Harndrang: Blase an Gehirn!
Sie sind mit dem Auto unterwegs, Ihr Blick ist auf die Straße gerichtet, als Sie einen leichten Druck im Unterleib spüren. Die extragroße Cola, die Sie sich vor einer Stunde gegönnt haben, ist über die Nieren in die Blase gelangt. »Zeit für einen Stopp«, denken Sie und halten Ausschau nach der nächsten Abfahrt.
Für die meisten Menschen ist die Klopause an der Autobahnraststätte eine ziemlich profane Angelegenheit. Nicht jedoch für Rita Valentino. Die Neurowissenschaftlerin erforscht, wie das Gehirn die Signale der Blase empfängt, interpretiert und auf diese reagiert. Wie genau kombiniert es die Informationen aus der Außenwelt, etwa jene zur Verkehrssituation, und findet anhand aller verfügbarer Daten einen sicheren, sozial angemessenen Ort zum Urinieren? »Ich denke, das ist ein gutes Beispiel für die wundervollen Leistungen des Gehirns«, sagt sie.
Früher dachten Forscherinnen und Forscher, die Blase würde von einem simplen Reflex gesteuert – einer Art Schalter, der aus ist, solange Harn gespeichert wird, und eingeschaltet wird, um diesen abzulassen. »Jetzt wissen wir, dass es viel komplizierter ist«, sagt Valentino, Direktorin der Abteilung für Neurowissenschaften und Verhalten des US-amerikanischen National Institute of Drug Abuse in Bethesda (Maryland). Den Entschluss zu pinkeln fällt ein komplexes Netzwerk von Hirnregionen, die an Entscheidungsfindung, Sozialverhalten und der Wahrnehmung aus dem Inneren des Körpers – Interozeption genannt – beteiligt sind.
Das System ist nicht nur verblüffend komplex, sondern auch sehr empfindlich. So leiden schätzungsweise mehr als einer von zehn Erwachsenen unter einer überaktiven Blase – ein Syndrom, welches Harndrang (das Gefühl, urinieren zu müssen, obwohl die Blase nicht voll ist), Nykturie (häufige nächtliche Toilettengänge) und Inkontinenz umfasst. Zwar können bestehende Behandlungsmethoden die Symptome bei einigen Menschen lindern, aber bei vielen sind sie wirkungslos, so der Pharmakologe Martin Michel, der Therapien für Blasenstörungen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz erforscht. Die Entwicklung besserer Medikamente habe sich als derart schwierig erwiesen, dass alle großen Pharmaunternehmen ihre Bemühungen eingestellt hätten.
Laut jüngsten Studien könnte es jedoch viel versprechend sein, neue Hypothesen und Behandlungsmöglichkeiten zu erkunden. Sie legen nahe, sich bei der Therapie von Blasenstörungen nicht nur auf das Organ selbst zu fokussieren, sondern auch das Gehirn als Ziel in Betracht zu ziehen, erklärt Valentino. Zudem sollten wir Symptome wie Inkontinenz nicht einfach als unvermeidlich akzeptieren, sagt Indira Mysorekar, Mikrobiologin am Baylor College of Medicine in Houston. Oft bekomme man zu hören, solche Probleme gehörten halt zum Älterwerden dazu, vor allem bei Frauen in der Postmenopause – »und das stimmt bis zu einem gewissen Grad«, fügt sie hinzu. Aber viele verbreitete Leiden sind vermeidbar und können erfolgreich behandelt werden. »Wir müssen nicht mit Schmerzen oder Unbehagen leben.«
Ein empfindliches Gleichgewicht
Die menschliche Blase ist im Grunde genommen ein elastischer Beutel. Ist sie voll, fasst sie 400 bis 500 Milliliter Urin (etwa zwei Tassen). Um sich von ihrem leeren, faltigen Zustand auf ein Sechsfaches auszudehnen, durchläuft sie eine der größten Expansionen, zu denen menschliche Organe fähig sind. Hierzu muss sich der Detrusor entspannen, ein glatter Muskel in der Blasenwand. Gleichzeitig ziehen sich die Schließmuskeln zusammen, die die Harnröhre an der unteren Blasenöffnung umspannen. Wissenschaftler nennen diesen Schutzreflex auch Guarding-Reflex.
