Familie: Wie Einzelkinder (nicht) sind
In mehr als der Hälfte aller Familien in Deutschland lebt heutzutage nur ein Kind. Das kann verschiedenste Gründe haben. Paare, die mit ihrer Situation rundum zufrieden sind, fragen sich womöglich, warum sie ihr Glück mit weiteren Sprösslingen aufs Spiel setzen sollten. Manche Eltern dagegen fühlen sich schon vom ersten Kind überfordert. Vielleicht ist es herausfordernd im Temperament, vielleicht ist es chronisch krank oder sie kämpfen selbst mit größeren Problemen. Andere wollen zwar mehr Kinder, aber es klappt einfach nicht mit der Schwangerschaft. Möglicherweise lebt das Paar inzwischen getrennt. Oder es fürchtet finanziell nicht so aufgestellt zu sein, dass es mehreren Kindern einen guten Start ins Leben bieten könnte.
»Keine Geschwister? Ah, das erklärt natürlich, warum ...«
Was auch immer dahintersteckt – Eltern von Einzelkindern machen sich häufig Gedanken darüber, ob sich fehlende Geschwister nachteilig auswirken: keine Spielkameraden im Urlaub, keinen großen beschützenden Bruder, keine Schwester als Vertraute. Zudem bekommen sie immer wieder von außen gespiegelt, dass etwaige Defizite im Verhalten mit dem Einzelstatus zu tun hätten: »Keine Geschwister? Ah, das erklärt natürlich,« … »warum Emily so schüchtern ist«, »warum Jonas sein Spielzeug nicht hergibt«, »weshalb Laura keine Freundin findet«. Dass der kleine Felix im Kindergarten beständig Unfrieden stiftet, führt dagegen niemand auf seine ältere Schwester zurück.
Dennoch ist die Meinung verbreitet, irgendetwas müsse an den Klischees wohl dran sein. Eine Aufgabe für die Forschung also, für Klarheit zu sorgen. Und tatsächlich haben zahlreiche Studien untersucht, wie das Aufwachsen als Einzelkind mit Verhalten, Psyche und Persönlichkeit zusammenhängt. Die Ergebnisse dürften überraschen – und viele Ein-Kind-Eltern beruhigen.
Einzelkinder sind verwöhnt – zumindest teilweise
Es stimmt, dass man als einziges Kind in der Familie in der Regel mehr Mitspracherecht genießt, als wenn man mit Schwestern und Brüdern aufwächst. »Eltern hören mehr auf ein Kind, wenn es ihr einziges ist, als wenn sie mehrere haben«, erklärt Toni Falbo. Bevor der Eindruck entsteht, dass sie eines ihrer Kinder vorziehen, treffen sie Entscheidungen wohl lieber ohne den Nachwuchs. Falbo ist Professorin für pädagogische Psychologie an der University of Texas und forscht bereits seit 1970 zum Thema Einzelkinder. Letztere würden bei Entscheidungen daher schlicht mehr einbezogen. So erfahren sie schon früh, dass ihre Meinung zählt und sie ernst genommen werden. Das betrachtet die Psychologin aber eher als Vorteil für die kindliche Entwicklung.
»Eltern hören mehr auf ein Kind, wenn es ihr einziges ist, als wenn sie mehrere haben«Toni Falbo, Psychologin
Auch die Eltern-Kind-Bindung gestaltet sich besonders. Sie ist zwischen Einzelkindern und ihren Müttern und Vätern meist enger als zwischen Geschwisterkindern und ihren Eltern. Laut einer Befragung von 10 000 Siebtklässlern durch Forscher von der Universität Frankfurt sind die Erwachsenen für sie zudem vielfach Ansprechpartner, wenn es um wichtige, persönliche Dinge geht – jedenfalls fiel ihnen der Dialog leichter als Altersgenossen, die ältere Geschwister hatten. Was die Themen Aufmerksamkeit und Bindung betrifft, werden Einzelkinder von ihren Eltern also tatsächlich verwöhnt.
