Ökosysteme: Otter sorgen für Seegras-Sex
Zwischen den im Wellgang wiegenden Halmen von Seegraswiesen untersuchen Wissenschaftler seit Langem ein spannendes Geflecht biologischer Beziehungen: Seegras befestigt den küstennahen Meeresgrund, bietet Schutz und Laichplätze für Fische und einen besonderen Lebensraum für verschiedene Tiere. Ein wichtiger ökologischer Akteur ist hier der Seeotter. Er durchkämmt den Boden nach Muscheln und Seeigeln und beeinflusst so nebenbei das ökologische Auf und Ab enorm. Einen Effekt der Seeottertätigkeit hatten Forschende dabei bislang weniger im Blick – besonders aktive Otter sorgen auch dafür, dass die Graswiesen sich stärker sexuell vermehren als durch bloßes Klonen, beschreibt nun ein Team von Ökologen in »Science«. Das sorgt am Ende zudem für eine genetisch vielfältigere und damit gegenüber ökologischen Veränderungen widerstandsfähigere Seegrasgemeinschaft, fassen Erin Foster von der kanadischen University of Victoria und ihre Kolleginnen und Kollegen zusammen.
Die Wissenschaftler erforschten die Auswirkungen des Seeotters (Enhydra lutris), indem sie unterschiedlich besiedelte Seegrasökosysteme aufgesucht haben: solche, in denen Seeotter seit vielen Jahrzehnten heimisch sind, sowie solche, in denen sie nicht mehr vorkommen oder sich erst vor kurzer Zeit wieder angesiedelt haben. Weltweit waren Seeotter Anfang des 20. Jahrhunderts stark vom Aussterben bedroht, weil sie zuvor in großer Zahl gejagt wurden. An manchen Küstenregionen sind sie ganz ausgerottet worden und dann nie wieder aufgetaucht, an anderen sind sie anschließend erneut heimisch geworden.
Wie lange Seeotter Teil des Seegrasökosystems waren, hat große Bedeutung, zeigen Foster und ihr Team nun anhand genetischer Untersuchungen. Die Forschenden hatten DNA-Sequenzen von 462 Proben der Triebe des Gewöhnlichen Seegrases (Zostera marina) untersucht, die sie an 15 Stellen gesammelt hatten, an denen Otter in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger lang oder im vergangenen Jahrhundert gar nicht gelebt hatten. Das Ergebnis war eindeutig und verblüffend: Die genetische Diversität der Seegrasgemeinschaften (gemessen an der Zahl unterschiedlicher Allele an einem Standort) war dort im Mittel rund 20 Prozent höher, wo Seegras und Seeotter über viele Jahre lang gemeinsam gelebt hatten. Der Einfluss anderer ökologischer Faktoren – etwa unterschiedliche Meerestiefe, Temperaturen, Ausdehnung oder Breitengrad der Seegrasökosysteme – war dagegen vernachlässigbar.
Seeotter setzen die Seegraswiesen unter einen gewissen Stress: Sie buddeln nach Nahrung und rupfen so immer wieder vegetationslose Flecken in den Bewuchs, die dann von der Seegrasgemeinschaft wieder geschlossen werden. Das Seegras hat dabei zwei Möglichkeiten: Es kann sich einfach klonen, also Sprossen bilden und ungeschlechtlich wachsen. Alternativ bildet das Gras – das von landlebenden Formen abstammt, die in den Lebensraum Meer zurückgewandert sind – im Zuge einer sexuellen Vermehrung Blüten und Samen, die sich verbreiten. Dabei wird das Erbgut der Graspflanzen gemischt und verändert. Als Vorteil der sexuellen Vermehrung gilt die so erreichte höhere genetische Diversität, die einer Art gerade in einer sich schnell und stark verändernden Umwelt bessere Überlebenschancen bietet.
Sex als Reaktion auf ökologischen Stress dürfte Seegraswiesen schon seit Langem einen Vorteil verschafft haben, spekulieren die Forscher: Seeotter lebten wohl seit dem mittleren Peistozän vor rund 700 000 Jahren an den nordamerikanischen Pazifikküsten. Zudem hat auch der Mensch seinen Teil beigetragen: Amerikanische Ureinwohner haben vor der Ankunft der Europäer Seegras aus den Uferegionen geerntet und als Baumaterial genutzt. Die genetische Vielfalt im Ökosystem sank dann, als die Otter durch die Jagd verschwanden – oder infolge anderer drastischer Eingriffe des Menschen. Im Jahr 1971 etwa hatten die USA testweise einen Atomsprengkopf in der Testzone der Amchitka-Insel in Alaska gezündet. Zuvor war die Otterpopulation größtenteils weiter nach Süden umgesiedelt worden, zurückgebliebene Exemplare starben in den Nachwehen des Tests.
Der Einfluss von Megafauna – also den großen und größten Organismen in einem Ökosystem – auf die kleinen, unscheinbaren Pflanzenvertreter ist oft stärker, als auf den ersten Blick angenommen wird. So vermutet man, dass die großen ausgestorbenen Rüsseltiere oder Faultiere vor der letzten Eiszeit enorm wichtig waren, um Samen und Nüsse weit zu verbreiten und die Pflanzenwelt umzuformen. Für die Ozeane diskutieren Wissenschaftler die Rolle von im Meeresboden wühlenden Grauwalen, die das Sediment aufwirbeln und dabei die Verbreitung und genetische Diversität von Kleinstorganismen erhöhen. Seeotter haben ohnehin eine gern untersuchte und vielfältige Funktion. Sie beeinflussen nicht nur die genetische Vielfalt der Seegraswiesen, sondern auch die Ökologie der Tangwälder: Jagen sie dort sehr erfolgreich Seeigel, so wuchern hier die Braunalgen, der Fischbestand wächst und der Jagderfolg von Räubern wie Seeadlern und Möwen Gras so schneller wächst und sich die Wasserqualität im Fluss verbessert.
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