Serie: Frauen, die die Welt verbessern: Machos da packen, wo es weh tut
Die Schneiderei von Elvira Aguagallo ist keine wie jede andere. Was nicht am aktiven Vulkan Pichincha liegt, an dessen Fuß sie sich in knapp 3000 Meter Höhe mitten in den Anden befindet. Nicht an dem Trachtenkleid der Osterinseln, das unauffällig an einer Wand hängt. Und auch nicht an den beiden Motorrädern, die zwischen Nähmaschinen und kostbaren Stoffstapeln stehen. Das Besondere an dieser Schneiderei am oberen Stadtrand von Ecuadors Hauptstadt Quito ist, dass es sie ohne ein Programm zur Prävention von Gewalt gegen Frauen nicht geben würde.
Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen
BurdaForward ist einer von drei deutschen Empfängern eines Stipendiums für konstruktiven Journalismus. Im Rahmen des internationalen Projekts »Solutions Journalism Accelerator« setzt BurdaForward von September 2022 bis August 2023 zusammen mit der renommierten Reportage-Agentur »Zeitenspiegel« 12 Multimedia-Produktionen um, die auf den Seiten von »FOCUS Online«, »Bunte.de«, »Chip.de« und »Spektrum.de« veröffentlicht werden. Die Serie trägt den Namen »Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen« und stellt die Arbeit von Wissenschaftlerinnen aus dem Globalen Süden vor, die mit ihrem Team an Lösungen für große Probleme der Menschheit forschen. Es geht dabei um die ersten sechs der so genannten »Sustainable Development Goals« der UN: keine Armut, kein Hunger, gute Gesundheit und Wohlbefinden, gute Bildung, Gendergleichheit, sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Auf »Spektrum.de« erscheinen ausgewählte Texte in unregelmäßigen Abständen. Das Projekt wurde vom European Journalism Centre durch den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
Gewalt gegen Frauen macht vor Ländergrenzen nicht Halt. In Ecuador wütet diese Geißel jedoch besonders wild. Rund 65 Prozent leiden nach Angaben des ecuadorianischen Statistikinstituts INEC darunter, meist in psychologischer Form. Im globalen Durchschnitt sind es laut Weltgesundheitsorganisation nur 30 Prozent. Grund genug für die Gleichstellungsforscherin Viviana Maldonado aus Quito, nach etlichen Jahren mühseliger Aufklärungsarbeit neue Konzepte zu testen. »Männer, die Privilegien einer tief patriarchalischen Gesellschaft verteidigen, erreicht man nicht, indem man sie direkt anspricht«, sagt die 50-Jährige. »Es braucht etwas, was mit einem Schlag die gesellschaftliche Relevanz des Problems verdeutlicht.«
In ihrem gläsernen Büro im siebten Stock von Quitos Uni-Viertel La Floresta ersann die Forscherin mit ihrem Team 2018 deshalb ein Projekt mit dem Titel »PreViMujer«, das für »Prävention von Gewalt gegen Frauen« steht. »In der ersten Phase ging es darum, die wirtschaftlichen Kosten zu berechnen, die dieses Problem verursacht, und es damit sichtbar zu machen«, sagt Maldonado.
Gemeinsam mit ihrem peruanischen Forscherkollegen und Projekt-Mitbegründer Arístide Vara fand sie heraus, dass Ecuador jährlich 4,28 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts einbüßt – 4,6 Milliarden US-Dollar. »50 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Kosten gehen direkt zu Lasten der Frauen auf ihre Haushalte oder Mikrounternehmen, und zwar durch Arbeitsausfälle, Krankenkosten, verhinderte Selbstständigkeit oder deren Zerschlagung durch aggressive Partner. 39 Prozent entfallen auf mittlere und große Unternehmen, elf Prozent auf den Staat.« Plötzlich, so die Professorin für Gender und Entwicklung, die kurze, dunkle Haare hat und ein pinkes Jackett trägt, wollten ganz viele mit ihr reden. Firmenchefs. Uni-Rektoren. Die Regierung.
