Naturschutz: Zurück zur Wildnis
Mitten in Mitteleuropa wächst wieder ein Urwald, und kaum einer hat es bisher bemerkt – schließlich versteckt sich die Wildnis zwischen Berlin und Cottbus raffiniert mitten auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz "Lieberose". Wer den Urwald dort besuchen möchte, kann manchmal sogar getrost auf Machete und Axt verzichten. Besser sollte er eine Lupe mitnehmen. Schließlich ragen die Gewächse dort keine zig Meter hoch in den Himmel, sondern allenfalls einen Finger breit. Denn statt Bäumen und Sträuchern wachsen Moose und Flechten zu einem Mini-Urwald, den Menschen am besten auf dem Bauch liegend mit einer Lupe inspizieren. Und doch erklärt Hans-Joachim Mader: "Hier beginnt die Entwicklung zur Wildnis." Der Ratsvorsitzende der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg beobachtet in der Lieberoser Heide den Prozess, den die Bundesregierung zwei Prozent der Fläche Deutschlands verordnet hat: Auf einem Fünfzigstel des Landes soll sich die Natur möglichst unbeeinflusst vom Menschen entwickeln.
"Das entspricht einer Fläche von 7140 Quadratkilometern und damit recht genau der Größe der Rhein-Ruhr-Region", erklärt Elsa Nickel, die im Bundesumweltministerium die Wildnisidee verantwortet und vorantreibt. Heute leben in diesem Ballungsraum rund zehn Millionen Einwohner, echte Wildnis hätte hier natürlich kaum eine Chance. Für ihr Zwei-Prozent-Ziel braucht die Regierung also dünn besiedelte Regionen, die in Deutschland vielerorts Mangelware sind. Mit einer Ausnahme: 1990 brachte die DDR in das vereinigte Deutschland als Tafelsilber nicht nur fünf nagelneue Nationalparks, sondern zusätzlich noch eine ganze Reihe zum Teil riesige Truppenübungsplätze mit, die nicht nur unbewohnt, sondern oft auch in absehbarer Zukunft ungenutzt waren: Etliche von ihnen sollten von der Roten Armee bis 1994 geräumt werden; andere der von der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr eingebrachten Übungsflächen wurden zudem für die schrumpfenden Truppen nicht mehr benötigt. Ein Teil der frei werdenden Manövergelände konnte so zu einer Keimzelle der neuen Wildnis in Deutschland werden.
Wozu aber diese Flecken, auf denen die Natur sich weit gehend selbst überlassen bleibt? Hans-Joachim Mader erinnert als Biologe an die Naturgeschichte Mitteleuropas, wo die Natur praktisch flächendeckend von Kulturlandschaften ersetzt wurde. Dadurch verschwanden komplette Ökosysteme mit ihrer gesamten genetischen Vielfalt, die Evolution wurde abrupt unterbrochen. Wie groß dieser Verlust ist, bleibt unklar, weil es Wildnis in Mitteleuropa schon seit einigen Jahrhunderten nicht mehr gibt und sie deshalb kaum erforscht ist.
Deutschland als Nachzügler
Ganz vermeiden lassen sich solche Verluste in einer dicht besiedelten Region wohl kaum. Aber sie lassen sich deutlich verringern, wenn man zumindest in einigen Gebieten der Natur wieder ihren Lauf lässt. "In dieser Hinsicht sind uns andere Länder weit voraus", erklärt der Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) Christof Schenck. So kam der erste Nationalpark Afrikas an den Virunga-Vulkanen dem ersten deutschen Reservat dieser Klasse im Bayerischen Wald um 45 Jahre zuvor. Länder wie Tansania oder Peru wollen nicht nur auf zwei Prozent ihrer Landesfläche wie Deutschland, sondern auf immerhin 10 bis 17 Prozent der Natur ihren Lauf lassen.
