Netzwerke: Warum viel mehr wird
Warum macht der durchschnittliche Typ von nebenan mit den vielen Freunden ständig neue Bekanntschaften und Sie nicht? Warum verlinkt im Internet jeder dieselben Seiten? Warum ist die Erdbebenskala logarithmisch? Das alles hängt zusammen - über die grundlegenden Ursachen streiten Forscher jedoch trefflich. Vielleicht ist jetzt ein Kompromiss in Sicht.
Beispiele deutlicher Ungleichverteilung sind hinreichend bekannt. Eines der schlagendsten ist die Kluft zwischen Arm und Reich: So entfallen in den USA etwa vierzig Prozent des gesamten Vermögens auf knapp ein Prozent der Bevölkerung, während umgekehrt die ärmsten vierzig Prozent nur etwa ein Hundertstel besitzen.
Aber nicht nur Reichtum ist ungleich verteilt: Die meisten Pflanzenarten entfallen auf wenige Gattungen. Einige wenige Dreckschleudern sind für den weit überwiegenden Anteil von Automobilabgasen verantwortlich. Den größte Teil von Anzeigen wegen polizeilicher Gewalt sammelt eine kleine Zahl schwarzer Schafe in Uniform. Die Einwohnerzahl weniger Metropolen kann durch die Bevölkerung sämtlicher Kleinstädte und Dörfer kaum aufgewogen werden. Bei Drosophila gehen einige zentrale Proteine ungleich mehr Wechselwirkungen ein als alle anderen zusammen. Und die Krankenhausrechnungen einiger Patienten erreichen solch astronomische Summen, dass im Vergleich die übrigen Kranken sehr billig davon kommen. In jedem dieser Fälle sammelt sich der größte Teil eines Gutes oder einer Menge bei wenigen der möglichen Kandidaten.
Solche Verteilungen können mathematisch oft treffend durch Potenzgesetze beschrieben werden. Manchmal – wie bei der Bewertung der Erdbebenstärke – bürgern sich sogar Skalierungen ein, die solch extrem auseinander driftenden Größen wieder überschaubar machen.
Potenzgesetze in Netzwerken
Ein Bereich, in dem Forscher immer wieder auf Potenzgesetze stoßen, sind Netzwerke. Insbesondere Netzwerke, in denen die Verbindungen zwischen den verschiedenen "Knoten" nicht ganz zufällig entstehen. Im sozialen Netz des täglichen Lebens mit Menschen als Knoten und ihren Bekanntschaften als Verknüpfungen entstehen neue Verbindungen vor allem in der näheren Netzwerkumgebung: Die wenigsten Menschen sprechen einfach Wildfremde an, daher werden neue Kontakte meist zu Bekannten eines Freundes oder einer Freundin geknüpft. Aber was, wenn jemand keine Freunde hat? Dann wird ihn mir wohl auch niemand vorstellen können. Ganz anders beim Partylöwen, der mit jedem auf Du und Du ist – früher oder später macht uns wahrscheinlich jemand bekannt.
Analog im Internet und bei wissenschaftlichen Verweisen: Ist eine Seite stark verlinkt oder eine Veröffentlichung oft zitiert, rückt sie in den Listen der Suchmaschinen weit nach oben. Die Chance, dass jemand stattdessen eine Referenz heraussucht, die die Suchmaschine seines Vertrauens auf Platz 10234 präsentiert, ist eher gering. Dieser Mechanismus der Bevorzugten Bindung (Preferential Attachment), führt zwangsläufig zu Verteilungen, die Potenzgesetzen gehorchen. Aber das ist nicht der einzig mögliche Mechanismus.
Welcher Mechanismus ist grundlegend?
Bereits um 1960 stritt Herbert Simon, Verfechter dieses Nur-wer-hat-gewinnt-dazu und Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, mit Benoit Mandelbrot, dem Vater der Fraktale, heftig darüber, ob für Potenzverteilungen generell die Bevorzugten Bindungen oder Optimierungsprozesse entscheiden.
Ausgehend von linguistischen Analysen hatte Mandelbrot gezeigt, dass bei einer Sprache, die den durchschnittlichen Informationsfluss pro Buchstabe oder Laut maximiert, die Häufigkeit der einzelnen Worte einem Potenzgesetz gehorcht. Darüber hinaus wies er nach, dass die englische Sprache sich weitgehend wie eine optimierte Sprache verhält: Worte von zentraler Bedeutung sind kurz und tauchen potenziell öfter auf.
Nun haben sich Raissa D'Souza von der Universität von Kalifornien in Davis und ihre Kollegen dieses nie wirklich aufgelösten Streites angenommen und festgestellt: Simon und Mandelbrot hatten beide ein wenig recht, denn Bevorzugte Bindungen und Optimierung können durchaus eins und dasselbe sein. Um das zu zeigen, hatten sie ihr Computermodell nicht wie üblich mit der Voraussetzung gefüttert, dass Bindungen zu beliebten Knoten bevorzugt werden, sondern stellten für jeden neuen Knoten eine Nutzen-Kosten-Rechnung auf. Das Modell simulierte dabei das Entstehen eines Computernetzwerks ähnlich dem Internet.
