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Silvester-Böller: Ausnahmezustand für Tiere

Fachleute dokumentieren die Folgen von Silvester-Feuerwerken für Tiere: Vögel fliehen in Massen, Haus- und Nutztiere leiden unter Stress. Der Ruf nach Verboten wird lauter.
Feuerwerk über Wald
Böllern oder verbieten? Laut repräsentativer Befragung sind 60 Prozent der Menschen in Deutschland für ein Ende der privaten Feuerwerke.

Wenn an Silvester um Mitternacht Sektkorken knallen, Böller krachen und Feuerwerk den dunklen Himmel erhellt, beginnt für viele Tiere die schlimmste Zeit des Jahres. Ob Hunde, Pferde oder Wildvögel: Ihre Sinnesorgane sind empfindlicher als die des Menschen – und sie können das plötzlich über sie hereinbrechende Inferno aus Krach, Lichtblitzen und Brandgeruch nicht einordnen. Einige Tiere reagieren mit Panik und fliehen, andere verkriechen sich oder zeigen äußerlich kaum Stress. Während viele Tierhalter ihre Lieblinge so gut es geht gegen die Knallerei abschirmen, sind Wildtiere ihr schutzlos ausgeliefert.

Die Auswirkungen von Feuerwerken auf Wildtiere rücken erst seit einigen Jahren stärker in den Fokus der Wissenschaft. Welches Ausmaß an Panik das Böllern unter Vögeln auslöst, dokumentierte über drei Jahre hinweg ein niederländisches Team mit Hilfe eines Wetterradars. Kurz nach Mitternacht erhoben sich in der Umgebung von Amsterdam hunderttausende arktische Gänse gleichzeitig in die Luft. Die Tiere, die im niederländischen Wattenmeer überwintern, stiegen bis zu 500 Meter hoch auf – mehr als das Fünffache ihrer normalen Flughöhe.

Dieselbe Arbeitsgruppe fand 2023 heraus, dass sich in der Silvesternacht in den Niederlanden etwa 1000-mal so viele Vögel in der Luft befinden wie in anderen Nächten. In besonders feierfreudigen Regionen könnten es sogar zwischen 10 000- und 100 000-mal mehr sein als normal. Selbst zehn Kilometer vom Ort des Feuerwerks entfernt war ihre Aktivität noch zehnmal so hoch wie üblich. »Wir wussten, dass viele Wasservögel stark reagieren, aber jetzt sehen wir auch die Auswirkungen auf andere Arten im gesamten Land«, sagt der Ökologe Bart Hoekstra von der Universität Amsterdam.

500 Kilometer auf der Flucht

Um einen noch detaillierteren Einblick zu gewinnen, statteten Andrea Kölzsch vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und ihre Kollegen fast 350 arktische Wildgänse mit Satellitensendern aus und verfolgten ihr Verhalten über acht Jahreswechsel hinweg. Laut Bewegungsdaten setzt Jahr für Jahr an Silvester um Mitternacht eine panische Massenflucht der Tiere ein. Einzelne Gänse flogen nonstop bis zu 500 Kilometer weit, bevor sie wieder landeten. »Dass auf einmal an allen Orten gleichzeitig kriegsähnliche Zustände herrschen, ist für Vögel unbegreifbar«, sagt Kölzsch. »Sie wollen um jeden Preis weg, können dem aber nicht entfliehen, wenn überall zugleich geknallt wird.« Dass viele Zugvogelarten so stark reagieren, habe auch damit zu tun, dass sie auf ihren langen Wanderungen in vielen Ländern von Menschen gejagt werden. »Sie wissen: Wenn es knallt, dann geht es ihnen ans Leder«, vermutet Kölzsch.

»Noch fast zwei Wochen nach Silvester hatten die Tiere nicht zu ihrem normalen Tagesablauf zurückgefunden«Andrea Kölzsch, Ökologin

Und der Stress endet nicht, wenn für die Menschen der Alltag wieder einkehrt. »Noch fast zwei Wochen nach Silvester hatten die Tiere nicht zu ihrem normalen Tagesablauf zurückgefunden«, so Kölzsch. Sie verbrachten deutlich mehr Zeit damit zu fressen, sonst vermieden sie es, sich zu bewegen. So versuchten die Vögel, den Energieverlust wieder auszugleichen, den sie bei der überstürzten Flucht erlitten hatten. In einigen Fällen kann die Silvesterknallerei noch Tage später tödliche Folgen haben. »Die Tage sind kurz, und wenn dann noch Schnee liegt oder es besonders kalt ist, sterben wahrscheinlich viele Vögel«, sagt die Ökologin.