Die Vermeidung unsichtbarer Kosten
Seit 2021 läuft die zweite Phase von PreViMujer, die wie die erste Phase von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des deutschen Entwicklungsministeriums finanziert und von Maldonado geleitet wird. »Ziel ist es, wirksame Methoden für Prävention in Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Universitäten und Medien zu entwickeln, zu stärken und regelmäßig auf die Wirkung hin zu überprüfen.«
Natürlich geht es bei dem Projekt nicht nur um finanzielle Verluste, sondern auch um die Vermeidung »unsichtbarer Kosten«, ergänzt Maldonado, die außer in Ecuador auch in Südkorea studiert hat. »Sie entstehen, wenn Frauen auf Grund ihres Geschlechts bei Ausbildung oder Arbeit schlecht behandelt werden. Wenn Belästigungen ungeahndet bleiben und sie psychisch erkranken.« Oder wenn Frauen ihre wirtschaftliche Aktivität nutzen, um unabhängig von aggressiven Partnern zu werden. »In diesem Fall kann Gewalt zunächst sogar zunehmen, selbst wenn das Paar bereits getrennt ist.«
Geläuterter Macho: »Gebe zu, dass ich mich damals geirrt habe«
Luis Pinzon ist inzwischen zu einer Art Galionsfigur für das von Maldonado koordinierte Projekt geworden. Dem dreifachen Familienvater hatte es nicht gepasst, dass seine sechs Jahre ältere Frau sich selbstständig machen wollte, obgleich das Geld, das er als Wachmann verdient, für die Familie nicht reichte. In den Augen von Experten wie Viviana Maldonado ist auch dies eine subtile Form von Gewalt.
Auf den Machismo, den Ehefrau und Arbeitskolleginnen Luis Pinzon vorwarfen, mag der Wachmann seine damalige Haltung zwar zunächst nicht schieben. »Sie hatte doch gar keine Ausbildung. Und wer hätte sich um die Kinder kümmern sollen, wenn ich tagsüber schlafen muss wegen meines Nachtjobs?«, erzählt der 34-Jährige in der Schneiderei und schaut dabei etwas verlegen ins Leere.
Doch sein Widerstand wich langsam, als seine Frau begann, Präventions- und Start-up-Kurse zu besuchen, die auf Maldonados Projekt zurückgehen. Organisiert werden sie vom Firmen-Konglomerat »CID-Group« aus Quito, zu dem auch eine Bäckerei-Gruppe gehört, für die Elvira Aguagallo Arbeitsuniformen schneidert, was zur Basis ihrer Selbstständigkeit wurde. Pinzons Gesicht hellt sich auf: »Während der Kurse haben wir immer wieder über das Projekt und Gleichberechtigung gesprochen«, erzählt er. »Und so begriff ich, wie wichtig es ist, dass Frauen die gleichen Chancen und Rechte wie Männer haben. Selbst die Organisation wegen der Kinder war am Ende ganz einfach, weil ich eben doch gelegentlich auch auf die Kinder aufpassen kann.« Er gibt zu, sich damals geirrt zu haben. Und finanziell gehe es ihnen heute viel besser als früher.
Fehler von Männern gegenüber Frauen können jetzt den Job kosten
Aus Sicht von Maldonado hätte die Prävention kaum besser laufen können, zumal sie sich in diesem Fall nicht einmal direkt an den Mann gewendet hat. »Der Machismo ist eines der Grundübel in der Benachteiligung von Frauen.« Eines der größten Hindernisse beim Kampf gegen diese längst überholten Geschlechterrollen seien jedoch noch immer fehlende Mechanismen, die es ermöglichen, eine Kultur von null Toleranz bei Gewalt gegen Frauen zu fördern. »Im April wurde endlich ein Protokoll von der Regierung erlassen, das den juristischen Rahmen für Prävention und Schutz am Arbeitsplatz festlegt und verpflichtend vorschreibt. Unsere Aufgabe ist nun, zu helfen, dass dies umgesetzt wird.«
Dass die CID-Group eines der ersten Unternehmen ist, bei denen das schon funktioniert, ist kein Zufall. Mit seinen 1000 Mitarbeitern zählt sie zu den Firmen, deren Daten in die Studie der ersten Projektphase eingeflossen sind. »Wir waren völlig entsetzt, als wir erfuhren, dass diese Gewalt auch in der CID überall verbreitet ist«, gesteht CID-Sprecherin Nydian Rodriguez.
Rodriguez war selbst Opfer physischer Gewalt – durch ihren Exfreund. »Ich habe psychische und sexuelle Gewalt erlitten und dabei die Unzulänglichkeiten des ecuadorianischen Polizei- und Justizsystems erlebt, das Männer mehr schützt als Frauen.« Sie spreche nie konkret über das, was vorgefallen sei. »Aber es ist Teil dessen, was ich heute bin«, sagt Rodriguez. Die Erlebnisse seien für sie die »treibende Kraft« gewesen, sich für PreViMujer auch in ihrer Firma einzusetzen und dafür zu sorgen, dass Fehlverhalten von Männern nicht mehr ungestraft bleibt. »Jeder stimmt in seinem Arbeitsvertrag einem ethischen Kodex zu. Wer dagegen verstößt, verliert seinen Job.« Eine Entlassung auf Grund dieser Richtlinie habe es bereits gegeben. Es ist zumindest ein Anfang.