Je nachdem, in welches Verhältnis D'Souza und ihre Mitarbeiter Nutzen und Kosten zu einander stellten, ordneten sich die Knoten zu leicht unterschiedlichen Netzwerken. Die Verteilung von Bindungen pro Knoten gehorchte allerdings wie erwartet einem Potenzgesetz. Für sehr hohe Verbindungszahlen zu den Backbone-Servern stellte sich allerdings Sättigung ein: Für neu hinzukommende Knoten machte es immer seltener Sinn, die hohen Mietkosten für die direkte Anbindung zu bezahlen, da meist schon gut angebundene Provider ganz in der Nähe zu finden waren.
Automatische Sättigung im neuen Modell
Diese Sättigungserscheinung entspricht den Erfahrungen mit natürlichen Gegebenheiten, denn Ressourcenknappheit sorgt dafür, dass Größen nicht ins Unendliche wachsen: Kein Protein kann mit unendlich vielen anderen wechselwirken, wenn nur endlich viele da sind, niemand kann grenzenlos viele Bekanntschaften knüpfen, solange der Tag nur 24 Stunden hat und kein Erdbeben kann mehr Energie freisetzen als zur Verfügung steht. Bisher hatten solche Beschränkungen jedoch in Modelle der Bevorzugten Bindung immer künstlich eingebaut werden müssen.
Zu den vielfältigen Anwendungen der Netzwerkforschung gehört die Abschätzung, wie sich Geschlechtskrankheiten durch das Netz sexueller Kontakte fortpflanzen. Aber mit "Six degrees of Kevin Bacon" hat sie sich über das "Kleine-Welt-Phänomen" auch schon als Spiel niedergeschlagen, bei dem man über gemeinsame Filmauftritte die kürzeste Verbindung zwischen einem Schauspieler und Kevin Bacon finden muss.
Sie und ich können aus den Bevorzugten Bindungen vor allem den Schluss ziehen, dass wir unsere Schüchternheit überwinden müssen: Ziehen wir in eine neue Stadt, müssen wir wohl oder übel wildfremde Menschen ansprechen, denn sonst bleibt nur der Neid auf den beliebten Nachbarn. Haben wir dann erst einmal den einen oder die andere kennengelernt, erledigt sich der Rest von ganz allein.
Aber nicht nur Reichtum ist ungleich verteilt: Die meisten Pflanzenarten entfallen auf wenige Gattungen. Einige wenige Dreckschleudern sind für den weit überwiegenden Anteil von Automobilabgasen verantwortlich. Den größte Teil von Anzeigen wegen polizeilicher Gewalt sammelt eine kleine Zahl schwarzer Schafe in Uniform. Die Einwohnerzahl weniger Metropolen kann durch die Bevölkerung sämtlicher Kleinstädte und Dörfer kaum aufgewogen werden. Bei Drosophila gehen einige zentrale Proteine ungleich mehr Wechselwirkungen ein als alle anderen zusammen. Und die Krankenhausrechnungen einiger Patienten erreichen solch astronomische Summen, dass im Vergleich die übrigen Kranken sehr billig davon kommen. In jedem dieser Fälle sammelt sich der größte Teil eines Gutes oder einer Menge bei wenigen der möglichen Kandidaten.
Solche Verteilungen können mathematisch oft treffend durch Potenzgesetze beschrieben werden. Manchmal – wie bei der Bewertung der Erdbebenstärke – bürgern sich sogar Skalierungen ein, die solch extrem auseinander driftenden Größen wieder überschaubar machen.
Potenzgesetze in Netzwerken
Ein Bereich, in dem Forscher immer wieder auf Potenzgesetze stoßen, sind Netzwerke. Insbesondere Netzwerke, in denen die Verbindungen zwischen den verschiedenen "Knoten" nicht ganz zufällig entstehen. Im sozialen Netz des täglichen Lebens mit Menschen als Knoten und ihren Bekanntschaften als Verknüpfungen entstehen neue Verbindungen vor allem in der näheren Netzwerkumgebung: Die wenigsten Menschen sprechen einfach Wildfremde an, daher werden neue Kontakte meist zu Bekannten eines Freundes oder einer Freundin geknüpft. Aber was, wenn jemand keine Freunde hat? Dann wird ihn mir wohl auch niemand vorstellen können. Ganz anders beim Partylöwen, der mit jedem auf Du und Du ist – früher oder später macht uns wahrscheinlich jemand bekannt.
Analog im Internet und bei wissenschaftlichen Verweisen: Ist eine Seite stark verlinkt oder eine Veröffentlichung oft zitiert, rückt sie in den Listen der Suchmaschinen weit nach oben. Die Chance, dass jemand stattdessen eine Referenz heraussucht, die die Suchmaschine seines Vertrauens auf Platz 10234 präsentiert, ist eher gering. Dieser Mechanismus der Bevorzugten Bindung (Preferential Attachment), führt zwangsläufig zu Verteilungen, die Potenzgesetzen gehorchen. Aber das ist nicht der einzig mögliche Mechanismus.