Die Flucht von großen Vögeln wie Störchen, Gänsen und Kranichen über große Distanzen ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was Feuerwerke in der Natur bewirken. »Vieles spielt sich jenseits unserer Wahrnehmung ab«, sagt Kölzsch. »Meisen beispielsweise kauern mit pochendem Herzen in Nistkästen und haben einfach nur Angst.« Immer wieder kommt es auch zu Massenunfällen von Singvögeln, die vom Feuerwerk aufgeschreckt mit Fensterscheiben kollidieren oder in ihrer Panik desorientiert gegen Wände fliegen. Italienische Tierschützer filmten an Silvester 2021 in Rom, wie hunderte Stare vor der Geräuschkulisse der Silvesterknallerei gegen Gebäude flogen und förmlich vom Himmel regneten.

Der Silvester-Stress lässt sich auch physiologisch messen. So wiesen Forschende um Kurt Kotrschal von der Universität Wien nach, dass sowohl Herzfrequenz als auch Körpertemperatur von Graugänsen in der Nähe von Feuerwerk in den ersten Stunden des neuen Jahres deutlich höher sind als sonst. Die Herzschlagrate stieg beinah um das Doppelte und die Körpertemperatur um ein ganzes Grad. Auch die Herzfrequenz von Gänsegeiern im Salzburger Zoo Hellbrunn erhöhte sich um mehr als das Dreifache: von 50 auf 170 Schläge pro Minute.

»Nutztiere leiden auch an Silvester stumm«Barbara Kohn, Veterinärin

Bei Säugern jenseits von Haustieren steht die Forschung noch am Anfang. In Chile, wo Silvester in die Fortpflanzungszeit der Seelöwen fällt, stellten viele Individuen ihre Partnerwerbung ein und verließen die Kolonie während eines Feuerwerks in der Nähe. Erst nach mehr als 24 Stunden kehrten sie zurück. Die Störung könne negative Folgen für die Fortpflanzung innerhalb der Kolonie haben, spekulierten die chilenischen Wissenschaftler um Eduardo Pedreros.

Nutztiere leiden auch an Silvester stumm

Dass Silvester für viele Hunde und Katzen ein Tag im Ausnahmezustand ist, merken neben den Besitzerinnen und Besitzern auch Tierschutzorganisationen. An keinem Tag des Jahres werden mehr Hunde als entlaufen gemeldet als am Tag des Jahreswechsels. »Silvester bedeutet großen Stress für viele Haustiere«, sagt Barbara Kohn, Professorin für Veterinärmedizin und Direktorin der Kleintierklinik an der Freien Universität Berlin. »Die meisten Tiere haben viel empfindlichere Sinnesorgane als Menschen und verstehen nicht, was um Mitternacht plötzlich passiert.« Neben dem explosionsartigen Lärm und den grellen Lichtblitzen könne ebenso der Brandgeruch bei ihnen großen Stress auslösen.

Kohn mahnt, nicht nur an Hunde und Katzen zu denken. »Auch Hamster oder Kaninchen können unter dem Feuerwerk leiden und sollten so gut wie möglich abgeschirmt werden«, empfiehlt sie. Die Veterinärmedizinerin verweist zudem auf die rund 200 Millionen Nutztiere, die in Deutschland gehalten werden. Rinder könnten ebenfalls Panikattacken bekommen, Schweine seien für ihre Empfindsamkeit bekannt. »Nutztiere leiden auch an Silvester stumm«, sagt Kohn. Da »ein Schwein und ein Rind genauso empfindsame und schützenswerte Lebewesen sind wie ein Hund«, appelliert sie, keine Feuerwerke in der Nähe von Ställen zu zünden. Auch die Bundestierärztekammer warnt vor Panik auf Weiden und in Ställen: Werde in der Umgebung von besonders sensiblen Tieren geknallt, etwa in der Nähe von Putenställen, führe das mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Panik und zum Tod vieler Tiere.

