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Neurobiologie: Schneller als die Theorie erlaubt

Seit einem halben Jahrhundert wissen Neurobiologen: Nervenzellen leiten Nachrichten über Aktionspotenziale weiter, wobei Natrium-Kanäle eine entscheidende Rolle spielen. Doch das nach ihren Entdeckern benannte Hodgkin-Huxley-Modell könnte nur die halbe Wahrheit der Geschichte sein.
Natrium-Kanäle
Jede lebende Zelle hält über ihrer Zellmembran eine elektrische Spannungsdifferenz aufrecht. Nervenzellen zeichnen sich vor anderen Zellen dadurch aus, dass sie diese Spannungsdifferenz zum Verarbeiten und Weiterleiten von Nachrichten nutzen. Erhält eine Nervenzelle einen starken Reiz, dann kommt es zu einer Umkehrung der elektrischen Spannung über der Zellmembran. Dieses Aktionspotenzial breitet sich an den langen Fortsätzen der Zelle mit hoher Geschwindigkeit aus, an deren Ende das Signal an andere Nervenzellen übertragen wird.

Wie ein solches Aktionspotenzial entsteht, haben Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley im Jahr 1952 anhand von Messungen an Neuronen des Tintenfisches in einem mathematischen Modell beschrieben. Das Hodgkin-Huxley-Modell, für das die Wissenschaftler später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, dient seitdem zur Erklärung von Signalprozessen in allen Neuronen.

Nach dem Hodgkin-Huxley-Modell wird ein Aktionspotenzial ausgelöst, wenn sich die elektrische Spannung über der Membran der Nervenzelle bis zu einem gewissen Schwellenwert verändert. Bestimmte Natrium-Kanäle reagieren auf diese Spannungsveränderung, öffnen sich und lösen dadurch eine lawinenartige Reaktion aus. Durch die geöffneten Kanäle strömen positiv geladene Natrium-Ionen in die Zelle, was zur weiteren Verschiebung des Membranpotenzials und der Öffnung weiterer Natrium-Kanäle führt. Der Schwellenwert und auch die Schnelligkeit, mit der ein Aktionspotenzial entsteht, variieren dabei von Zelle zu Zelle – für eine einzelne Zelle sind diese Parameter aber durch die Eigenschaften ihrer Natrium-Kanäle weit gehend festgelegt.

Ein interdisziplinäres Team von Physikern und Neurophysiologen vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und der Ruhr-Universität Bochum hat nun die Schnelligkeit und den Schwellenwert von Aktionspotenzialen in Nervenzellen der Großhirnrinde des Säugergehirns genauer untersucht. Dabei entdeckten Björn Naundorf, Fred Wolf und Maxim Volgushev, dass hier Aktionspotenziale sehr sprunghaft einsetzen: Obwohl ein einzelnes Aktionspotenzial gut eine Millisekunde andauert, setzt ein starker Natrium-Einstrom bereits in den ersten 200 Mikrosekunden ein. Die Natrium-Kanäle scheinen sich demnach fast gleichzeitig zu öffnen, so dass Natrium-Ionen sehr schnell und in großen Mengen in die Zelle strömen können. Gleichzeitig aber fanden die Forscher in ihren Messungen, dass die Schwellenwerte, bei denen die Aktionspotenziale einsetzten, sehr variabel sind.

Um zu verstehen, wodurch dieses ungewöhnliche Verhalten zustande kommt, versuchten die Wissenschaftler zunächst das Verhalten der Zellen in Computersimulationen des Hodgkin-Huxley-Modells nachzubilden. Dabei stellte sich zu ihrer Überraschung heraus, dass eine hohe Variabilität beim Schwellenwert und ein sprunghafter Anstieg des Aktionspotenzials im Rahmen dieses Modells nicht zu vereinen sind. Die beiden Eigenschaften verhalten sich in dem Modell wie die beiden Seiten einer Wippe. Setzt man eine hohe Variabilität beim Schwellenwert an, so verlangt das Modell eine niedrige Schnelligkeit beim Einsetzen des Aktionspotenzials. Fordert man eine hohe Schnelligkeit, ist die Variabilität des Schwellenwerts gering.

Natrium-Kanäle | Modellvorstellung der kooperativen Arbeitsweise von Natrium-Kanälen und dem damit verbundenen sprunghaften Anstieg eines Aktionspotenzials in Nervenzellen von Säugetieren: Durch ihr kooperatives Öffnen setzt ein starker Natriumeinstrom in die Zelle bereits in den ersten 200 Mikrosekunden ein.
Um das beobachtete Verhalten der Nervenzellen dennoch in Computersimulationen nachbilden zu können, postulierten die Forscher einen neuen Mechanismus, der erklärt, wie sich Natrium-Kanäle zwar nicht immer bei dem gleichen Schwellenwert, aber dennoch fast synchron öffnen. Öffnet sich ein Natrium-Kanal, so beeinflusst das nach dem neuen Modell andere Natrium-Kanäle in der direkten Nachbarschaft: Die Kanäle öffnen "kooperativ" und nicht – wie nach Hodgkin-Huxley – unabhängig voneinander und ausschließlich in Abhängigkeit von der Spannung über der Membran.

Um diese Hypothese zu testen, nutzten die Wissenschaftler einen Trick: Wenn es gelänge, den kooperativen Mechanismus messbar zu unterbinden, so wäre das ein gutes Argument für seine Existenz. Das erreichten sie, indem sie mit dem Nervengift Tetrodoxin einen Teil der Natrium-Kanäle blockierten, sodass die noch funktionsfähigen Kanäle weit in der Membran verstreut lagen und nicht mehr kooperieren konnten. Die in solchen Experimenten beobachteten Aktionspotenziale wiesen wie erwartet eine weit langsamere Dynamik auf.

In weiteren Untersuchungen konnten die Forscher zeigen, dass die Zellen diesen neuartigen Mechanismus wahrscheinlich verwenden, um zwischen den empfangenen Signalen zu differenzieren und nur auf bestimmte zu antworten. "Die Zellen funktionieren wie ein Hochpassfilter", fasst Naundorf die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammen. "Schnelle Signale werden gut weitergeleitet, langsame Signale werden unterdrückt."

Die beiden Aspekte der Aktionspotenzialauslösung spielen dabei unterschiedliche Rollen. Die große Variabilität der Schwellenpotenziale ermöglicht es den Zellen, langsam einsetzende Reize zu ignorieren. Sie erhöhen dann fortlaufend ihre Schwelle, sodass in vielen Fällen gar kein Impuls ausgelöst wird. Die schnelle Auslösung der Aktionspotenziale dagegen hilft den Zellen schnell veränderliche Signale auch mit hoher Präzision weiterzugeben. Nach dem Hodgkin-Huxley-Modell wären sie hierzu aber gar nicht in der Lage.

"Viele Wissenschaftler – uns eingeschlossen – sahen das Hodgkin-Huxley-Modell bislang gar nicht mehr als Hypothese an, sondern glaubten, dass es im Prinzip auf alle Neurone anwendbar ist", betont Wolf. Dass dem nicht so ist, haben er und seine Kollegen nun gezeigt. Die bessere Hirnleistung von höheren Tieren, wie Katzen oder auch Menschen, gegenüber Tintenfischen oder auch Schnecken, ist nach ihren Ergebnissen nicht nur auf die höhere Zahl der Neurone in den Gehirnen dieser Tiere zurückzuführen, sondern eben auch auf die Art und Weise, wie die Neurone Signale verarbeiten. Vermutlich nutzen sie dafür molekulare Mechanismen, die niederen Tieren nicht zur Verfügung stehen.

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