Naturschutz: Von der Schießbahn zur Wisentweide
Links ein alter Panzerschießstand, rechts ein paar weidende Galloway-Rinder, dazwischen viel Heide, viel Ginster, Bäume und ein paar verfallene Bunker. Der Wagen von Peter Nitschke und Luisa Zielke ist auf dem Weg zu einem der größten Freilandversuche Deutschlands. Die sandige Piste gabelt sich an einem stabilen Zaun. Dahinter liegt die Wildniszone der Döberitzer Heide, eines Teils des ehemaligen Truppenübungsplatzes »Döberitz« direkt vor den Toren Berlins. 1945 besetzte die russische Armee das Gelände. Bis 1991 haben sich hier russische Soldaten mit Panzern durch den Sand gewühlt und Granaten verschossen. Seit 1997 ist die Fläche als Naturschutzgebiet streng geschützt. 2004 erwarb die Heinz Sielmann Stiftung große Teile der Döberitzer Heide und begann mit den Vorbereitungen für ein einzigartiges Naturschutzprojekt.
In der Wildniszone wird jetzt eine Welt simuliert, wie sie vielleicht vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren existiert hat. Ohne spürbaren menschlichen Einfluss; dafür mit dem Einsatz großer Pflanzenfresser, die früher bei uns heimisch waren. Von 2007 bis 2014 wurden mehr als 40 Wisente, 27 Przewalskipferde und 20 Rothirsche in der knapp 20 Quadratkilometer große Wildniszone ausgewildert. Es ist eines der wenigen Projekte in Deutschland, in dem diese Kombination echter Wildtiere zum Einsatz kommt – und kein Selbstzweck. Das Gebiet steht im Verdacht, noch mit Restmunition belastet zu sein. Deshalb können die gängigen Pflegemethoden, um Offenland zu erhalten, dort nur stark eingeschränkt angewendet werden: Feuerrodung verbietet sich ebenso wie der Einsatz schwerer Maschinen.
Also sollen die Tiere dafür sorgen, dass Teile der wertvollen offenen Landschaft über einen langen Zeitraum erhalten bleiben. Bis vor Kurzem war gängige Lehrmeinung, dass das unmöglich ist und in unseren Breiten fast überall automatisch Wald wächst, sobald eine Fläche sich selbst überlassen bleibt. Seit Ende der 1990er Jahre gibt es aber immer mehr Ökologen, die glauben, der Wald breite sich nur deshalb so ungehemmt aus, weil der Mensch alle großen Pflanzenfresser erfolgreich zurückgedrängt oder gleich ganz ausgerottet hat.
Durch ein Tor geht es auf einem geräumten Weg weiter zur Kontrollfahrt mitten hinein in die Wildniszone. Von den ganz großen Pflanzenfressern ist zunächst nichts zu sehen. Dafür ein paar Damhirsche, die unaufgeregt das Weite suchen, und eine kleine Rotte Wildschweine, die mit ihren Rüsselnasen ungerührt weiter den Boden aufwühlen. Nitschke stoppt den Wagen und zeigt auf eine Gruppe Birken. Die Stämme haben einen Durchmesser von vielleicht 15 Zentimetern, einige sind in Brusthöhe abgeknickt. »Hier ist gut zu sehen, wie die Wisente den jungen Bäumen zusetzen«, sagt Nitschke. Dass die Tiere so starke Bäume umknicken, um an die frischen Triebe zu gelangen, hätte er zu Beginn des Freilandversuchs nicht für möglich gehalten. Eine neue Erkenntnis ist auch, dass die Wisente mit Vorliebe eingeschleppte Pflanzen wie Spätblühende Traubenkirsche und Robinie kurzhalten.