Insgesamt verbringt die Blase mehr als 95 Prozent ihrer Zeit im Speichermodus, entweder weil sie sich gerade füllt oder bereits voll ist. So können wir unseren täglichen Aktivitäten nachgehen, ohne dass etwas austritt. Irgendwann – idealerweise, wenn wir uns dazu entschließen – wechselt das Organ vom Speicher- in den Abgabemodus. Der Detrusor-Muskel zieht sich dann kräftig zusammen, während sich die Schließmuskeln entspannen, so dass der Urin abfließen kann.
»Wir müssen nicht mit Schmerzen oder Unbehagen leben«Indira Mysorekar, Mikrobiologin
Ein Jahrhundert lang haben sich Physiologen darüber den Kopf zerbrochen, wie der Körper vom Speicher- in den Abgabemodus springt. In den 1920er Jahren machte sich der Chirurg Frederick Barrington vom University College London auf die Suche nach dem Schalter im Hirnstamm, dem unteren Teil des Gehirns, der es mit dem Rückenmark verbindet.
Barrington arbeitete mit betäubten Katzen und zerstörte mit einer Elektrode unterschiedliche Bereiche der Brücke (fachlich Pons), eines Teils des Hirnstamms, der Funktionen wie Schlafen und Atmen steuert. Als sich die Tiere erholten, bemerkte der Chirurg, dass einige urinieren wollten – sie scharrten, liefen im Kreis oder hockten sich hin –, waren dazu aber nicht in der Lage. Katzen mit Schädigungen in einem etwas anderen Teil des Pons konnten den Harndrang offensichtlich gar nicht mehr wahrnehmen. Sie urinierten zu zufälligen Zeiten und schienen jedes Mal überrascht zu sein, wenn es passierte. Offensichtlich ist der Pons eine wichtige Kommandozentrale der Harnfunktion und signalisiert der Blase, wann sie sich entleeren soll.
Jenseits des Barrington-Kerns
Barringtons Arbeit legte den Grundstein für unser heutiges Verständnis von der Neurobiologie der Blasenkontrolle. Wie sich mittlerweile jedoch gezeigt hat, braucht es weit mehr als nur den Pons. Sobald sich die Blase mit Urin füllt, übermitteln Dehnungsrezeptoren im Detrusor und in den inneren Schichten der Blasenwand die Information via Rückenmark an das »periaquäduktale Grau« im Hirnstamm. Von dort wandert die Nachricht an eine Hirnregion namens Insula, die als Messfühler fungiert: Je voller die Blase, desto mehr Neurone feuern hier.
Als Nächstes prüft der präfrontale Kortex – jener Bereich des Gehirns, der für Planung und Entscheidungsfindung zuständig ist –, ob gerade ein sozial akzeptabler Zeitpunkt ist, um sich zu erleichtern. Lautet die Antwort Ja, sendet er ein Signal zurück zum periaquäduktalen Grau, das wiederum dem Barrington-Kern im Pons grünes Licht gibt. Der Impuls gelangt zurück zur Blase, und voilà, sie entleert sich (siehe »Die Hirn-Blasen-Verbindung«).
In den letzten zehn Jahren haben hochpräzise Methoden, mit denen sich Verbindungen zwischen Hirnarealen darstellen lassen, das Bild weiter verfeinert. Valentino und ihr Team setzten eine Technik ein, mit der sich die elektrische Aktivität von Neuronen in unterschiedlichen Regionen gleichzeitig erfassen und analysieren lässt. So haben sie herausgefunden, dass Nervenzellen in einem speziellen Bereich des Hirnstamms, dem so genannten Locus coeruleus, rhythmisch zu feuern beginnen, sobald die Blase einen gewissen Füllstand erreicht. Die Impulse breiten sich wellenförmig bis zur Hirnrinde aus und versetzen diese in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit.
»Ich denke, das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass man nachts aufwacht und auf Toilette muss«, so die Neurowissenschaftlerin. »Der Körper sagt: Hör auf mit dem, was du gerade tust, und konzentriere dich auf etwas anderes.« Valentino hofft auch, mit solchen Erkenntnissen dazu beizutragen, Therapien für verbreitete Leiden wie Nykturie und Bettnässen zu finden.