Feinstaub und Mikroplastik

Zunehmend gerät außerdem die Umweltverschmutzung durch die europaweit zu hunderttausenden Tonnen gleichzeitig abgefeuerte Pyrotechnik in den Blick. Der Vorsitzende des Bundesverbands der Pneumologen Nordrhein e. V., Norbert Mülleneisen, verweist auf die enorme Luftverschmutzung. In Deutschland ist die Belastung mit Feinstaub am ersten Tag des neuen Jahres so hoch wie sonst an keinem anderen Tag im ganzen Jahr. Das Umweltbundesamt misst zum Jahreswechsel in vielen Städten PM10-Feinstaub-Konzentrationen von 1000 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Normalerweise liegt die mittlere Konzentration des gesundheitsschädlichen Staubs mit einer Partikelgröße von weniger als 10 Mikrometern in deutschen Städten bei 15 Mikrogramm. Die Wirkung hoher Mengen reicht von vorübergehenden Reizungen der Atemwege bis zu Atemwegserkrankungen und Herz-Kreislauf-Problemen sowie einer Zunahme der Sterblichkeit, warnt die Behörde.

»Um ein Verbot umzusetzen, reicht die Streichung eines einzigen Satzes in der Sprengstoffverordnung«Jürgen Resch, Deutsche Umwelthilfe

Dass Feuerwerksverbote dagegen erhebliche positive Auswirkungen auf die Luftreinheit haben, zeigt das Beispiel der chinesischen Hauptstadt. In Peking erließen die Behörden im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2022 ein Verbot von Feuerwerkskörpern. Die Messstationen verzeichneten daraufhin die sauberste Luft für ein Neujahrsfest seit Beginn der Aufzeichnungen: fünf Mikrogramm des besonders kleinen und damit besonders gefährlichen PM2.5-Feinstaubs pro Kubikmeter, verglichen mit einem Durchschnitt von 289 Mikrogramm am Vorabend des Mondneujahrs im Jahr 2021.

Auch die Belastung mit Mikroplastik durch Feuerwerke ist nach neueren Untersuchungen beträchtlich. In London verglichen Fachleute die Konzentrationen der Kunststoffteilchen in der Themse vor und nach dem Silvesterfeuerwerk. »Wir haben zwar mit einer Zunahme von Mikroplastik gerechnet, aber nicht mit einem Anstieg von mehr als 1000 Prozent zwischen der Probe vom 30. Dezember und jener, die gut 24 Stunden später entnommen wurde«, schreibt Studienautorin Ria Devereux von der University of East London.

Wachsender Widerstand

Trotz aller Risiken scheint der Boom der Pyrotechnik zum Jahreswechsel anzuhalten. Auch in diesem Jahr erwarten Experten und Expertinnen keine Trendwende – im Gegenteil. In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 wurden fast sieben Prozent mehr Feuerwerkskörper eingeführt als im Vorjahreszeitraum, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Im gesamten vergangenen Jahr wurden knapp 40 000 Tonnen Pyrotechnik importiert. Das bisherige Rekordjahr war 2018 mit 47 000 Tonnen.

Doch auch der Widerstand gegen die Böller wächst. Knapp 60 Prozent der Menschen in Deutschland sprechen sich laut einer repräsentativen Umfrage der Verbraucherzentrale Brandenburg inzwischen für ein Ende der privaten Feuerwerke aus. »Um ein Verbot umzusetzen, reicht die Streichung eines einzigen Satzes in der Sprengstoffverordnung«, sagt Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Seine Organisation hat in den vergangenen Jahren unter dem Slogan #Böllerciao ein breites Bündnis für ein Ende der Knallerei geschmiedet. Neben Ärzte-, Umwelt- und Tierschutzverbänden fordert darin auch die Deutsche Polizeigewerkschaft ein Verbot.

Wissenschaftlerin Kölzsch plädiert zumindest als Übergangslösung für ausreichend großflächige böllerfreie Zonen. »Es muss Orte geben, an denen wirklich Ruhe herrscht«, sagt sie. So könnten zentrale Feuerwerke in Städten statt der bislang flächendeckenden eine Lösung sein, um den Jahreswechsel wieder zu einem Fest für Mensch und Tier zu machen.

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  • Quellen

Kölzsch, A. et al.: Wild goose chase: Geese flee high and far, and with aftereffects from New Year's fireworks. Conservation Letters 16, 2022

Pedreros, E. et al.: Observations of the effect of a New Year’s fireworks display on the behavior of the South American sea lion (Otaria flavescens) in a colony of central-south Chile. Marine and Freshwater Behavior and Physiology 49, 2016

Shamoun-Baranes, J. et al.: Birds flee en mass from New Year’s Eve fireworks. Behavioral Ecology 22, 2011

Wascher, C. et al.: Effects of severe anthropogenic disturbance on the heart rate and body temperature in free-living greylag geese (Anser anser). Conservation Physiology 25, 2022

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