"Diese Länder kennen den Wert hoher Biodiversität in ihrer Wildnis", berichtet Schenck. Daher schützen sie riesige Gebiete, auch wenn es dort ähnliche Interessenkonflikte wie in Mitteleuropa gibt: Im Nationalpark Wattenmeer und in den Virunga-Vulkanen gibt es gleichermaßen Erdöl. Im Bayerischen Wald würden viele lieber Forstwirtschaft statt Urwald sehen, ähnlich würden die Menschen an der Grenze zur Serengeti dort gern ihr Vieh weiden lassen. Langfristig aber zahlt sich die Wildnis oft sogar finanziell aus: Tansania hat 16 Nationalparks, von denen mit der Serengeti und dem Kilimandscharo zwei längst als Touristenmagneten gelten, die reichlich Geld in die Regionen und in die Staatskasse spülen. Ähnliches gilt für den Nationalpark Bayerischer Wald, den jedes Jahr mehr als eine Million Menschen als Urlaubsziel ansteuern.
Dabei lockt in den mitteleuropäischen Nationalparks bislang nicht einmal eine echte Wildnis wie in der Serengeti oder im peruanischen Amazonasregenwald, sondern nur eine ehemalige Kulturlandschaft, die sich allmählich Richtung unberührte Natur entwickelt. Dort wandelt sich der bewirtschaftete Forst langsam in einen Urwald. In diesem Prozess besitzt Mitteleuropa immerhin einen überraschenden Vorteil. Im Kongobecken hat der tropische Regenwald eine Geschichte von einigen Millionen Jahren hinter sich. In Mitteleuropa dagegen krempelten die Eiszeiten in den letzten Jahrhunderttausenden immer wieder einmal die Natur völlig um und drängten die Wälder bis auf kleine Reste zurück. Erst seit wenigen tausend Jahren wachsen hier zu Lande wieder Laub- und Nadelbäume. Eine derart hohe Artenvielfalt wie in den tropischen Regenwäldern konnte sich unter anderem in dieser für Ökosysteme relativ kurzen Zeit bei uns daher nicht bilden. Das lässt für die Zukunft einen Schluss zu: "Auch der Weg zurück zur Wildnis dürfte nur einige Jahrtausende dauern", meint Christof Schenck. Dieser Weg lohnt sich in Mitteleuropa daher besonders, selbst wenn es nicht in einer Menschengeneration funktioniert.
Der Fortschritt ist deshalb aus unserer Sicht eine Schnecke: Gerade einmal ein oder zwei Zentimeter ist der Mini-Urwald aus Moosen und Flechten auf einigen der offenen Sandflächen der Lieberoser Heide im Lauf von gut 20 Jahren ungestörter Entwicklung in die Höhe gewachsen – angesichts der Ausgangssituation ist das beachtlich: Weil der Wald auf den kargen Sandböden Brandenburgs viel zu stark genutzt wurde, schoben sich schon im 18. Jahrhundert Heidelandschaften zwischen die Forstflächen, die rund 20 Kilometer nördlich von Cottbus liegen. Als im Mai 1942 weite Teile des restlichen Waldes einem verheerenden Feuer zum Opfer fielen, wollte die Waffen-SS dort einen Großübungsplatz "Kurmark" einrichten. Die Arbeiten dazu begannen zwar, in Betrieb nahm den Übungsplatz nach Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings die Rote Armee. 1954 wurde das Gelände weiter ausgebaut, sämtliche Siedlungen und die Trasse einer Kleinbahn verschwanden. Bis 1992 übten und schossen dort Artillerie-, Panzer- und Raketen-Einheiten des Warschauer Pakts. "Manchmal waren hier 50 000 Soldaten gleichzeitig im Manöver", erinnert sich Hans-Joachim Mader.
Eine Wüste in Mitteleuropa
Das aber hinterließ nicht nur Spuren in Form von Munition und Munitionsresten im Boden. Vielerorts rissen Panzerketten immer wieder den Untergrund auf, bei Übungen flammten Brände auf und versengten die Vegetation. Keimende Bäume hatten unter diesen Bedingungen praktisch keine Chance. Im Zentrum des Übungsgeländes entstand so mit der Zeit eine Wüste, die heute so groß wie 700 Fußballplätze ist. An ihrem Rand weht der Wind Sanddünen auf, die ein wenig an die Sahara erinnern. Und Sandstürme bedecken die nahe Bundesstraße manchmal mit einer dicken Sandschicht. Im Sommer brennt die Sonne auf den kahlen Boden und heizt ihn an manchen Stellen auf 60 Grad Celsius auf. Im Winter kühlt der Boden in klaren Nächten auf Minustemperaturen ab, die eher an Zentralsibirien als an Mitteleuropa erinnern.
