Neuromedizin: Psychosen bei Parkinson
Ein Mann steht plötzlich hinter einem, ein fremder Hund läuft rasch am Rand des Gesichtsfelds vorbei, ein Unbekannter sitzt stumm auf dem Sofa. Solche Halluzinationen treten bei bis zu 60 Prozent der Menschen mit Parkinson auf – man spricht auch von »Parkinsonpsychose«. Für Betroffene und ihre Angehörigen ist sie höchst belastend, weiß Tobias Warnecke, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Neurologische Frührehabilitation am Klinikum Osnabrück. »Die am meisten gefürchteten Symptome im Verlauf der Erkrankung sind die kognitiven Störungen, die bis hin zu Psychose und Demenz reichen.«
Bei einem Großteil der Patientinnen und Patienten beginnt die Psychose mit milden Halluzinationen. »Sie haben das Gefühl, jemand stünde ganz dicht hinter ihnen«, beschreibt es Javier Pagonabarraga vom Hospital de la Santa Creu i Sant Pau in Barcelona. »Der Eindruck ist so stark, dass sie sich umdrehen müssen, um nachzusehen – obwohl sie wissen: Da ist niemand.« Betroffene erzählen zudem, wie sich Personen oder Tiere seitlich an ihnen mit hohem Tempo vorbeibewegen. »Interessanterweise ähneln sich diese Berichte alle«, sagt der Neurologe. Bei Wahnvorstellungen hängen die Erkrankten falschen Überzeugungen nach – trotz eindeutiger, vernünftiger Gegenbeweise. Wahn tritt bei bis zu 15 Prozent der Parkinsonpatienten auf, also weniger häufig als Halluzinationen.
Mit Fortschreiten der auch als »Schüttellähmung« bezeichneten Krankheit können sich die Halluzinationen verändern. Oft sehen die Menschen dann deutlich eine Person im Raum, die aber nicht versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen – sondern etwa beim Fernsehen neben ihnen auf dem Sofa sitzt. Besonders quälend sei das für die Patienten, wenn ihnen die Einsicht fehlt, meint Pagonabarraga: »Zu Beginn begreifen sie: Das sind Halluzinationen und entsprechen nicht der Wirklichkeit. Doch schließlich verlieren sie diese Einsicht und halten das Gesehene für Realität.«
Lange verdächtigten Mediziner die gängigen Parkinsonmedikamente, die Psychose auszulösen. Hierzu gehören Levodopa, eine Vorstufe des Dopamins, sowie Dopaminagonisten. Das sind Stoffe, die im Gehirn die Wirkung von Dopamin nachahmen und so den Mangel des Botenstoffs ausgleichen, der den Symptomen der Erkrankung mit zu Grunde liegt. Die Präparate sollen unter anderem den charakteristischen Tremor (Zittern) und Rigor (Muskelsteifigkeit) mindern. In den letzten zehn Jahren verdichteten sich die Hinweise: Zwar können Levodopa und Co in manchen Fällen zur Entstehung einer Psychose beitragen oder sie verstärken, sie verursachen sie aber meist nicht. Vielmehr entsteht die Parkinsonpsychose in erster Linie durch die krankheitsbedingten Hirnveränderungen.
»Zu Beginn begreifen sie: Das sind Halluzinationen und entsprechen nicht der Wirklichkeit. Doch schließlich verlieren sie diese Einsicht und halten das Gesehene für Realität«Javier Pagonabarraga, Neurologe
Den ersten Hinweis darauf lieferten historische Dokumente, die psychotische Episoden bei Parkinson beschrieben, als noch gar kein Levodopa zur Verfügung stand. Angeregt durch solche Berichte beschloss Javier Pagonabarraga, diejenigen Patienten, die das erste Mal in seiner Praxis vorstellig wurden, nach möglichen Halluzinationen zu befragen. »Sie nahmen noch keine Medikamente ein, hatten noch nicht einmal die Diagnose erhalten«, erinnert sich der Neurologe. Das Ergebnis nach drei Jahren: 40 Prozent zeigten bereits beim ersten Arztbesuch Anzeichen einer Psychose. »Das war der erste klinische Beweis, dass die Halluzinationen unabhängig von der Medikation auftreten können«, so Pagonabarraga.
