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Psychische Gesundheit: Seelische Not wie nie zuvor

Die Zahl der Krankheitstage auf Grund psychischer Erkrankungen steigt immer weiter an, wie Daten von Krankenkassen zeigen. Was belastet die Deutschen so sehr? Eine knifflige Ursachenanalyse.
Menschen überqueren schnellen Schrittes einen Fußgängerüberweg auf dem Weg zur Arbeit
Arbeitsverdichtung und Zeitdruck machen vielen Berufstätigen in Deutschland zu schaffen. Rund jeder Vierte ist schon einmal wegen zu viel Stress im Job ausgefallen.

Es ist eine der großen ungeklärten Fragen zur Corona-Pandemie: Wie stark hat uns diese Zeit psychisch belastet? Und was davon wirkt sich bis heute aus? Die massiven Einschränkungen und Einschnitte, die durchgemachten Infektionen und Entbehrungen – all das waren außergewöhnliche Herausforderungen. Und Daten der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) bestätigen, was viele Deutsche zu spüren meinen: Die seelische Belastung im Land hat erheblich zugenommen.

Laut einer aktuellen Analyse der KKH bewegen sich die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen 2024 erneut auf Höchstniveau. Zu Beginn der jährlichen Erhebung, 2017, kamen auf 100 ganzjährig versicherte KKH-Mitglieder 298 Fehltage. Inzwischen sind es 388 Tage. In Hochphasen der Pandemie, von 2020 bis 2021, stiegen die Fehlzeiten jedoch weniger stark an als in den beiden Folgejahren. Wie ist das zu erklären?

An der Methodik der Umfrage habe sich nichts geändert, versichert Maren Teichmann von der KKH. Sie vermutet in erster Linie steigende private wie berufliche Anforderungen hinter dem Phänomen – auch getrieben durch die Digitalisierung. »Sei es im Berufsleben, das durch höheren Zeitdruck, neue Arbeitsmethoden und komplexe Aufgabenstellungen geprägt ist, oder im privaten Umfeld durch Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen«, so Teichmann: »Diese übergreifenden Einflüsse haben wir auch in unserer Umfrage gesehen.«

Zusätzlich zur Analyse der Krankmeldungen beauftragte die KKH beim Meinungsforschungsinstitut forsa eine repräsentative Umfrage zum Stresslevel bei Berufstätigen. Das Ergebnis der Befragung unter gut 1000 Deutschen im Juli 2024: 43 Prozent fühlen sich häufig oder sehr häufig gestresst – und noch einmal so viele gelegentlich. Dabei zeigen sich deutliche Geschlechtsunterschiede: Jede fünfte Frau fühlt sich sehr häufig im Job gestresst, aber nur rund jeder zehnte Mann. Etwa jeder oder jede vierte Berufstätige ist schon einmal wegen zu großen Drucks bei der Arbeit ausgefallen.

Als größte Stressfaktoren nennen die Befragten hohe Ansprüche an sich selbst und Zeitdruck durch die Menge an Aufgaben und Terminen. Auch die Erwartungshaltung anderer, zahlreiche Überstunden, hohe Anforderungen und die Schwierigkeit, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, belasten demnach viele.

Allerdings könnte es neben Dauerstress noch eine andere Erklärung für die starken Anstiege in den Krankenkassendaten geben, zumindest für das Jahr 2023. Und die wäre eher profan: »Ein Grund für den Anstieg ist, dass die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Anfang 2023 verbindlich eingeführt wurde«, sagt Vincent Jörres vom Hausärztinnen- und Hausärzteverband. Seither erhalten Krankenkassen stets einen automatischen Hinweis, sobald einer ihrer Versicherten krankgeschrieben wird. »Auch in der Vergangenheit waren Versicherte angehalten, ihre Kasse zu informieren. Doch gerade bei Krankschreibungen mit kurzer Laufzeit ist das nicht immer passiert. Ein Teil des Anstiegs ist also mit dieser bürokratischen Anpassung zu erklären.«

Hohe Anforderungen und Personalmangel

Dazu passt, dass der starke Anstieg nicht nur psychische Erkrankungen betrifft. Der Krankenkasse DAK-Gesundheit zufolge bleibt der Krankenstand nach Rekordwerten im Jahr 2023 auch 2024 auf einem hohen Niveau. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten waren demnach bereits im ersten Halbjahr 2024 mindestens einmal krankgeschrieben – ein Wert, der sonst erst zum Jahresende erreicht wird. Vorwiegend waren Menschen in Berufen betroffen, in denen ohnehin chronischer Personalmangel herrscht, etwa in der Altenpflege oder in der Kita-Betreuung.

»Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt stetig. Das ist eine Entwicklung, die wir mit großer Sorge beobachten«Vincent Jörres, Hausärztinnen- und Hausärzteverband

Laut Vincent Jörres ist der Anstieg der Fehltage jedoch nicht allein auf die automatisierte Meldung an die Versicherungen zurückzuführen: »Die Zahl der Atemwegserkrankungen war im Winter besonders hoch. Ein Grund dafür war nach wie vor ein gewisser Nachholeffekt nach dem Ende der pandemiebedingten Hygiene- und Schutzmaßnahmen. Hinzu kommt, dass wir viele Patientinnen und Patienten inzwischen deutlich vorsichtiger erleben, wenn es darum geht, andere vor einer Ansteckung zu schützen. Statt sich krank ins Büro zu schleppen, suchen sie eher ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt auf.«

»Was wir außerdem sehen, ist, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen stetig steigt. Das ist eine Entwicklung, die wir mit großer Sorge beobachten«, erklärt Jörres. »Als einen der Hauptgründe geben viele unserer Patientinnen und Patienten Belastungen im Job an.«

Auch laut DAK haben Arbeitsausfälle auf Grund psychischer Erkrankungen aktuell am stärksten zugenommen, im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 um 14 Prozent. Hinzu kommt: Krankschreibungen auf Grund seelischer Leiden sind ausgesprochen langwierig und dauern im Schnitt 34 Tage, Atemwegserkrankungen im Durchschnitt hingegen nur rund sechs Tage. Grippe und Co sind zwar nach wie vor die häufigste Ursache für Krankmeldungen, doch psychische Störungen liegen hinter Muskel- und Skeletterkrankungen inzwischen auf Platz drei.

