Küstenschutz: Sanft die Wellen brechen
Wie eine gewaltige Batterie zwischen Europa und Nordamerika speichert der Atlantik ungeheure Energien. Und ab und zu, sagt Walter Meyer, entlade sich diese Batterie an der Küste von New York: "Auf einer Sandbank namens Rockaway prallen immense Naturgewalten auf eine wirtschaftliche Weltmacht."
Rockaway ist nur einer der vielen Orte weltweit, an denen Menschen gegen die Elemente kämpfen, um ihre Strände und Küstenlinien zu verteidigen. Es ist ein Kampf um Sand, um Millionen Kubikmeter, die Stürme fortreißen und der Mensch mühsam wieder herbeischafft. Vor New York oder vor Den Haag, an den Stränden von Florida oder von Sylt – der Sand gerät in einen kostspieligen Kreislauf, weil die Bewohner der Küstenlinien den Sturmgewalten nicht weichen wollen.
Auch der Landschaftsdesigner und Städteplaner Walter Meyer aus Brooklyn findet genügend Gründe, warum es die knapp 18 Kilometer lange und einen guten Kilometer breite Halbinsel Rockaway vor dem Verschwinden zu bewahren gilt – selbst um einen stetig steigenden Preis. Als sich Hurrikan Sandy am 29. Oktober 2012 nach seinem Weg von Westafrika über den Ozean der Konfliktzone näherte, sich mit einem so genannten Nor'easter – einem Orkan aus dem Nordosten – zum Supersturm verbündete und alle 15 Sekunden zehn Meter hohe Wellen mit Wassermassen in der Größenordnung von jeweils 1000 olympischen Schwimmbecken an den Strand schleuderte, wurden nicht nur Villen, Bungalows und Boote, sondern auch mehrere Millionen Kubikmeter Sand weggerissen.
Sand als Lebensversicherung
"Ein gefährlicher Verlust", erklärt Walter Meyer, der mit seiner Firma Local Office neue Methoden zur Erhaltung und Sanierung von Küstenlandschaften entwickelt. Die vorgelagerte Landzunge, sagt er, müsse ihre Strände zurückerhalten: zum Schutz der 800 000 Bürger, die hinter der natürlichen Barriere an den Flüssen, Buchten, Bächen, Kanälen und an der Küste des Archipels von New York City leben. Nach dem Desaster halfen Freiwillige, den Sand von den Straßen, aus Kellern und Gärten zu schaufeln. Sechs Wochen lang verwandelte das Ingenieurkorps der Armee den Parkplatz des größten öffentlichen Strandes in eine Wüstenlandschaft. Verdreckter Sand wurde durch gigantische Siebe geschüttelt und zu monumentalen Kegeln aufgetürmt.
Den gereinigten Sand kippten die Arbeiter als temporären Schutzwall zwischen die Betonpfosten der zerstörten Strandpromenade. Doch der mühsam zusammengekratzte Rockaway-Sand reichte nicht aus. Das Bollwerk vor New York City musste Sediment aus den Meerestiefen "borgen", wie es heißt. Sand aus dem Meer brauchten auch Fire Island – von Sandy um zwei Drittel seines Sandes beraubt – und die Küste von New Jersey, deren Strände und Dünen zu 94 Prozent beschädigt wurden. Eines ist gewiss: Der Atlantik wird sich die Leihgaben mit Sicherheit zurückholen, immer wieder.
20 Millionen Kubikmeter Sand verschlingt der Ozean alljährlich im Oktober und November, wenn Hurrikane mit Stürmen aus dem Norden zu Monstern verschmelzen. Die Sturmkatastrophe von 2012 war nur die akute Krise eines lang anhaltenden Problems. Es begann Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Transformation der vorgelagerten Sandbänke an New Jerseys Küste in Ferien- und Vergnügungsorte. Während Coney Island (an der Südspitze Brooklyns) für Walter Meyer den "Archetyp des amerikanischen Stadtstrandes – Holz, Beton, Pier und Boardwalk, dazu eine vegetationslose Fläche aus hellem, glattem Sand" – repräsentiert, wurde New Jersey zum Vorbild für das groß angelegte Bauen auf Sand von Florida bis Maine: Villa mit Meerblick reiht sich an Villa mit Meerblick. Vielerorts ist der öffentliche Zugang zum Strand verwehrt, weil sich die Immobilienbesitzer mit Mauern und Zäunen vor Eindringlingen von der Landseite abschirmen.