Für die klinische Praxis sei diese Erkenntnis sehr wichtig, betont Tobias Warnecke: »Mittlerweile klären wir die Patienten darüber auf, dass Parkinson selbst die Psychose auslösen kann. Andernfalls könnten manche zögern, ihre Medikamente einzunehmen.«
Schrumpfende Hirnrinde in visuellen Regionen
Wurde Morbus Parkinson früher als reine Störung des Neurotransmitters Dopamin in der Substantia nigra angesehen, so begreift man sie Warnecke zufolge mittlerweile als Multi-System-Erkrankung. Charakteristisch ist das Verklumpen des Proteins Alpha-Synuclein in den Nervenzellen zu so genannten Lewy-Körperchen. Je weiter das Leiden fortschreitet, desto mehr breiten sich die Eiweißansammlungen in den verschiedenen Bereichen des Gehirns aus. »Die Pathologie steigt vom Hirnstamm bis in die Hirnrinde auf«, erklärt der Arzt. »Auf diesem Weg sind relativ früh Areale betroffen, die dann auch psychotisches Erleben auslösen können.« Bildgebenden Studien zufolge schrumpft die Hirnrinde in manchen Regionen vor allem im hinteren Neokortex. Das findet sich in erster Linie bei fortgeschrittenen Halluzinationen. Was auffällt: Es handelt sich vornehmlich um Bereiche, die visuelle Informationen verarbeiten.
Betroffen ist auch das limbische System – also der Hippocampus, die Amygdala, der Nucleus accumbens und der Gyrus cinguli. Der Verlust an Hirngewebe im Cuneus, im Gyrus lingualis, im unteren Parietallappen und im Hippocampus korreliert dabei mit der Schwere der Halluzinationen. Das fand ein Team um Jennifer Goldman vom Rush University Medical Center in Chicago heraus, nachdem es 25 Parkinsonpatienten mit Halluzinationen und 25 ohne im MRT gescannt hatte. Insgesamt kommt es, so Pagonabarraga, zu Fehlfunktionen in den Bereichen, die für die Steuerung von visueller Wahrnehmung, die Integration verschiedener Sinneseindrücke sowie die Aufmerksamkeit verantwortlich sind und uns dabei helfen, zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu unterscheiden.
Doch wie genau führen diese Fehlfunktionen zu Halluzinationen? Dazu untersuchten Fachleute die neuronale Konnektivität: Sind bei Parkinsonpatienten mit Psychose manche Hirnbereiche anders miteinander verknüpft als bei jenen ohne Halluzinationen? Den Studien zufolge verändert sich tatsächlich im Lauf der Erkrankung die Kommunikation zwischen neuronalen Netzwerken derart, dass flüchtige und uneindeutige Umweltreize nicht mehr korrekt verarbeitet werden können.
Kurz erklärt: Parkinsonkrankheit
An Morbus Parkinson leiden überwiegend Menschen über 55 Jahre; Männer etwas häufiger als Frauen. Im Lauf der neurodegenerativen Erkrankung gehen im Gehirn vor allem Zellen zu Grunde, die Dopamin produzieren. Der Botenstoff ist entscheidend für die Feinabstimmung von Bewegungen, aber auch, um diese überhaupt zu starten. Betroffen ist unter anderem die Substantia nigra im Mittelhirn. Hier und in anderen Regionen können außerdem so genannte Lewy-Körperchen auftreten. Dabei handelt es sich um Ablagerungen, die das Protein Alpha-Synuclein enthalten. Es kommt zu Zittern (Tremor), Muskelsteifigkeit (Rigor), und die Motorik verlangsamt sich (Bradykinese). Daneben werden Stimmung, Schlaf und Kognition beeinträchtigt – bis hin zu Psychosen und Demenz. Gängige Medikamente wie etwa Levodopa, eine Vorstufe des Dopamins, lindern die Bewegungsprobleme.