Wie man lernt, den Urin zu halten
Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit zu pinkeln, will gelernt sein – das weiß jeder, der ein Kind großgezogen hat. Nach der Geburt gibt nicht das Gehirn, sondern ein Rückenmarksreflex das Signal zum Wasserlassen, sobald die Blase eine bestimmte Kapazität erreicht hat. Erst im Alter von etwa drei oder vier Jahren übernehmen jene Gehirnregionen die Kontrolle, die Funktionen wie soziales Bewusstsein und Entscheidungsfindung steuern, erklärt Hanneke Verstegen, Neurowissenschaftlerin am Beth Israel Deaconess Medical Center und der Harvard Medical School in Boston.
Wie genau die Prozesse im Hirnstamm ablaufen, kann man bei menschlichen Babys nicht direkt beobachten. Doch Verstegen und ihr Team erforschen den Vorgang bei jungen Labormäusen, die mit rund drei bis fünf Wochen willentlich Wasser lassen können. Die Tiere beginnen dann, in eine bestimmte Ecke zu urinieren – ein Verhalten, das laut Verstegen dem von Kleinkindern, die bereits aufs Töpfchen gehen, ganz ähnlich ist. Dabei verschwindet der primitive, automatische Rückenmarksreflex, den wir als Säuglinge haben, nie vollständig: Werden die Nerven des Rückenmarks verletzt, die die Signale zwischen Blase und Gehirn übermitteln, kann der Reflex reaktiviert werden. Das führt mitunter zu Inkontinenz oder anderen Problemen, die den Einsatz eines Katheters notwendig machen.
Rückenmarksverletzungen sind nur eine von vielen möglichen Ursachen für eine gestörte Kommunikation zwischen zentralem Nervensystem und Blase. Wenn das Gehirn altert, können die Nervenfasern beschädigt werden, die Nachrichten innerhalb oder zwischen den fürs Urinieren zuständigen Regionen übertragen. Das beeinträchtigt die Blasenkontrolle – ein Prozess, der bei Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer häufig beschleunigt abläuft.
Die Medizinphysikerin Becky Clarkson von der University of Pittsburgh in Pennsylvania und ihre Kollegen verwenden bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), mit der man Veränderungen im Sauerstoffgehalt des Bluts in verschiedenen Hirnregionen messen und dadurch auf deren Aktivität schließen kann. So wollen sie ermitteln, weshalb die komplexen neuronalen Mechanismen versagen, die das Urinieren steuern. »Wir versuchen herauszufinden, welche Bahnen möglicherweise beschädigt sind«, sagt Clarkson. »Wie steuert das Gehirn die Blase normalerweise? Warum kann es sie nicht mehr kontrollieren?«
Neue Medikamente müssen her
An ihren Studien nehmen vor allem Frauen über 60 teil. Frauen in diesem Alter leiden am häufigsten an einer überaktiven Blase. Ungefähr elf Prozent der Gesamtbevölkerung sind betroffen, unter postmenopausalen Frauen sind es mehr als 45 Prozent. Wissenschaftler sind sich nicht sicher, was die Ursachen des Syndroms sind und weshalb es bei älteren Frauen so häufig ist. Womöglich ist die Blase selbst das Problem. Indira Mysorekar beispielsweise hat herausgefunden, dass Immunzellen während der Menopause Klumpen auf der Blasenschleimhaut bilden, die Lymphknoten ähneln. Diese Ablagerungen erhöhen die Empfindlichkeit der Blase gegenüber selbst geringen Mengen von Escherichia coli, dem Bakterium, das die meisten Harnwegsinfektionen verursacht. Laut der Forscherin habe das chronische Blasenschmerzen oder eine überaktive Blase zur Folge.
Letzteres kann bei Männern und Frauen auch mit einem überaktiven Detrusor zusammenhängen: Ruckartige Kontraktionen des Muskels signalisieren dem Gehirn dann fälschlicherweise, das Organ sei voll. Fast alle vorhandenen Therapien zielen darauf ab, solche Spasmen zu verhindern. Meist werden so genannte Antimuskarinika verschrieben, welche die Aktivität von Acetylcholin hemmen – das ist jener chemische Botenstoff, der die Detrusor-Kontraktionen auslöst. Hilft das nicht, empfehlen Ärzte oft, Botulinumtoxin, besser bekannt als Botox, in den Muskel zu injizieren, damit dieser sich nicht so häufig zusammenzieht. Über ein chirurgisches Implantat oder auf der Haut platzierte Elektroden leiten sie manchmal auch elektrischen Strom zu den Rückenmarksnerven, die den Blasenmuskel kontrollieren.