Der Schutz gegen die Gefahr von der Seeseite aber verstärkte die Bedrohung noch. Statt die dynamischen Sandriffe als vorgelagerte Wellenbrecher zu nutzen und ihrem Drang zur Verlagerung nachzugeben, versuchte man die immer prächtigeren Immobilien mit Betonmauern, Buhnen und Molen zu bewehren – mit dem Ergebnis rapider Erosion. Längst ist das Ingenieurkorps der Armee routinemäßig mit der Befestigung instabiler Strände beschäftigt. Von 1970 an haben Bundesregierung, Staaten und Städte die Strände der Ostküste in 460 Einsätzen mit Sand aufgestockt, die Kosten dafür beliefen sich auf 3,7 Milliarden Dollar.
New Jersey allein spülte im letzten Vierteljahrhundert 60 Millionen Kubikmeter Sand an seiner Küste vor. Dort muss man zwar keine Metropole mit Sandbarrieren vor apokalyptischen Stürmen bewahren. Gouverneur Chris Christie verteidigt die Sisyphusarbeit der Sandvorspülung dafür mit vielen Erinnerungen an heiße Sommertage am Strand. Und dann gebe es da natürlich noch die politisch einflussreichen Besitzer von Villen mit Seeblick.
Sand wird Mangelware
Bislang gilt Sand als unerschöpfliche Ressource. Doch in vielen Küstenregionen und insbesondere in New Jersey ist er längst ein schwer zu beschaffender Rohstoff. In Florida haben sich Städte schon um die Rechte auf Sandvorkommen vor Gericht gestritten. Und der erhöhte Sandbedarf als Folge des steigenden Meeresspiegels wird die Konflikte um die Mangelware noch verschärfen. Schon jetzt müssen Ingenieure weit hinaus auf den Atlantik, um in den Furchen des Meeresbodens nach feinkörnigem Material zu suchen. Dieses Plündern der unterseeischen Sedimentdepots hat Folgen: Die Unterwassertopografie verändert sich, was die Intensität zukünftiger Sturmfluten verstärken kann, Laichplätze von Fischen werden zerstört, und letztlich fehlt der Sand für die Strandregeneration auf natürlichem Weg.
Eine Rolle spielt auch die "Sorte". Von der Beschaffenheit der Körner hängt die Solidität eines Strandes ab: Der relativ feine Sand der Rockaways resultiert in einer kompakten Oberfläche, die dem Wasser wenig Angriffsfläche bietet, während gröbere Körner leichter weggeschwemmt werden. Was Ingenieure vor der Küste ernten, sollte möglichst dem ursprünglichen Material entsprechen: Zuckersand aus Florida würde an der Jersey-Küste in Windeseile abgetragen, während die apfelsinengroßen Kiesel, die man Anfang des Millenniums auf einer Insel vor North Carolina ablud, den Strand nahezu zerstörten.
Man kann sich die Kräfte der Natur aber auch nutzbar machen, wenn es gilt, Küstenlinien zu reparieren. Die Niederlande starteten vor zwei Jahren ein Projekt, das Modellcharakter haben könnte. In dem Land, in dem 60 Prozent der Bevölkerung in Gebieten leben, die bis zu sieben Meter unter dem Meeresspiegel liegen, wird Sand spätestens seit der Sturmflut von 1953 als existenzielle Ressource betrachtet. Zwischen März und Oktober 2011 häuften die Niederländer vor Den Haag eine kilometerlange, hakenförmige Halbinsel aus 21,3 Millionen Kubikmetern Sand auf. Schneller als erwartet verteilten die Meeresströmungen die Sandbeule entlang der Küste und schoben, ohne weitere menschliche Intervention, zusätzliche Sedimente hinterher. Der "Zandmotor" erwies sich als so effizient, dass die Regierung das Konzept nun exportiert und im Juli auf einer Konferenz über den Küstenschutz in New York als mögliche Maßnahme an den Stränden von Rockaway vorstellte.
Deichen, weichen oder?
Unter den Wasserbauingenieuren herrscht Konsens darüber, dass man die Fluten nicht auf immer aussperren kann. Mancherorts muss man ihnen gezielt Einlass gewähren, so dass sie einem behilflich sind. Platz machen statt Widerstand leisten, lautet das Motto. Auch in den USA wird seit den 1970er Jahren die Kooperation mit der Natur propagiert. Trotzdem lässt man die alten, letztlich zerstörerischen Bollwerke noch stehen und greift im Notfall auf Wälle und andere Bewehrungen zurück. Diese bezeichnet Walter Meyer sowohl strukturell als auch ideell als "mittelalterlich": Mauern stoßen die Energie der Wellen gewaltsam zurück. Deren Wucht wühlt den Sand auf und zieht ihn ins Meer. Unmittelbar nach Sandy verschanzten sich die Milliardäre von Gin Lane in Southampton hinter eigenmächtig errichteten Schutzschilden aus sandbedeckten Metallplatten – um ihre Paläste zu retten, ruinieren sie den Strand.