Eine besondere Rolle spielen hierbei zwei Regelkreise: das Aufmerksamkeits- und das Ruhezustandsnetzwerk. Ersteres ist dafür zuständig, dass wir uns auf Informationen aus der Umwelt konzentrieren. Das Ruhezustandsnetzwerk hingegen richtet den Fokus eher auf innere Repräsentationen; es ist etwa dann aktiv, wenn wir tagträumen, uns Dinge vorstellen oder über uns selbst nachdenken. Normalerweise arbeiten die beiden gegenläufig: Während kognitiver Aufgabenbewältigung wird das Ruhezustandsnetzwerk abgeschaltet und die Aufmerksamkeitszentren übernehmen das Ruder.
Bei Menschen mit Parkinsonpsychose scheint dieser Wechsel gestört, wie Javier Pagonabarraga und seine Kollegen 2019 mittels Magnetresonanztomografie bei 18 Betroffenen mit und 14 ohne Halluzinationen feststellten. In der Folge würden eintreffende Reize von beiden Zentren gleichzeitig verarbeitet – was erklären könnte, warum sich bei Betroffenen intern erzeugte Bilder mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit mischen. Gleichzeitig ist das Ruhezustandsnetzwerk stärker mit den Zentren zur Verarbeitung visueller und multimodaler Reize verknüpft. »Das Gehirn kann neue Informationen nicht richtig einordnen. Es legt einen stärkeren Fokus auf unwichtige Reize – etwa aus der Peripherie oder von hinten«, meint Pagonabarraga.
Das könnte auch erklären, warum Betroffene die Halluzinationen meist dann erleben, wenn sie sich in gewohnter Umgebung und in Ruhe befinden. »Dann misst das Gehirn den unwichtigen Reizen wieder mehr Bedeutung bei und Halluzinationen entstehen«, erklärt Pagonabarraga. »Gehen wir aber an einer Straße entlang, prasseln ständig neue Eindrücke auf uns ein. Selbst wenn das Aufmerksamkeitsnetzwerk nicht richtig funktioniert, sorgt die Flut an Reizen dafür, dass es engagiert bleibt.«
Neue Behandlungsprinzipien wünschenswert
Bisher haben sich aus solchen Befunden keine Perspektiven für neue Therapien ergeben, sagt Warnecke. »Das ist wichtige Grundlagenforschung, doch noch nicht vollständig verstanden.« Am wichtigsten für die klinische Praxis sei wohl die Erkenntnis, dass es sicherlich einzelne Patienten gibt, bei denen die Medikamente für die Psychose verantwortlich sind, dies aber nicht die Regel sei.
Neue Behandlungsprinzipien wären wünschenswert, findet Warnecke: »Parkinsonpsychose ist ein klinisch relevantes Problem, das den Krankheitsverlauf verschlechtert und die Lebensqualität mindert – und die bisherige Therapie ist sehr schwierig.« Das liegt mit daran, dass sich Parkinson sowohl durch motorische als auch psychische und kognitive Symptome äußert. »Wenn ein Psychiater die Psychose behandelt, aber wenig Kenntnis von Parkinson hat, können ebenso Fehler entstehen, wie wenn ein Neurologe die Halluzinationen therapiert, der wenig von Psychosen versteht«, erklärt der Neurologe.
»Sie haben das Gefühl, jemand stünde ganz dicht hinter ihnen«Javier Pagonabarraga, Neurologe
Tobias Warnecke ist Sprecher der Parkinsonnetzwerke Münsterland und Osnabrück, deren Anliegen es ist, die verschiedenen beteiligten Fachleute miteinander zu verbinden. Eines der Ziele lautet, die Behandlung möglichst im ambulanten Bereich zu belassen. »Wenn die Patienten mit einer Psychose ins Krankenhaus kommen, ist das Risiko hoch, dass sich ihre Psychose verschlechtert, einfach auch weil sie nicht mehr in der gewohnten Umgebung sind.« Patienten mit Parkinson entwickeln während eines Krankenhausaufenthalts häufig ein so genanntes Delir, welches mitunter die Halluzinationen verstärkt. »Das Phänomen kennen wir auch von Demenzpatienten: Wenn sich die räumlichen Verhältnisse ändern, wird psychotisches Erleben getriggert«, so Warnecke.