Das Problem bei all diesen Behandlungen ist, dass sie unerwünschte Nebenwirkungen haben können – in seltenen Fällen wird sogar die Fähigkeit zum Wasserlassen beeinträchtigt, sagt Martin Michel. »Es ist ein schwieriger Balanceakt: Macht man zu viel, kann man nicht mehr urinieren; macht man zu wenig, hat man Probleme mit der Speicherung.« Antimuskarinika wurden insbesondere bei älteren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht, was Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit aufkommen ließ. Und nicht jeder, der an einer überaktiven Blase leidet, hat auch einen überaktiven Detrusor-Muskel. Einige Wissenschaftler vermuten, das Problem mancher Patienten könnte woanders liegen, etwa im Gehirn.
Konditionierte Schlüssel-Inkontinenz
Wenn Sie schon einmal nach einem langen Arbeitstag nach Hause gekommen sind und just in dem Moment, in dem Sie die Tür aufschließen, auf die Toilette mussten, waren Sie Zeuge der engen Verbindung zwischen Gehirn und Blase. Diese so genannte Schlüssel-Inkontinenz hat nichts mit dem Füllstand der Blase zu tun. Sie unterscheidet sich auch von der Unfähigkeit, den Urin beim Niesen, Husten oder Springen zu halten: Letzteres Phänomen, das auch als Stress-Inkontinenz bezeichnet wird, tritt meist auf Grund einer schwachen Beckenbodenmuskulatur auf.
Einige Experten sind der Ansicht, dass es sich bei den Empfindungen, die für eine überaktive Blase typisch sind, um konditionierte Reaktionen des Körpers handelt. Berühmt wurden diese durch die Versuche des russischen Physiologen Iwan Pawlow, der Hunde darauf trainierte, bestimmte Klänge mit Futter zu verbinden. Clarkson zufolge könnte die Schlüssel-Inkontinenz bei manchen Menschen darauf zurückzuführen sein, dass sie über viele Jahre hinweg den Urin immer so lange hielten, bis sie ihre eigene Toilette zu Hause benutzen konnten. Auch andere Umstände und Ereignisse lösen mitunter plötzlichen Harndrang aus, etwa das Geräusch von fließendem Wasser.
Becky Clarkson und andere Forscher sind auf Auffälligkeiten in der Hirnaktivität von Frauen mit überaktiver Blase gestoßen. Bei einem typischen Experiment in Clarksons Labor liegen die Probandinnen in einem fMRT-Gerät, während ein Katheter Flüssigkeit in ihre Blase einleitet – und zwar so lange, bis die Frauen das Gefühl haben, dass diese voll ist. Ein Mitarbeiter entnimmt dann etwas Flüssigkeit und ersetzt sie wieder. Der Vorgang wird viele Male wiederholt.
Damit haben die Wissenschaftler ein Modell entwickelt, das erklärt, wie das Gehirn die Blase steuert. Beteiligt sind unter anderem die Insula, die von der Blase ausgehende Signale zu deren Füllstand auswertet, und der präfrontale Kortex, der entscheidet, ob gerade ein günstiger Moment ist, um sich zu erleichtern. Zwei weitere Regionen, das supplementär-motorische Areal und der anteriore zinguläre Kortex, arbeiten offenbar zusammen: Sie beurteilen, wie stark das Bedürfnis zu pinkeln ist, und steuern die Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur. Dadurch können wir den Urin halten, bis wir eine Toilette gefunden haben. Diese Regionen sind bei manchen Menschen mit überaktiver Blase scheinbar besonders aktiv. Deshalb werden die Betroffenen manchmal vom Harndrang überwältigt, obwohl die Blase gar nicht voll ist.