Auch solche Fehler sind ein globales Phänomen. Nicht weniger kurzsichtig war die Uferschutzmauer, die 1904 ein Hotelier auf Sylt baute, um sein Etablissement vor dem Einfluss der Elemente zu bewahren. "Mit der Verlängerung dieser Mauer in den 1970er Jahren hat man die natürliche Dynamik beschädigt", erklärt Kai Ahrendt, Geologe an der Kieler Universität. Schon heute gehen der Nordfriesischen Insel jährlich eine Million Kubikmeter Sand verloren.
Besonders die der Nordsee ausgelieferte Westseite gilt als typische Rückgangsküste – steigt der Wasserspiegel, dürfte sich diese Entwicklung beschleunigen. Mit Vorspülungen lässt sich das Sedimentdefizit weit gehend beheben; der Sand wird auf der Seeseite aus 15 Meter Tiefe heraufgeholt, für derzeit drei Euro pro Kubikmeter. "Wäre Sylt nicht mit Villen besiedelt, würde sich trotz der wellendämpfenden Wirkung auf das Festland niemand um die Erosion Gedanken machen", sagt Ahrendt. Dank des hohen Steueraufkommens der Ferieninsel lässt sich wenig gegen die hohen Ausgaben einwenden. Der einnahmeträchtige Strand wird auch in Zukunft als "Verschleißkörper" zurechtgebaggert, und nur der Fachmann kann ihn, seiner weniger runden, etwas gröberen Körner und der steileren Neigung wegen, vom Original unterscheiden. "Sylt hat Glück", meint Ahrendt, denn an Sand, so wanderlustig er sein mag, mangelt es dort nicht.
Rockaway sucht nach einer Strategie, um den Sandzyklus zu bremsen. Walter Meyer hofft, an einem 750 Meter langen Stück Strand von Rockaway bald ein Pilotprojekt umsetzen zu können. Es soll "harte" und "weiche" Infrastruktur verknüpfen. Die Grundlage bestünde aus 23 000 Kubikmetern Sand, geliefert von einem Nassbaggerunternehmen aus dem New Yorker Hafen, wohin die Sedimente aus Rockaway kontinuierlich abdriften. Auf der sandigen Basis sieht der Plan eine dreistufige Bepflanzung mit einheimischem Strandgras, Sträuchern wie der Strandpflaume (Prunus maritimus) und einer seewetterfesten Kiefernart vor, deren vertikale und horizontale Wurzelsysteme sich ineinander verzahnen und in ein großmaschiges Netz aus Geotextilien hineinwachsen.
Nach drei Jahren soll das Zwittergeflecht den künstlich aufgeschütteten Sand schützen können. Hinter diesem ersten bewachsenen Wall liegt eine zweite Düne. Das Tal zwischen den beiden Dünenketten soll die Wucht der Wellen auffangen und die zerstörerische Energie – wie in der Kampfsportart Jiu-Jitsu – in den Ozean zurückleiten. Für den Fall, dass sich ein Supersturm mit der sanften Antwort nicht zufriedengibt, steht hinter den Dünen die dritte, etwas robustere Hürde: ein im Golfkrieg entwickelter Detonationsschutz aus Stahl und Geotextilien.
Vielleicht ließen sich die Sandbank Rockaway oder die Ufer von New Jersey aber auch mit einer vorgelagerten Verteidigungslinie schützen. Wissenschaftler haben die Unterwasserlandschaften vor der Küste untersucht und festgestellt, dass Sandys Wucht mit der Topografie zu tun hatte. Vor Rockaway liegen neben dem Hudson Canyon weitere Schluchten, die auf die Halbinsel zulaufen. Meyer schwebt vor, diese submarinen Gebirgszüge und Täler neu zu modellieren und so gefährliche Strömungen abzulenken – oder ihnen gleich ein neues Hindernis in den Weg zu stellen. "Inseln vor der Küste wären eine gute Investition." Künstliche Eilande, so lautet seine Vision, könnten die Wucht der Wellen wirksam mindern. Zumindest der Sand dahinter hätte dann seine Ruhe.
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