Harnwegsinfekt kann schuld sein
Leitlinien sollen eine einheitliche Therapie nach neuestem Forschungsstand gewährleisten. Die derzeit gültige S2K-Leitlinie zur Behandlung von Parkinson beschreibt unter anderem, wie in der Klinik am besten mit Psychosen umgegangen werden sollte. Der erste Schritt scheint zunächst etwas ungewöhnlich. »Im klinischen Alltag treten psychotische Symptome häufig zum ersten Mal in Zusammenhang mit einem Infekt auf«, berichtet Warnecke.
»Typischerweise handelt es sich dabei um einen Harnwegsinfekt, der das psychotische Erleben triggert.« Die Gründe dafür sind noch nicht geklärt, es könnte jedoch daran liegen, dass proinflammatorische Zytokine das Gehirn erreichen. Infektionen und andere Erkrankungen können gerade bei älteren Personen ein Delir mit Psychose auslösen, auch unabhängig davon, ob sie an Parkinson erkrankt sind. Wenn jemand von einer Halluzination berichtet, sollten daher als Erstes die Entzündungsparameter kontrolliert werden.
»Im klinischen Alltag treten psychotische Symptome häufig zum ersten Mal in Zusammenhang mit einem Infekt auf«Tobias Warnecke, Neurologe
Und warum beeinflussen Medikamente die Psychosen? Bei Parkinson sterben Nervenzellen im Mittelhirn ab, es entsteht ein Mangel an Dopamin. Als Reaktion darauf werden die Dopaminrezeptoren in einigen Hirnbereichen überempfindlich – ein wenig so, wie wenn man die Lautstärke im Radio aufdreht, sobald das Signal schwächer wird. Nehmen die Patienten Mittel wie Levodopa ein, die den Dopaminmangel ausgleichen, kann die Überempfindlichkeit Probleme verursachen, da die Nervenzellen nun zu stark auf den Botenstoff reagieren. Während sie das Zittern also bessern, können die Medikamente Psychosen begünstigen und müssen eventuell in ihrer Dosis angepasst werden. »Die Kunst ist es, zwischen dem psychotischen Erleben und der Motorik abzuwägen: wie viel Psychose beziehungsweise motorische Probleme will man in Kauf nehmen«, so Tobias Warnecke.
»Wenn man den Eindruck hat, damit nicht weiterzukommen, muss eine spezifische antipsychotische Behandlung starten«, erläutert Warnecke weiter. Hierfür setze man die in Deutschland zugelassenen Präparate Clozapin und Quetiapin ein. Beide Mittel hemmen neben den Serotonin- zwar auch die Dopaminrezeptoren, verschlechtern dabei jedoch nicht die Motorik.
Nicht nur eine Frage des Dopaminhaushalts
»Mit neuen Ansätzen versucht man immer mehr, die Parkinsonpsychose nicht über das dopaminerge System zu behandeln«, sagt Warnecke. Denn bei Parkinson gerät nicht nur der Dopaminhaushalt aus dem Gleichgewicht, sondern die Neurotransmitter Serotonin und Azetylcholin sind ebenfalls betroffen. So werden heute mitunter Medikamente gegen Demenz verschrieben. Hierzu gehört Rivastigmin, das den Abbau von Acetylcholin verhindert. »Seine Wirkung bei Parkinson ist möglicherweise sogar besser als die der klassischen Antipsychotika«, sagt der Neurologe.
Eine weitere Option ist Pimavanserin, das an den Serotonin-2A-Rezeptor bindet und ihn blockiert. »Wenn diese Rezeptoren überaktiv werden, erzeugt das eine Halluzination – etwas, was wir von LSD kennen«, erklärt Javier Pagonabarraga. Pimavanserin ist derzeit in Europa noch nicht zugelassen, wird aber in den USA bereits seit mehreren Jahren zur Behandlung der Parkinsonpsychose eingesetzt. »Die Kollegen schätzen es vor allem, weil es nicht die typischen antidopaminergen Nebenwirkungen hat, also zum Beispiel Sedierung und Müdigkeit«, sagt Warnecke.
Für die Zukunft sieht Javier Pagonabarraga einen Wandel hin zu einer personalisierten Behandlung. »Verschiedene Wege führen zur Entstehung der Parkinsonpsychose, also etwa zur Ablagerung von Alpha-Synuclein in den Nervenzellen. Wir müssen nun diese Wege verstehen, um die Therapie individuell anzupassen.«
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