Welcher Mechanismus ist grundlegend?
Bereits um 1960 stritt Herbert Simon, Verfechter dieses Nur-wer-hat-gewinnt-dazu und Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, mit Benoit Mandelbrot, dem Vater der Fraktale, heftig darüber, ob für Potenzverteilungen generell die Bevorzugten Bindungen oder Optimierungsprozesse entscheiden.
Ausgehend von linguistischen Analysen hatte Mandelbrot gezeigt, dass bei einer Sprache, die den durchschnittlichen Informationsfluss pro Buchstabe oder Laut maximiert, die Häufigkeit der einzelnen Worte einem Potenzgesetz gehorcht. Darüber hinaus wies er nach, dass die englische Sprache sich weitgehend wie eine optimierte Sprache verhält: Worte von zentraler Bedeutung sind kurz und tauchen potenziell öfter auf.
Nun haben sich Raissa D'Souza von der Universität von Kalifornien in Davis und ihre Kollegen dieses nie wirklich aufgelösten Streites angenommen und festgestellt: Simon und Mandelbrot hatten beide ein wenig recht, denn Bevorzugte Bindungen und Optimierung können durchaus eins und dasselbe sein. Um das zu zeigen, hatten sie ihr Computermodell nicht wie üblich mit der Voraussetzung gefüttert, dass Bindungen zu beliebten Knoten bevorzugt werden, sondern stellten für jeden neuen Knoten eine Nutzen-Kosten-Rechnung auf. Das Modell simulierte dabei das Entstehen eines Computernetzwerks ähnlich dem Internet.
Keim des modellierten "Internets" war ein einzelner Knoten. Jeder hinzukommende Knoten, der ans Netz gehen wollte, musste nun erwägen, wo er sich anschließen wollte. Dabei waren Abstand vom Zentrum des Netzes und Anschlusskosten gegen einander abzuwiegen. Betrachtet man die Knoten als Internet-Provider beziehungsweise -Server, ließe sich der zu bewerkstelligende Kompromiss so beschreiben: Jeder Internetprovider will möglichst direkt mit dem Herzen des Internets verbunden sein, um seinen Kunden gute Verbindungsgeschwindigkeiten zu gewährleisten. Gleichzeitig kostet aber die Anmietung des Kabels zum nächsten Backbone-Server eine große Menge Kapital. Ist der Provider bereit, Abstriche bei der Performance zu machen, kann er sich stattdessen einfach bei einem kleineren und langsameren Server in der Nachbarschaft einklinken: Ein klassisches Optimierungsproblem. Gleichzeitig zeigen die Neuankömmlinge im Modell die Bevorzugte Bindung an die zentralen Knoten, was diese noch zentraler macht.
Je nachdem, in welches Verhältnis D'Souza und ihre Mitarbeiter Nutzen und Kosten zu einander stellten, ordneten sich die Knoten zu leicht unterschiedlichen Netzwerken. Die Verteilung von Bindungen pro Knoten gehorchte allerdings wie erwartet einem Potenzgesetz. Für sehr hohe Verbindungszahlen zu den Backbone-Servern stellte sich allerdings Sättigung ein: Für neu hinzukommende Knoten machte es immer seltener Sinn, die hohen Mietkosten für die direkte Anbindung zu bezahlen, da meist schon gut angebundene Provider ganz in der Nähe zu finden waren.
Automatische Sättigung im neuen Modell
Diese Sättigungserscheinung entspricht den Erfahrungen mit natürlichen Gegebenheiten, denn Ressourcenknappheit sorgt dafür, dass Größen nicht ins Unendliche wachsen: Kein Protein kann mit unendlich vielen anderen wechselwirken, wenn nur endlich viele da sind, niemand kann grenzenlos viele Bekanntschaften knüpfen, solange der Tag nur 24 Stunden hat und kein Erdbeben kann mehr Energie freisetzen als zur Verfügung steht. Bisher hatten solche Beschränkungen jedoch in Modelle der Bevorzugten Bindung immer künstlich eingebaut werden müssen.
Zu den vielfältigen Anwendungen der Netzwerkforschung gehört die Abschätzung, wie sich Geschlechtskrankheiten durch das Netz sexueller Kontakte fortpflanzen. Aber mit "Six degrees of Kevin Bacon" hat sie sich über das "Kleine-Welt-Phänomen" auch schon als Spiel niedergeschlagen, bei dem man über gemeinsame Filmauftritte die kürzeste Verbindung zwischen einem Schauspieler und Kevin Bacon finden muss.
Sie und ich können aus den Bevorzugten Bindungen vor allem den Schluss ziehen, dass wir unsere Schüchternheit überwinden müssen: Ziehen wir in eine neue Stadt, müssen wir wohl oder übel wildfremde Menschen ansprechen, denn sonst bleibt nur der Neid auf den beliebten Nachbarn. Haben wir dann erst einmal den einen oder die andere kennengelernt, erledigt sich der Rest von ganz allein.
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