Geschmacksvorlieben der Megafauna
Nitschke ist der Projektleiter der Döberitzer Heide, Luisa Zielke ist zuständig für die systematische Erhebung von Daten und die wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse: Seit Anfang 2016 forscht die Ökologin für ihre Doktorarbeit in der Heide – unterstützt von der Heinz Sielmann Stiftung, dem Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung im Forschungsverbund Berlin e. V. und der Universität Rostock: »Wir untersuchen unter anderem die Nahrungsvorlieben von Wisenten und Przewalskipferden, den Gesundheitszustand und die Populationsentwicklung«, sagt Zielke.
Ihre Forschung hat hier zum Beispiel ergeben, dass Wisente und Przewalskipferde mehr als 100 verschiedene Pflanzen fressen. »Alle zwei Monate habe ich Proben der Pflanzen genommen und auf ihren Energiewert hin untersucht«, so Zielke. Auch der Kot der Tiere wird eingesammelt. Daraus kann die Wissenschaftlerin Rückschlüsse ziehen, wie viel von der in den Pflanzen gespeicherten Energie die Tiere tatsächlich nutzen und ob sie von Endoparasiten befallen sind.
Die Ergebnisse der Untersuchung sind von konkreter Bedeutung für das Projekt: Zum Beispiel werden sie Aufschluss darüber geben, wie lange das Futter für alle reicht. Wegen des Zauns können die Tiere ja nicht einfach abwandern, wenn die Nahrungsressourcen innerhalb der Kernzone mal erschöpft sein sollten. Die Beantwortung der Frage ist wichtig für das Projekt. Der Bestand der Wisente ist mittlerweile auf 75 bis 80 Tiere angewachsen, derjenige der Rothirsche auf zirka 90. Die Zahl der Wildpferde bleibt konstant, weil wegen der strengen Zuchtbestimmungen neben Stuten nur Wallache eingebracht wurden.
Eine genaue Zahl kann Zielke zum jetzigen Zeitpunkt ihrer Untersuchungen noch nicht nennen. Aber der Gesundheitszustand von jedem Wisent und jedem Pferd wird jeden Monat eingeschätzt. Unter anderem dahingehend, wie mager oder kräftig die Tiere sind: Bei der Beurteilung hilft Zielke eine besondere Bewertungsskala, ein so genanntes »Body-Condition-Scoring«. »Wir versuchen jedes Tier wenigstens einmal im Monat zu fotografieren«, sagt Zielke. An vielen Orten in der Wildniszone sind deshalb Fotofallen installiert. Wenn sie kann, lichtet sie die Tiere auch selbst ab. Für jeden Wisent, jedes Pferd wird also eine Kartei angelegt, die nach und nach immer mehr Informationen enthält. Je länger das Monitoring läuft, desto mehr Muster lassen sich daraus ablesen: ob sich die Fitness der Tiere im Lauf der Jahreszeiten verändert, im Lauf des Lebenszyklus oder im Lauf besonders fetter oder magerer Jahre. Von den gewonnenen Erkenntnissen können vielleicht später auch andere Projekte profitieren, bei denen Wisente in die Freiheit entlassen werden.
Die Pferde stehen gut im Futter
Vor allem die Pferde stehen das ganze Jahr über sehr gut im Futter. Das bedeutet, dass sie auch auf Flächen, die deutlich magerer sind als die Döberitzer Heide, wahrscheinlich gut zurechtkommen würden. Bei den Wisenten gibt es größere Schwankungen. Wie die meisten anderen Wildtiere haben sie im ausgehenden Winter ihre Reserven weitgehend aufgebraucht. Aber nicht, weil sie sich gegenseitig das Futter wegfressen, sondern weil in der Winternahrung deutlich weniger Energie steckt. Die Pferde kommen damit offenbar besser klar, weil sie keine Zeit mit Wiederkäuen verlieren und über den Tag deutlich mehr Nahrung zu sich nehmen.
