Quantenchaos : Forscher weisen erstmals chaotische Quantenzustände nach
Chaos ist allgegenwärtig. Damit ist kein unordentlicher Schreibtisch gemeint oder eine Masse demonstrierender Menschen, sondern Phänomene wie das Wetter oder Strömungen von Flüssigkeiten. Chaotische Systeme halten sich in der Physik durchaus an Regeln – aber sie sind so komplex, dass sich ihr Verhalten nicht über längere Zeiträume vorhersagen lässt. Das zeigt sich zum Beispiel beim Billard. Wenn man die Kugel anstößt, wird sie an der Bande nach den Regeln der Mechanik reflektiert. Gäbe es keine Reibung, würde sie für alle Zeit weiterrollen. Hat man sie unter einem ganz bestimmten Winkel angestoßen, kann bei gewissen Tischformen (etwa einem stadionförmigen Tisch) ein periodisches Muster entstehen: Die Kugel folgt immer und immer wieder ein und derselben geschlossenen Bahnkurve. Doch dieser Zustand ist extrem instabil. Sobald die Kugel ein wenig abgelenkt wird, kommt es zum »Chaos«: Die Bahnkurve bildet ein kompliziertes Muster, das nach und nach die gesamte Fläche des Tischs abdeckt. Daher trifft man nur sehr selten periodische Bahnkurven in chaotischen Systemen an.
In der Quantenphysik ist das anders. In diesem Fall zeichnet die Wellenfunktion die periodische Form der klassischen Bahnkurve nach – damit steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Quantenteilchen entlang dieser Kurve zu finden. Seit mehr als 40 Jahren vermuten Fachleute, dass Quantensysteme den periodischen Bahnkurven eines chaotischen, klassischen Systems folgen können. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Hinweise darauf, ein eindeutiger Nachweis solcher »Quantennarben« blieb allerdings aus. Doch nun hat ein Team um den Physiker Jairo Velasco Junior von der University of California in Santa Cruz erstmals den lang ersehnten Nachweis geliefert. Die Ergebnisse wurden am 27. November 2024 im Fachjournal »Nature« veröffentlicht.
Quantennarben sind für die Forschung besonders interessant – nicht nur, um das Quantenchaos besser zu verstehen, sondern auch, weil sich damit die elektrische Leitfähigkeit bestimmter Materialien steigern ließe. Denn in gewöhnlichen Festkörpern sind Ladungsträger, die Elektronen, recht kontinuierlich im Raum verteilt. Ihre Wellenfunktion, welche die Wahrscheinlichkeit symbolisiert, die Teilchen an einem bestimmten Ort zu finden, ist meist ziemlich breit gefächert. Bei Quantennarben ist das anders. Die Wellenfunktion ist entlang bestimmter Pfade lokalisiert, so dass an diesen Stellen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, auf Ladungsträger zu treffen.
»Die Entdeckung von Quantennarben hätte Auswirkungen auf die Leistung von Elektronik, die auf diesen winzigen Bauteilen basiert«, schreiben die Physiker Dmitry Abanin von der Princeton University und Maksym Serbyn vom österreichischen Institute of Science and Technology in einem begleitenden »Nature News and Views«-Artikel. Die beiden Forscher waren nicht an der neuen Studie beteiligt.
»Seit der ersten Vorhersage von Quantennarben wurden umfangreiche experimentelle Versuche unternommen, um diese Zustände abzubilden«, schreiben die Forscher um Velasco in der neuen Arbeit. Besonders viel versprechend erscheinen dabei so genannte Quantenpunkte. Dabei handelt es sich um speziell präparierte Festkörper, die durch ein elektrisches Feld einen Potenzialtopf bilden und darin ein einzelnes Teilchen fangen können – etwa ein Elektron. Abhängig davon, wie der Potenzialtopf gestaltet ist, nimmt die Wellenfunktion des Teilchens eine unterschiedliche Form an. Wenn der Querschnitt des Potenzialtopfs nicht kreis-, sondern stadionförmig ist, folgen die gefangenen Teilchen einer chaotischen Dynamik. »Bisherige Experimente haben Merkmale ermittelt, die möglicherweise mit Quantennarben zusammenhängen könnten. Wegen der geringen Auflösung, der indirekten Erfassung der lokalen Zustandsdichte und der unscharfen Grenzen der Quantenpunkte blieb jedoch unklar, ob diese Merkmale wirklich von Quantennarben stammen«, schreiben die Fachleute.
Dem Team um Velasco gelang es nun, die genannten Einschränkungen zu überwinden und Quantennarben direkt abzubilden. Dafür erzeugte es Quantenpunkte in einer Graphenschicht – einem zweidimensionalen Material aus Kohlenstoffatomen, die in einem hexagonalen Gitter angeordnet sind. Dort konnten die Forschenden die Form der Quantenpunkte extrem präzise gestalten. Um anschließend die Wellenfunktionen der darin befindlichen Teilchen zu untersuchen, nutzten sie ein Rastertunnelmikroskop. Dieses hat eine scharfkantige Spitze, die eine Oberfläche abtastet. Indem man eine elektrische Spannung an die Spitze anlegt, lässt sich prüfen, an welchen Orten auf der Oberfläche Ladungsträger mit einer bestimmten Energie angesiedelt sind.
Mit diesem Messinstrument konnten die Fachleute die Verteilung der Teilchen in den Quantenpunkten visualisieren – und fanden tatsächlich eine periodische Struktur vor. Wenn die »Wände« der Stadionform parallel waren, folgte die Wellenfunktion der Form einer Fliege (im Sinne eines modischen Accessoires, nicht des Insekts). Waren die Wände dagegen leicht verkippt, formte die Wellenfunktion eine Acht. Damit haben die Forscher erstmals Quantennarben direkt abgebildet.
»Diese Arbeit öffnet die Tür zu vielen neuen Forschungsrichtungen«, schreiben Abanin und Serbyn. So könnten sich Quantenpunkte mit komplexeren Formen umsetzen und damit die Eigenschaften der Quantennarben steuern lassen, um beispielsweise die Leitfähigkeit von Materialien zu steigern. Zudem ließe sich laut den beiden Forschern auch die Wechselwirkung von mehreren Quantennarben untersuchen, die rätselhafte Quantenoszillationen erklären könnten.
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