Materiell scheinen Einzelkinder ebenfalls das bessere Los gezogen zu haben. Zwei- und Drei-Kind-Familienhaushalte in Deutschland besitzen im Schnitt ein etwas höheres Nettohaushaltseinkommen als Ein-Kind-Haushalte, stehen aber, was den Pro-Kopf-Etat betrifft, um einiges schlechter da. Eltern von Einzelkindern investieren mehr Geld in ihren einzigen Sprössling – etwa im Jahr 2018 durchschnittlich 763 Euro monatlich, bei Haushalten mit zwei Kindern waren es nur noch 638 Euro pro Kindernase. Aus diesen Zahlen lässt sich allerdings noch nicht ableiten, dass Einzelkinder beispielsweise signifikant mehr Kleidung oder mehr Sachen zum Spielen besitzen. Sie leben zudem öfter als andere bei allein erziehenden Eltern, was ein höheres Armutsrisiko birgt. Insgesamt ist auch unter Einzelkindern laut Daten von 2022 ein beträchtlicher Anteil, nämlich knapp neun Prozent armutsgefährdet; in Zwei-Kind-Haushalten sind es elf Prozent. Fazit: »The one and only« bekommt von den Eltern zwar mehr Aufmerksamkeit und mehr Mitspracherecht. Materiell gesehen sind aber Geschwisterlose nicht unbedingt verwöhnter.
Einzelkinder sind nicht narzisstischer
Die These, dass Einzelkinder egoistischer sind, geht zurück bis ins 19. Jahrhundert. 1896 veröffentlichte der Pädagoge Eugene W. Bohannon aus Massachusetts eine Studie, bei der er für damalige Verhältnisse völlig neuartig vorging. Etwa 200 Personen gaben auf Fragebogen an, welche Eigenschaften sie bei den ihnen bekannten Kindern wahrnahmen. Damals waren Einzelkinder tatsächlich die große Ausnahme und galten als Sonderlinge. Die Teilnehmer nahmen an, dass sie »selbstsüchtig« oder im schlechtesten Fall »verdorben« seien. Diese Klischees wurden bis heute nicht ganz überwunden.
Wissenschaftliche Hinweise darauf, dass Einzelkinder egoistisch und unangepasst sind, finden sich laut Toni Falbo aber nur selten. Schon in den 1980er Jahren belegten Metaanalysen vielmehr, dass sie sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeitszüge nicht signifikant von anderen Kindern unterscheiden. Auch als Erwachsene zeigen Geschwisterlose nicht mehr oder weniger narzisstische Züge als andere, wie beispielsweise eine Studie der Universität Leipzig 2019 belegte. Doch warum hält sich die Mär vom selbstverliebten Einzelkind dann so hartnäckig, zumindest bei Menschen, die selbst mit Brüdern oder Schwestern aufgewachsen sind? Vielleicht speist sie sich unter anderem aus der Überzeugung, dass ein Kind ohne Geschwister letztlich »allein« sei und folglich nicht so viel Gelegenheit habe, soziale Kompetenzen zu entwickeln. Aber …
… Einzelkinder sind keine Einzelgänger
Zwar deutete eine Untersuchung von 2008 darauf hin, dass Einzelkinder im Kindergarten nicht ganz so leicht Freundschaften knüpfen wie Geschwisterkinder. Zudem zeigten sie sich etwas weniger geübt darin, andere zu trösten oder ihnen zu helfen. Besser darin waren aber nur Kinder mit maximal ein bis zwei Brüdern oder Schwestern, zu denen kein großer Altersunterschied bestand. Inzwischen kommen in Deutschland fast alle Kinder schon von klein an mit Gleichaltrigen zusammen, in Krabbelgruppen, bei der Tagesmutter oder in Kinderkrippen. Dort sammeln Einzel- wie Geschwisterkinder Erfahrungen, die für die Entwicklung sozialer Kompetenzen elementar sind: gemeinsam spielen, streiten, sich vertragen, andere trösten und getröstet werden. Insgesamt verhalten sich Geschwisterlose übrigens oft kontaktfreudiger als Kinder mit Geschwistern. Denn während Bruder oder Schwester oft einfach so verfügbar ist, müssen sich Einzelkinder um andere bemühen, wenn sie sich außerhalb des Kindergartens mit jemanden zum Spielen treffen wollen. Das Zugehen auf andere ist daher eine Fähigkeit, die sie sich sehr früh aneignen.
Spätestens im Schulalter scheint es hinsichtlich der sozialen Kompetenzen nahezu unerheblich zu sein, ob ein Kind mit oder ohne Geschwister aufwächst. 2019 bezog eine Studie aus den USA rund 13 000 Schülerinnen und Schüler ein. Douglas B. Downey und seine Kollegin Donna Bobbitt-Zeher baten die Jugendlichen, fünf Freunde aus einer Liste mit Schulkameradinnen und -kameraden auszuwählen. Einzelkinder wurden dabei ebenso oft als gute Freunde bezeichnet wie Kinder mit Geschwistern.