Auch auf die Frage, ob die Tiere in der Lage sind, das Offenland zu erhalten, gibt es zehn Jahre nach Versuchsbeginn erste Antworten: »Die Wisente nutzen augenscheinlich die Übergangszone zwischen Wald und Offenland besonders intensiv«, hat Peter Nitschke beobachtet. Weil sie dort junge Triebe fressen, Rinde von Bäumen schälen, Bäume umknicken und sich an den Stämmen reiben, verhindern sie tatsächlich eine weitere Ausbreitung des Waldes und sorgen für einen strukturreichen Waldsaum.
Wichtig ist auch die Beobachtung, dass die Wisente mindestens genau so viel Zeit im Offenland wie im Wald verbringen. Die Ansicht, dass der Wisent vor allem ein Waldrind ist, scheint nur teilweise zu stimmen. Wird die Beobachtung durch die Auswertung der bevorzugten Futterpflanzen bestärkt, kommen in Zukunft möglicherweise weitere Landschaften Europas für eine Ansiedlung in Frage, die man bislang für ungeeignet hielt.
Der Wagen fährt noch ein Stück weiter und kommt auf einer kleinen Anhöhe zum Stehen. Von hier überblickt man die so genannte Wüste. Ein erhabener Anblick: In der Ferne zieht ein Rudel Rothirsche – 20 bis 30 Tiere – über die weite, offene Fläche. Etwas weiter äsen drei Wisente. Alles wirkt ganz natürlich. Von den Pferden ist keins da, die Hirsche sind längst nicht vollzählig, und von den Wisenten fehlen noch schlappe 75. »Es gibt Tage, da sehe ich auf einer Kontrollfahrt keines der Tiere«, sagt Nitschke. Das zeigt, wie groß die Wildniszone tatsächlich ist. Irgendwo gibt es zwar einen Zaun, aber drinnen leben die Tiere unter nahezu natürlichen Bedingungen: Die Kälber werden im Frühjahr geboren und nicht – wie teils in Zoos beobachtet – über das ganze Jahr verteilt. Mehrere dominante Wisentbullen ziehen zur Brunft mit unterschiedlich großen Mutterkuhgruppen durch verschiedene Teile der Wildniszone. Auch das haben Peter Nitschke und Luisa Zielke auf ihren Fahrten durch die Heide beobachtet und dokumentiert.
Dieses Leben unter naturnahen Bedingungen ist ein weiteres wichtiges Projektziel: »Wir leisten unseren Beitrag zur Erhaltungszucht von Wisenten und Przewalskipferden. Ziel der Zucht sollte dabei langfristig sein, möglichst viele der Tiere wieder in die freie Wildbahn oder in große Semireservate zu entlassen«, erklärt Nitschke.
Die Chancen dafür stehen eigentlich nicht schlecht: Allein in Brandenburg sind acht Prozent der Landesfläche ehemalige Truppenübungsplätze. Auch dort wurden in den 1990er Jahren viele Offenlandschaften unter Schutz gestellt. Weil es keine grundlegende Strategie gibt, wie die munitionsbelasteten Flächen offen gehalten werden können, sind viele von ihnen mittlerweile wieder zugewuchert. Dabei ist jedes Land verpflichtet, die der EU gemeldeten Natura-2000-Schutzgebiete in einem günstigen Zustand zu erhalten. Passiert das nicht, drohen Strafen. Mit der Arbeit der Sielmann Stiftung in der Döberitzer Heide läuft jetzt seit zehn Jahren ein erfolgreiches Referenzprojekt, das zeigt, wie man dem Problem auf attraktive Weise begegnen kann. Wenn die Doktorarbeit von Luisa Zielke veröffentlicht wird, gibt es dazu erstmals eine umfangreiche Analyse des Projekts, aus der potenzielle Nachahmer wichtige Informationen für ihre eigenen Projekte ziehen können. Interessierte Nachfragen aus dem In- und Ausland gibt es bereits. »Ich bin mir sehr sicher, dass unser Projekt und die Arbeit von Luisa Zielke da wertvolle Hinweise liefern können«, sagt Peter Nitschke.
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