22 Prozent zeigen depressive Symptome

Die Daten der Krankenkassen passen damit auch zu aktuellen Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI), die es im August 2024 im NCD-Surveillance-Bericht veröffentlicht hat. Das RKI erhebt regelmäßig die mentale Gesundheit der Bevölkerung und stellt sie im »Mental Health Surveillance«-Dashboard grafisch dar. Dafür werden monatlich zwischen 1000 und 3000 Menschen befragt. Der neuesten Auswertung zufolge ist es um die psychische Gesundheit hier zu Lande nicht gut bestellt. »Ab Spätsommer 2022 überschritten etwa 20 Prozent, Ende 2023/Anfang 2024 etwa 22 Prozent der Bevölkerung den Schwellenwert einer auffälligen Belastung durch depressive Symptome, womit sich dieser Anteil gegenüber 2019 verdoppelt hat«, heißt es in dem Bericht. Nicht zuletzt Angstsymptome nahmen in den letzten Jahren stark zu. Derzeit weisen fast 15 Prozent der Bevölkerung auffällige Angstwerte auf – im Jahr 2021 waren es noch etwa acht.

Angstkurve in Deutschland | Die Zahl der Menschen mit Angstsymptomen hat sich Daten des NCD-Surveillance-Berichts des Robert Koch-Instituts zufolge in den letzten Jahren fast verdoppelt. Derzeit weisen nahezu 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Angstwerte im auffälligen Bereich auf. 2021 galt das noch für acht Prozent.

Auch die Psychotherapeuten und -therapeutinnen im Land kennen den Trend. Die Bundespsychotherapeutenkammer erklärt: »Wiederholte Umfragen belegen eine erhöhte Nachfrage nach Psychotherapie im Vergleich zu vor der Corona-Pandemie. Im Jahr 2021 und 2022 ist die Anzahl der Patientenanfragen bei psychotherapeutischen Praxen um etwa 40 Prozent höher gewesen als vor Corona.«

»Psychische Erkrankungen entwickeln sich oft nicht von heute auf morgen. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie könnten sich daher erst jetzt verstärkt zeigen«Eva-Lotta Brakemeier, Psychologin

»Diese Zahlen sind ein Alarmsignal«, urteilt Steffi Riedel-Heller, Professorin für Public Health und Sozialmedizin am Universitätsklinikum Leipzig und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Einfache Erklärungen griffen aber zu kurz, sagt sie. Belastungen durch die Corona-Pandemie seien wahrscheinlich ein Faktor, ebenso allerdings die Arbeitsverdichtung und der wachsende allgemeine Leistungsdruck, Einsamkeit und die globalen Krisen. Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald und Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, sieht das ähnlich. Sie denkt jedoch, dass auch eine positive Entwicklung zum Anstieg des Krankenstands beigetragen hat: die Entstigmatisierung psychischer Probleme. Diese führe dazu, dass immer mehr Betroffene über ihre Probleme sprächen und Hilfe suchten. Womöglich achteten Menschen heute stärker auf sich und seien schneller bereit, sich krankzumelden, wenn es ihnen psychisch nicht gut gehe, so Brakemeier. Tatsächlich war das bereits in der Vergangenheit der wahrscheinlichste Grund für eine scheinbare Zunahme psychischer Erkrankungen.

Warum der Anstieg erst verzögert zu Tage tritt, während der Krankenstand in der Corona-Pandemie nur moderat gewachsen ist, erklärt die Psychologin so: »Psychische Erkrankungen entwickeln sich oft nicht von heute auf morgen. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie könnten sich daher erst jetzt verstärkt in Form psychischer Belastungen und Erkrankungen zeigen.« Außerdem sei die Corona-Pandemie nicht die einzige Krise gewesen. Hinzu gekommen seien etwa die Zuspitzung der Klimakrise, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Krieg im Nahen Osten. Das Rekordhoch des Krankenstands wegen psychischer Erkrankungen könnte also das Ergebnis einer Kombination aus zeitlicher Verzögerung der Pandemie-Effekte, allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen sowie sich häufenden Großkrisen sein.

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  • Quellen

Robert Koch-Institut: Ergebnisse zur Entwicklung verschiedener Gesundheitsindikatoren in der erwachsenen Bevölkerung bei hochfrequenter Beobachtung, Stand Februar 2024. DOI: 10.25646/12492

Von der KKH und der DAK zur Verfügung gestellte Daten, unter anderem aus den aktuellen Pressemeldungen: https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/mentalload

https://www.dak.de/presse/bundesthemen/gesundheitsreport/dak-analyse-krankenstand-bleibt-auch-2024-auf-hohem-niveau-_67002 »Mental Health Surveillance«-Dashboard des RKI: https://public.data.rki.de/t/public/views/hf-MHS_Dashboard/Dashboard?%3Aembed=y&%3AisGuestRedirectFromVizportal=y

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