Betrachtet man ihre weiteren Lebensläufe, lassen sich auch hier zunächst keinerlei Hinweise darauf finden, dass Kinder ohne Geschwister zu Einzelgängern heranwachsen. Allerdings scheinen ihre Partnerschaften weniger beständig zu sein, denn sie lassen sich etwas häufiger scheiden als Personen mit Geschwistern. Dabei komme es nicht nur darauf an, ob ein Mensch überhaupt mit Brüdern oder Schwestern aufwächst. Sogar die Anzahl hat angeblich einen Einfluss. Mit jedem Geschwisterkind, so eine 2016 publizierte US-amerikanische Studie mit 57 000 Teilnehmenden, reduziere sich das Scheidungsrisiko um drei Prozent. Allerdings blieb in der Studie unklar, warum das so ist. Drei Prozent pro Bruder oder Schwester ist zudem nicht besonders viel, wie die Autoren selbst bemerken. Wesentlich mehr Einfluss hat etwa, ob man aus einer Scheidungsfamilie kommt (was wiederum seltener der Fall ist, wenn man viele Geschwister hat). Um den negativen Effekt der Scheidung der eigenen Eltern auszugleichen, bräuchte man acht Geschwister!
Ein klarer Unterschied zeigt sich dagegen in Bezug auf die spätere Familienplanung. Österreichische Wissenschaftler haben festgestellt, dass Einzelkinder häufiger kinderlos bleiben. Zudem wünschten sich in der Alpenrepublik immerhin 20 Prozent von ihnen selbst ebenfalls nur einen Nachkommen. Damit ist der Anteil, der sich für die Ein-Kind-Familie ausspricht, höher als unter Geschwisterkindern, von denen lediglich 14 Prozent nur ein Kind wollten.
Eine Studie von der University of Albany aus dem Jahr 2011 hat zudem untersucht, wie es sich mit der Geselligkeit im Erwachsenenalter insgesamt verhält. Dabei kristallisierte sich heraus, dass Einzelkinder zwar weniger Umgang mit Verwandten pflegen, von denen sie in der Regel aber auch weniger haben. Zu Menschen im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft hatten sie dagegen ebenso viele soziale Kontakte wie Erwachsene mit Geschwistern. Fazit: Zwar werden Menschen, die als Einzelkinder aufgewachsen sind, eher einzelgängerische Tendenzen zugeschrieben als Geschwisterkindern – wissenschaftlich belegen lässt sich dies jedoch nicht.
Sind Einzelkinder psychisch labiler?
Vielleicht weil Einzelkinder als einzelgängerisch wahrgenommen werden, gelten sie oft als seelisch verletzlicher. Eine weitere Studie von Downeys Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2023 deutet aber in die entgegengesetzte Richtung. Die Befragung von mehr als 9400 Achtklässlern aus China und 9100 Gleichaltrigen aus den USA bezüglich ihrer mentalen Gesundheit ergab, dass Jugendliche mit Geschwistern wahrscheinlicher von psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen betroffen waren als Einzelkinder. Dabei spielte sowohl die Anzahl der Brüder oder Schwestern als auch der Altersabstand eine wichtige Rolle. Je geringer der Altersunterschied, desto öfter litten Kinder in größeren Familien unter seelischen Schwierigkeiten.
Im Reich der Mitte waren Einzelkinder generell psychisch gesünder. Es ist jedoch fraglich, ob sich dieses Ergebnis auf andere Länder übertragen lässt. Schließlich waren in China bis 2016 gemäß der Ein-Kind-Politik Geschwisterkinder unerwünscht. In den USA wirkte sich ein einziges Geschwisterkind noch nicht negativ auf die psychische Verfassung aus. Waren es mehr, verdunkelte sich aber auch hier die Psyche eher als bei Einzelkindern. Als eine der Ursachen vermuten die Wissenschaftler, dass die mit der Erziehung mehrerer Kinder stärker geforderten Eltern dem einzelnen nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken können.
