreihe am LHC begann. Denn die damaligen Kollisionen mit einer Energie von acht TeV reichten nicht aus, um irgendetwas Neues jenseits des Standardmodells zu zeigen. Das in jenem Jahr entdeckte Higgs-Boson war lediglich das letzte fehlende Teilchen des Standardmodells, aber kein Hinweis auf neue Physik. Zwar kann sich in diesem oder im kommenden Jahr immer noch ein Teilchen zeigen, das nicht in das Standardmodell hineinpasst. Oder der mit der Zeit wachsende Datenberg enthüllt kleine Überraschungen im Verhalten bereits bekannter Teilchen, die indirekt auf neue Physik hinweisen. Aber die Theoretiker finden sich zusehends mit dem "Albtraum-Szenario" ab, in dem der LHC keinerlei Hinweise auf eine vollständigere Theorie der Natur liefert.
Die Zeit sei reif, so sagen einige Theoretiker, von einem Null-Ergebnis auszugehen. Die Abwesenheit neuer Teilchen bedeute mit ziemlicher Sicherheit, dass die Gesetze der Physik nicht auf jene Weise "natürlich" sind, die die Physiker bislang vorausgesetzt haben. "Die Annahme der Natürlichkeit ist wohlbegründet. Ihre tatsächliche Abwesenheit ist eine große Entdeckung", erklärt Sundrum.
Einer der Hauptgründe für Physiker, das Standardmodell als unvollständig anzusehen, ist die extrem unnatürlich erscheinende Masse des Higgs-Bosons. In den Gleichungen des Standardmodells ist dieses Teilchen mit vielen anderen verknüpft. Diese Kopplung sorgt dafür, dass sie eine Ruhemasse besitzen. Gleichzeitig beeinflussen sie die Masse des Higgs-Bosons nach oben und nach unten. Einige der Beiträge sind dabei sehr hoch – hypothetische, der Gravitation zugeordnete Teilchen können bis zu zehn Billiarden TeV zur Higgs-Masse beitragen. Und doch beträgt die Masse des Higgs-Bosons lediglich 0,125 TeV. Scheinbar heben sich die unterschiedlichen Beiträge der vielen Teilchen gegenseitig fast auf. Das erscheint absurd. Es sei denn, es gäbe eine plausible Erklärung für einen solchen Ausgleich.
Anfang der 1980er Jahre erkannten Theoretiker, dass Supersymmetrie eine solche Erklärung liefern könnte. In dieser Theorie gibt es zu jedem Fermion – Elementarteilchen der Materie wie Elektronen oder Quarks –, das die Masse des Higgs-Teilchens erhöht, ein supersymmetrisches Boson, also ein Überträgerteilchen einer Wechselwirkung, das die Higgs-Masse verringert. Auf diese Weise hat jeder Teilnehmer am Tauziehen um die Higgs-Masse einen Gegner gleicher Stärke, und dadurch wird das Higgs-Boson auf natürliche Weise stabilisiert. Zwar haben sich Theoretiker auch noch andere Möglichkeiten überlegt, um die "Natürlichkeit" zu erreichen, aber die Supersymmetrie bietet zwei zusätzliche Vorteile. Sie lässt die Stärke der drei quantisierten Wechselwirkungen bei hohen Energien konvergieren, die also am Anfang des Kosmos zu einer einzigen Wechselwirkung vereinigt wären. Und sie liefert ein schwach wechselwirkendes, stabiles Teilchen mit genau der richtigen Masse zur Erklärung der Dunklen Materie.