Solche Extreme vertragen hier zu Lande nur wenige Pflanzen. Noch 23 Jahre nachdem die letzten Panzerketten diese Lieberoser Wüste umgepflügt haben, wachsen nur schüttere Grasbüschel auf der Sandebene. Noch immer steckt kaum Humus im Boden. Von der dürftigen Vegetation kaum gebremst, peitschen immer wieder Sturmböen über die Fläche, die für Brandenburger Verhältnisse absoluten Seltenheitswert haben. Dazu kommen dürftige Niederschläge, die sich in einem Jahr auf gerade einmal rund 500 Liter pro Quadratmeter addieren: Auch wenn in den Lehrbüchern steht, dass ohne Zutun des Menschen in Deutschland fast überall Wald stehen würde, in der Lieberoser Wüste wollen einfach keine Bäume mehr wachsen. Allenfalls an den Rändern keimen vereinzelt Kiefern – Pioniere aus den Wäldern, die die Sandwüste auf allen Seiten umgeben.
Wer aber wie Hans-Joachim Mader genauer hinschaut, kann die ersten Vorreiter bereits entdecken. Zuerst kommen meist Flechten. In diesen Lebensgemeinschaften produzieren Pilze die Nährstoffe, Grünalgen oder Zyanobakterien liefern aus Sonnenlicht die Energie zum Leben und Wachsen. Bald siedelt auf dem Sand auch das Glashaar-Haarmützenmoos, das tiefrote Fortpflanzungsorgane entwickelt, die gemeinhin "Moosblüten" genannt werden. Bereits eine Größenordnung darüber rangiert das Silbergras (Corynephorus canescens), das 20 Zentimeter hoch wird und seine Wurzeln ähnlich tief in den Boden schiebt. So kann das Gewächs die im Sandboden der Wüste rasch versickernden Niederschläge gut aufnehmen und ist daher eine weitere Pionierpflanze im Verlauf der Sukzession.
Andernorts extrem seltene Arten wie die gerade einmal einen halben Zentimeter große Dünen-Springspinne (Yllenus arenarius) und der allenfalls eineinhalb Zentimeter lange Dünen-Sandlaufkäfer (Cicindela hybrida) fühlen sich in dieser kargen Landschaft wohl. Andere Liebhaber der Lieberoser Wüste sind dagegen deutlich größer: "Im Frühjahr kreisen über den Sandflächen manchmal bis zu 20 Seeadler", erklärt Revierförster Peter Wöhl, der im Auftrag der Landesforstverwaltung die angrenzenden Wälder betreut. Die Sonne heizt dann die Luft über den hellen Sandflächen besonders stark auf, und die Greifvögel lassen sich von den so entstehenden Aufwinden Energie sparend in die Höhe tragen. Hoch oben gleiten sie über den ausgemusterten Truppenübungsplatz und spähen nach Beute.
Keime für die Wildnis
Gar nicht weit von der Lieberoser Wüste schweben die Seeadler über eine typische Heidelandschaft, die ebenfalls durch die Militärmanöver entstand. Die Truppen konzentrierten sich vor allem im Gebiet der heutigen Wüste, in anderen Gebieten wühlten die Panzerketten den Sandboden viel seltener auf, während etliche Regionen von der Roten Armee sogar völlig verschont wurden. Anders als im Westen Deutschlands legten die Sowjetsoldaten auch kaum Straßen und Wege auf dem Truppenübungsplatz an, sondern fuhren dort, wo sie sich gerade am besten einen Weg bahnen konnten. In den Gebieten mit nicht allzu starkem Betrieb bildete sich durch diese mittlere Belastung mit der Zeit eine Mischung aus lichten Wäldern und einer Heide, in der im August die Erika einen violetten Blütenteppich ausbreitet. Ein paar Kilometer weiter rasselte praktisch nie ein Panzer durch den Wald. Dort wachsen noch heute die Kiefernmonokulturen, die einst die Förster dort angelegt haben.
Ein Teil der 31,5 Quadratkilometer großen Fläche, die von der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Lieberose weit gehend sich selbst überlassen wird, besteht aus solchen Wäldern. Und auch dort entsteht mit der Zeit Wildnis: Bleibt im Sommer der Regen längere Zeit aus, kommen in der ausgetrockneten Vegetation ähnlich wie 1942 manchmal Brände auf, denen viele Bäume zum Opfer fallen. "Anders als nach einem Sturm, der den Wald in eine bestimmte Richtung abknickt, fallen die verkohlten Kiefern ganz ohne Wind um und liegen dann kreuz und quer in der Lieberoser Heide", erklärt Christof Schenck.