Wie bei ehemaligen Rauchern
Vor einigen Jahren stellte ein Teammitglied von Clarkson fest, dass das starke Bedürfnis, sich zu erleichtern, dem Gefühl ähnelt, das bei ehemaligen Rauchern in gewissen Umgebungen aufkommt – etwa einer Bar, in der sie früher geraucht haben. Clarkson war neugierig und tat sich mit Cynthia Conklin zusammen, eine Forscherin von der University of Pittsburgh in Pennsylvania, die sich mit Raucherentwöhnung beschäftigt. Sie passte ein Studiendesign an, das ursprünglich für Raucher entwickelt worden war, um zu untersuchen, wie Frauen mit überaktiver Blase auf spezielle Trigger reagieren. Den Probandinnen wurden Fotos von Orten gezeigt, die üblicherweise Harndrang bei ihnen auslösen, beispielsweise die eigene Haustür oder – in einem Fall – der Eingang zu einem Supermarkt. Wie sich zeigte, war die Aktivität in Hirnregionen für Aufmerksamkeit, Entscheidungsfindung und Blasenkontrolle stärker, als wenn die Frauen »unkritische« Fotos betrachteten.
»Es wäre großartig, wenn wir die Menschen davon abhalten könnten, diese Medikamente zu nehmen«Becky Clarkson, Neurowissenschaftlerin
Bestimmte verhaltensbasierte Strategien scheinen den Betroffenen zu helfen, gelassener auf solche Trigger zu reagieren, erklärt Clarkson. Erste Daten ihrer Labore deuten darauf hin, dass zum Beispiel Achtsamkeitsübungen wie die Bodyscan-Meditation, bei der sich die Teilnehmerinnen von Kopf bis Fuß entspannen, den intensiven Druck auf der Blase verringern. Außerdem könnte eine nicht invasive Form der Hirnstimulation, die so genannte transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), den Harndrang lindern.
Becky Clarkson schaute sich auch die Hirnaktivität von Frauen an, bei denen Botulinumtoxin oder gezieltes Beckenbodentraining entweder halfen oder wirkungslos waren. Und derzeit erforscht sie, ob häufig verschriebene Medikamente gegen Blasenleiden das Gehirn verändern. Viele ältere Frauen – und ebenso Männer – nehmen bereits zahlreiche verschiedene Anticholinergika ein, um ihre überaktive Blase zu behandeln. Dazu zählen auch die besonders häufig verschriebenen Antimuskarinika. »Es wäre großartig, wenn wir die Menschen davon abhalten könnten, diese Medikamente zu nehmen«, sagt sie.
Gründe für eine überaktive Blase
Die meisten Fachleute sind sich einig: Das Hauptproblem bei der Suche nach wirksamen Therapien besteht darin, dass die Diagnose so schwammig ist. Es handelt sich nicht um eine einzige Erkrankung, sondern um eine Reihe verschiedener Symptome, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können. Dazu zählen beispielsweise Morbus Parkinson, Rückenmarksverletzungen und Diabetes – oder etwas völlig anderes. Dennoch werden all diese Fälle oft so behandelt, als handle es sich um ein und dieselbe Problematik, sagt der Neurowissenschaftler Aaron Mickle vom Medical College of Wisconsin.
Mickle erforscht, wie verschiedene Faktoren auf das Urothel einwirken, das die Blase im Innern auskleidet. Jene weiche, sich selbst erneuernde Gewebsschicht dehnt sich abhängig vom Volumen der Blase aus oder zieht sich zusammen. Früher hielten Wissenschaftler das Urothel für eine passive Barriere, die die Blasenwand abdichtet. Heute weiß man, dass es eine entscheidende Rolle dabei spielt, den Füllstand der Blase zu signalisieren.
Ein Grund für die hohe Empfindlichkeit des Urothels sind mechanosensitive Ionenkanäle, die in vielen seiner Zellen enthalten sind. Dabei handelt es sich um Proteine in der Zellmembran, die regelrechte Tunnel bilden. Dehnt sich die Membran, wird sie eingedrückt oder auf andere Weise verformt, öffnen sich die Kanäle, und positiv geladene Ionen strömen in die Zelle, erklärt die Physiologin und Ionenkanalexpertin Kate Poole von der University of New South Wales in Australien.