Fehlende Teilchen und fehlende Masse
"Wir hatten alles ausgeknobelt", sagt Maria Spiropulu, Teilchenphysikerin am California Institute of Technology. "Meiner Generation wurde geradezu beigebracht, es gebe Supersymmetrie, auch wenn wir sie noch nicht entdeckt hatten. Wir glaubten daran." Daher die große Überraschung der Forscher, als sich keine supersymmetrischen Partner der bekannten Teilchen zeigten. Nicht am Large Electron-Positron Collider in den 1990er Jahren, nicht am Tevatron in den 1990er und den frühen 2000er Jahren und auch nicht am LHC. Die Beschleuniger suchten bei immer höheren Energien, und damit vergrößerte sich die Kluft zwischen den bekannten Teilchen und ihren hypothetischen Superpartnern: Sie mussten, um der Entdeckung zu entgehen, immer schwerer sein. Irgendwann könnte die Supersymmetrie so stark "gebrochen" sein, dass der Einfluss der Teilchen und der ihrer Superpartner auf das Higgs-Boson sich nicht länger ausgleichen. Damit bietet die Supersymmetrie keine Lösung mehr für das Problem der "Natürlichkeit". Einige Experten behaupten, dieser Punkt sei bereits überschritten. Andere, die ein wenig mehr Spielraum für das Arrangement bestimmter Faktoren der Theorie sehen, meinen, dieser Punkt sei gerade jetzt erreicht, da ATLAS und CMS das Stop-Quark – den supersymmetrischen Partner des 0,173-TeV-Top-Quarks – bei Massen bis zu einem TeV ausschließen. Das liefert bereits einen Faktor von fast sechs zwischen Stop- und Top-Quark. Selbst wenn es ein Stop-Quark mit mehr als einem TeV gäbe: Es würde das Higgs-Teilchen zu stark beeinflussen und somit das Problem, für das die Supersymmetrie einst erfunden wurde, nicht mehr lösen.
"Ich denke, ein TeV ist eine psychologische Grenze", sagt Albert de Roeck, leitender Teilchenforscher am CERN und Professor an der Universität Antwerpen in Belgien. Einige Physiker sagen, genug sei genug; andere sehen immer noch Schlupflöcher. Unter den Myriaden möglicher supersymmetrischer Erweiterungen des Standardmodells gibt es komplizierte Versionen, in denen ein Stop-Quark mit mehr als einem TeV geradezu konspirativ mit einem anderen supersymmetrischen Teilchen zusammenwirkt, um das Top-Quark auszugleichen und so zu einer "natürlichen" Higgs-Masse zu führen. Es gibt so viele Varianten der Theorie, so viele individuelle Modelle, dass es nahezu unmöglich ist, die Supersymmetrie vollständig aus dem Rennen zu werfen. "Wenn man etwas sieht, kann man modellunabhängige Aussagen darüber machen", sagt Joe Incandela, Physiker an der University of California in Santa Barbara. "Wenn man nichts sieht, ist es etwas komplizierter." Incandela verkündete 2012 im Namen des CMS-Teams die Entdeckung des Higgs-Teilchens. Jetzt leitet er eine der Suchen nach dem Stop-Quark.
Teilchen als Meister im Versteckspiel?
Neue Teilchen könnten sich auf unerwartete Weise verbergen. Hätten beispielsweise das Stop-Quark und das leichteste Neutralino – ein supersymmetrischer Kandidat für die Dunkle Materie – etwa die gleiche Masse, so könnten sie bislang jeder Entdeckung entgangen sein. Denn wenn bei einer Teilchenkollision ein Stop-Quark entsteht und unter Aussendung eines Neutralinos wieder vergeht, bleibt für dieses nur wenig Bewegungsenergie übrig. "Wenn das Stop-Quark zerfällt, sitzt das Dunkle-Materie-Teilchen einfach da", erklärt Kyle Cranmer von der New York University, der zum ATLAS-Team gehört. "Man sieht es einfach nicht. In solchen Bereichen ist die Suche sehr schwierig." Auf diese Weise könnte in den Daten immer noch ein Stop-Quark mit einer Masse bis hinunter zu 0,6 TeV verborgen sein. Die Experimentalphysiker wollen diese Lücken in den kommenden Jahren schließen und so etwaige dort versteckte Teilchen entdecken. Währenddessen finden sich die Theoretiker bereits damit ab, dass sie von der Natur keinerlei Hinweise darauf bekommen, in welche Richtung sie weiter forschen sollen. "Es ist eine höchst verwirrende und unsichere Situation", so Arkani-Hamed.