Verurteilen und doch dulden: Der seltsame Widerspruch unter Ecuadors Männern
Um zu beweisen, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur untere Bildungsschichten, sondern auch obere trifft, hat Maldonado mit ihrem Team unter der Leitung von Arístide Vara sämtliche Universitäten in Ecuador mit einer gesonderten Studie unter die Lupe genommen. Das Ergebnis des südamerikanischen Pilotprojektes: Ein Drittel aller Frauen, die dort lernen, lehren oder angestellt sind, sind Opfer männlicher Gewalt.
Wie schwer sich selbst die angehende geistige Elite der Nation mit dem Thema tut, zeigt eine Frage, deren Antworten widersprüchlicher kaum sein könnten. Sie lautete: »Lehnen Sie Unterordnung der Geschlechter und Gewalt gegen Frauen explizit ab?« 93 Prozent der männlichen Studenten antwortete mit Ja. Allerdings bejahten auch 80 Prozent derselben Befragten, dass sie Unterordnung von und Gewalt gegen Frauen stillschweigend tolerierten.
Gewalt oder nicht Gewalt? Hitzige Debatten an der Universität
Dass es anders geht, zeigt die Polytechnische Hochschule Quito (EPN), die mit 10 000 Studenten zu den größten des Landes gehört. Rund 100 Lernende und Lehrende sind hier an einem späten Septembertag zu einem Workshop gekommen, zu dem Maldonado und Vara eingeladen haben. Vara konfrontiert das Auditorium mit der Geschichte eines jungen Mannes, der nach einer letzten Kino-Nachtvorstellung eine Frau unter dem Vorwand, sie seien eingeschlossen, verführte, zwar ohne Zwang, ihr aber verschwieg, dass ein Wachmann sie hätte hinauslassen können. Gewalt oder nicht Gewalt? Die Frage ist kaum gestellt, da gibt es bereits heftige Diskussionen – und zwar keinesfalls nur Männer gegen Frauen. Die Antwort bleibt Vara schuldig. Doch die provokante Übung diente ohnehin nur dem Zweck, zu verdeutlichen, wie schwierig manchmal die Definition Gewalt sein kann.
Wegsehen bei Gewalt: Studenten tief von »Akzeptanz des Schweigens« geprägt
»Vor ein paar Jahren wäre eine solche Debatte hier undenkbar gewesen«, sagt Florinella Muñoz. Die 55-Jährige weiß besser als alle anderen, wovon sie spricht. Denn die Chemikerin ist seit 2018 die erste Frau an der Spitze dieser Uni, an der nur 30 Prozent Frauen sind. In enger Abstimmung mit Maldonado schafft sie jetzt Anlaufstellen für Betroffene, Anwälte helfen kostenlos. Ein Lehrstuhl für Menschenrechte soll fachübergreifend für das Thema sensibilisieren. Und es gibt erste messbare Erfolge: Kürzlich sei einem Professor gekündigt worden, weil er seine akademische Position gegenüber einer Studentin auf unangemessene Art privat ausgenutzt habe.
Doch die niedrige Teilnahmequote an den Online-Präventionskursen, die die Uni anbietet, zeige auch, wie hoch die Widerstände weiterhin seien, stellt Muñoz ernüchtert fest. Erst ein Viertel der Studierenden habe den Kurs absolviert. »Selbst 18-Jährige sind von einer Akzeptanz des Schweigens geprägt, die ihnen im familiären Umfeld vermittelt wurde«, sagt Muñoz. Dort heiße es oft immer noch, Gewalt gegen Frauen sei eine »Familienangelegenheit«. Oder: »Das war schon immer so.« Jetzt aber lägen die Dinge auf dem Tisch. »Das ist viel versprechend.«
Ein Jahr nach dem Start der Phase 2 des Präventionsprojekts, die bis 2023 dauert, ist Viviana Maldonado mit den ersten Ergebnissen zufrieden. Mehr als 40 Firmen, darunter das ecuadorianische Telekom-Pendant cnt mit 6000 Beschäftigten, nehmen inzwischen aktiv an dem Projekt teil. Zudem wurde es außer von Peru bereits von Bolivien übernommen, wo sogar 75 Prozent der Frauen Gewalt erfahren haben. Weitere Länder sollen folgen.
Dieses Projekt wurde vom Europäischen Journalismus Zentrum durch den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
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