Die auf mechanische Reize spezialisierten Kanäle befinden sich in der Membran von Neuronen, die sich ins Urothel hinein erstrecken. Sobald die einströmenden, positiv geladenen Ionen einen gewissen Schwellenwert erreichen, kommunizieren die Zellen über elektrische Impulse direkt mit den Nervenbahnen im Rückenmark und Gehirn. Auch andere Zellen im Urothel enthalten zahlreiche mechanosensitive Ionenkanäle, was vermuten lässt, dass sie das Volumen der Blase ebenfalls signalisieren können.
2023 konnte Aaron Mickle mit Hilfe optogenetischer Methoden gezielt einige dieser nicht neuronalen Zellen des Urothels an- und ausschalten. Bereits beim ersten Versuch wurden dadurch sensorische Neurone aktiviert und Blasenkontraktionen ausgelöst. Mickle hofft, irgendwann ein drahtloses optogenetisches System zu entwickeln, das die Aktivität bestimmter Blasenzelltypen bei Menschen kontinuierlich überwachen und verändern kann.
Auf mechanosensitive Inonenkanäle abzielen
Andere Teams wollen herausfinden, ob die mechanosensitiven Ionenkanäle potenzielle Ziele für Medikamenten darstellen. Möglicherweise könnten aber auch andere Tunnel in den Blasenzellen, die sich durch chemische Signalstoffe oder Hormone öffnen, als solche »Targets« dienen. Dazu zählt etwa eine Gruppe von mechanosensitiven, propellerförmigen Proteinen, die Piezo-Kanäle heißen und eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Blase spielen (siehe »Gespür für Dehnung«). Eine 2020 veröffentlichte Studie hat ergeben, dass eine seltene Mutation, die Kanäle vom Typ Piezo2 beeinträchtigt, schwer wiegende Probleme verursacht, etwa beim Gehen. Die Betroffenen können zudem den Füllstand ihrer Blase nicht mehr richtig spüren. Manche urinieren deshalb nach einem festen Zeitplan oder müssen ihre Blase nach unten drücken, um sich zu erleichtern.
Einige Wissenschaftler hoffen, Piezo2-Kanäle gezielt ansteuern zu können, um diverse Blasenfunktionsstörungen zu behandeln. Pool zufolge haben die Proteine den Vorteil, »von Natur aus zugänglich für Medikamente« zu sein. Bedeutet: Es ist gut möglich, kleine Moleküle zu finden, die die Kanäle ein- oder ausschalten, obwohl diese normalerweise auf mechanische Reize reagieren.
Aber es gibt eine Kehrseite: Genau wie andere Ionenkanäle der Blase finden sich Piezo2-Kanäle überall im Körper, also auch in der Lunge, in den Gelenken und im Herzen. Jedes Medikament, das auf sie abzielt, wird daher wahrscheinlich ebenso in anderen Regionen des Körpers wirken, was Sicherheitsrisiken birgt. Martin Michel verweist auf eine klinische Studie eines Wirkstoffs, der mit einer anderen Art von Ionenkanälen in der Blase wechselwirkt – und zwar solchen, die Kaliumionen in die Zellen eindringen lassen. Die Untersuchung musste abgebrochen werden, weil die Arznei Leberprobleme verursachte.
Es gibt mindestens eine Möglichkeit, dieses Problem zu überwinden, zumindest in der Theorie: Gentherapien, die direkt in den Detrusor-Muskel injiziert oder über einen Katheter in die Harnröhre eingebracht werden und daher ausschließlich im Blasengewebe wirken. 2023 veröffentlichten Expertinnen und Experten zwar vorläufige, aber viel versprechende Daten einer klinischen Gentherapie-Studie mit 67 Patienten, die auf die Kaliumkanäle der Blase abzielte.
Bislang haben auf die Blase und die Harnwege spezialisierte Wissenschaftler unabhängig von denen gearbeitet, die Rückenmark und Gehirn erforschen. Nun beginnen die ursprünglich getrennten Fachbereiche sich auszutauschen, um die Puzzleteile zusammenzusetzen. Mickle beispielsweise hat sich kürzlich einem Neuroimaging-Labor angeschlossen, das ihm dabei helfen soll zu beobachten, wie das Gehirn einer Maus auf optogenetische Stimulation von Urothelzellen reagiert. In der Vergangenheit »haben wir uns nie auf das Gehirn konzentriert«, sagt Valentino. Aber neue Ansätze in der Forschung »ermöglichen es uns, mehr über solche Targets zu erfahren«.
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