Viele Teilchenphysiker ziehen inzwischen eine seit Langem im Hintergrund drohende Möglichkeit in Betracht: Vielleicht ist die Masse des Higgs-Bosons einfach nicht "natürlich". Der kleine Wert könnte auf einer reinen Koinzidenz im Tauziehen der Massen beruhen – und wir beobachten diesen sonderbaren Wert, weil unser Leben davon abhängt. In diesem Szenario existieren viele Universen mit ganz unterschiedlichen Kombinationen von Teilchenmassen. Doch nur in Universen mit einem leichten Higgs-Boson können Atome entstehen und so schließlich auch Lebewesen. Allerdings stößt dieses "anthropische Argument" nicht bei allen Forschern auf Begeisterung, denn es lässt sich nicht experimentell überprüfen.
"Meiner Generation wurde geradezu beigebracht, dass es Supersymmetrie gibt, auch wenn wir sie noch nicht entdeckt hatten. Wir glaubten daran"Maria Spiropulu
In den vergangenen zwei Jahren haben theoretische Physiker damit begonnen, völlig neue Erklärungen für die Higgs-Masse zu entwickeln. Diese vermeiden den Fatalismus des anthropischen Arguments und hängen nicht von der Entdeckung neuer Teilchen am LHC ab. Anfang August 2016 diskutierten Theoretiker bei einer Arbeitstagung am CERN solche neuen Ideen und Möglichkeiten, diese zu testen. Ein Beispiel ist die "Relaxations-Hypothese", bei der nicht eine Symmetrie über die Higgs-Masse entscheidet, sondern bei der sich ihr Wert dynamisch während der Geburtsphase des Kosmos ergibt. "Jetzt, wo alle den Diphoton-Kater überwunden haben, kehren wir zu jenen Fragen zurück, mit denen wir versuchen können, die Abwesenheit neuer Physik am LHC zu überwinden", sagt Nathaniel Craig von der University of California in Santa Barbara.
Nima Arakani-Hamed hat gemeinsam mit Kollegen einen als "Nnatürlichkeit" (von "neutral naturalness") bezeichneten Ansatz entwickelt. "Viele Theoretiker, und ich gehöre auch dazu, haben das Gefühl, eine einzigartige Zeit zu erleben. Die Fragen, die auf dem Tisch liegen, sind gewaltig: strukturelle Fragen, die nicht einfach nur die Details des nächsten Teilchens betreffen. Wir haben Glück, in einer solchen Zeit zu leben, auch wenn es vielleicht in unserer Lebensspanne keinen großen, bestätigten Fortschritt gibt." Während die Theoretiker also zu den großen Fragen zurückkehren, sind die 6000 Experimentalphysiker von CMS und ATLAS emsig mit der Erkundung bislang unbekannter Regionen beschäftigt. "Albtraum – was soll das heißen?", hinterfragt Spiropulu das Angstszenario der Theoretiker. "Wir erforschen die Natur. Vielleicht fehlt uns die Zeit, über solche Albträume nachzudenken, weil wir geradezu in Daten ertrinken und extrem begeistert davon sind."
Es gibt immer noch Hoffnung, in diesen Daten auf neue Physik zu stoßen. Doch nichts zu finden, ist nach Spiropulus Ansicht ebenfalls eine Entdeckung; insbesondere, wenn es das Ende bislang hoch geschätzter Ideen einläutet. "Experimentalphysiker haben keine Religion", so die Forscherin mit Blick auf den ursprünglich festen Glauben der Theoretiker an die Supersymmetrie. Einige Theoretiker stimmen ihr zu. Das Gerede über eine Enttäuschung sei "dummes Geschwätz", so Arkani-Hamed. "Die Natur ist einfach so! Wir erhalten Antworten! Diese 6000 Leute reißen sich den Arsch auf – und ihr schmollt wie ein kleines Kind, weil ihr nicht den Lutscher bekommt, den ihr haben wollt?"
Von "Spektrum der Wissenschaft" übersetzte und redigierte Fassung des Artikels "What No New Particles Means for Physics" aus "Quanta Magazine", einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
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