Allerdings ergaben 2016 in Schweden erhobene Daten in der Bevölkerung, dass Menschen, die in einer großen Familie aufgewachsen sind, in der Lebensmitte nicht mehr oder weniger Psychopharmaka und andere Medikamente einnahmen. In einer Studie aus dem Jahr 2022 zeigten Sieben- bis Zehnjährige mit älteren Geschwistern laut ihren Müttern sogar seltener Verhaltensauffälligkeiten. Allerdings blieb offen, woran das liegt. Möglich wäre zum Beispiel, dass die Eltern sie durch ihre Erfahrung im Umgang mit den Erstgeborenen besser unterstützen. Inwieweit das Aufwachsen ohne oder mit Geschwistern das Auftreten von Verhaltensschwierigkeiten und seelischen Problemen begünstigt oder verhindert, ist folglich noch nicht abschließend geklärt.
Einzelkinder sind in der Schule wirklich oft besser
Was schulische Leistungen betrifft, haben Einzelkinder dagegen laut unzähligen Studien die Nase vorn. »In China und den USA erreichen sie auf der Skala der schulischen Fähigkeiten höhere Werte«, bestätigt auch Falbo. Allerdings könne es bei Erstklässlern ein wenig dauern, bis sie sich an den sozialen Alltag der Schule gewöhnt haben. Hierbei würden die kindlichen Erfahrungen in der Vorschulzeit eine entscheidende Rolle spielen.
Dass Einzelkinder vielfach bessere schulische Leistungen erzielen, scheint unter anderem mit gesteigerten Ansprüchen seitens der Eltern zusammenzuhängen. »Sie werden stärker dazu gedrängt, gute Leistungen zu erbringen«, sagt die Professorin. Ein Aspekt, der insbesondere bei Familien mit ostasiatischem Hintergrund ins Auge fällt.
»In China und den USA erreichen Einzelkinder auf der Skala der schulischen Fähigkeiten höhere Werte«Toni Falbo, Psychologin
Einzelkindern scheinen zudem oft kreativer zu sein, wie bei einer 2017 publizierten Studie mit rund 300 jungen Erwachsenen in China herauskam. Ihren Einfallsreichtum stellten diese unter Beweis, als sie gebeten wurden, alternative Verwendungszwecke für Alltagsgegenstände zu finden. Möglicherweise entwickelt ein Kind, das sich viel allein beschäftigen muss, mehr Kreativität, spekulieren die Autoren. Die in der Studie erhobenen kernspintomografischen Daten lieferten zudem Hinweise darauf, dass sich der Einzelstatus auch auf die Hirnentwicklung ausgewirkt hatte. So war der Gyrus supramarginalis, wichtig etwa für räumliches Denken und Sprachkompetenz, bei den Einzelkindern sichtbar größer.
Übrigens zeigten sich die inzwischen rund 19 Jahre alten Einzelkinder in der Studie etwas weniger verträglich als Gleichaltrige, die mit Geschwistern aufgewachsen waren. Doch wieder ist fraglich, ob Ergebnisse aus China übertragbar sind. Noch heute werden acht von zehn chinesischen Kleinkindern bis zum dritten Lebensjahr hauptsächlich von den Großeltern betreut, während der Besuch einer Krippe eher die Ausnahme darstellt.
Und was denken Einzelkinder über sich selbst?
Da die Gründe dafür, warum ein Kind das einzige bleibt, vielfältig sind, unterscheiden sich ihre Kindheitserfahrungen gewaltig. Lisen Christina Roberts von der University of Tennessee interviewte 1997 im Rahmen ihrer Dissertation rund 20 junge Erwachsene und illustrierte damit einige Gedanken, die vielen Einzelkindern bekannt vorkommen dürften. Rückblickend waren die meisten zufrieden damit, als einziges Kind in der Familie aufgewachsen zu sein. Als positiv bewerten sie etwa, dass sie sich emotionale und finanzielle Ressourcen nicht teilen mussten, sich also nicht mit den üblichen Geschwisterrivalitäten rumschlagen mussten. Auch die Tatsache, Zeit allein verbringen zu dürfen, schätzten etliche, wenngleich sie es mitunter bedauerten, keine Geschwister als Spielkameraden oder weitere eng Vertraute gehabt zu haben. Viele erwähnten die enge Beziehung zu ihren Eltern. Manchmal fühlten sie sich von deren Erwartungen allerdings überfordert und hätten sich mehr Unabhängigkeit gewünscht. »Versucht bitte nicht, alles für das eine Kind zu tun«, rät eine der Befragten den Eltern von Einzelkindern: »Unterstützt es lieber darin, sich zu einer eigenen Person zu entwickeln, statt ihm einzutrichtern, was ihr denkt, wie es sein sollte.«
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