Auf dieses Chaos scheint die Sonne, die sonst durch die Baumwipfel kaum bis zum Waldboden durchdringt. Rasch keimen Samen von Kräutern und Bäumen. Wildbiologen haben lange befürchtet, dass diese Kinderstube des Waldes rasch im Magen von äsendem Schalenwild landet, das in großer Zahl in den Wirtschaftswäldern lebt. Offensichtlich aber schafft das Rotwild es zum Beispiel kaum, durch das Dickicht der kreuz und quer gefallenen Stämme nach einem Waldbrand zu klettern. Im Schutz der gefallenen Bäume keimen daher junge Bäume ungestört – darunter neben den Kiefern auch Buchen und Eichen: Die einstige Monokultur wird so langsam zum artenreichen Mischwald.
Ein ähnlicher "Umbau" lässt sich zudem in eingezäunten Flächen beobachten; die Gatter sollen hungrige Rehe und Hirsche fernhalten, auch wenn die Barrieren dem Bild einer sich selbst überlassenen Natur widersprechen. Sie beschleunigen jedoch die Sukzession. Denn einige Gebiete waren von den militärischen Übungen kaum berührt. In der Gegend um das Moor "Butzener Bagen" konnten die Kiefern ungestört wachsen. Dennoch erinnert der Bereich an einen Forst, in dem außer Kiefern und Erlen in den feuchten Gebieten kaum andere Baumarten Fuß gefasst haben. Deshalb entschlossen sich die Naturschützer zu wenigen Maßnahmen, die wie eine Initialzündung zur Verwilderung wirken sollen. So schlugen die Naturschützer in dichten Kiefernbeständen kleine Lichtungen und zäunten sie mit einfachen Holzgattern ein. Insgesamt 42 solcher Gatter haben die verantwortliche Ökologin Jenny Eisenschmidt und ihre Kollegen inzwischen aufgebaut. Das Holz wird sich im Lauf der Jahrzehnte zersetzen, dauerhafte Spuren sollte dieser Eingriff kaum zurücklassen. "Die Gatter zäunen also Keimzellen für den Rest des Geländes ein, auf dem wieder ein Urwald wachsen soll", erklärt Eisenschmidt.
Mischwald hinterm Zaun
Regelmäßig erfassen die Naturschützer innerhalb der Gatter mit naturwissenschaftlicher Akribie, welche Bäume dort keimen und wachsen. Erwartungsgemäß stellen junge Kiefern ein wenig mehr als die Hälfte aller Bäumchen. Dieser Anteil ist zwar sehr hoch – aber weit entfernt von einer Monokultur. Die kommende Artenvielfalt lässt sich im Herbst 2015 bereits erahnen: Nach der Fichte ist der Faulbaum mit einem Anteil von 14 Prozent die zweite wichtige Baumart. Dichtauf folgen mit rund zehn Prozent die Stieleiche und mit drei Prozent die Eberesche sowie Spätblühende Traubenkirschen, Roteichen, Buchen und Moorbirken, Robinien und Wildapfel.
Während in bewirtschafteten Wäldern Bäume mit einem bestimmten Alter geschlagen und verkauft werden, stehen viele Kiefern in Lieberose, bis sie eines natürlichen Todes sterben. In diese alten Bäume hämmert der Schwarzspecht seine Höhlen. Einige Kiefern in der Nähe des Moors "Butzener Bagen" sehen daher regelrecht durchlöchert aus und bieten Arten wie Hohltaube, Gänsesäger, Schellente und Raufußkauz, aber auch sehr selten gewordenen Fledermausarten, Mardern und Eichhörnchen Nist- und Schlafmöglichkeiten. Wasserfledermaus und Großer Abendsegler, Mops- und Bechsteinfledermaus danken es ebenso mit wachsenden Beständen wie Totholzspezialisten, die im reichlich anfallenden modernden Holz neue Lebensräume finden – für die Naturschützer um Hans-Joachim Mader ein gutes Zeichen, dass hier wirklich wieder eine Wildnis heranwächst.
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