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»Werwolfsyndrom« bei Hunden: »Wir haben es hier mit einem gravierenden Problem zu tun«

In letzter Zeit nehmen Fälle von teils schweren neurologischen Störungen bei Hunden zu. Fachleute vermuten hinter der Erkrankung eine Vergiftung. Im Interview erklärt Veterinärneurologin Nina Meyerhoff, was wir bereits über das »Werwolfsyndrom« wissen und was aktuell noch unklar ist.
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Wenn der geliebte Vierbeiner ganz plötzlich grundlos in Panik gerät und völlig anders auf seine Umwelt reagiert als sonst, könnte der Besuch bei der tierärztlichen Praxis ratsam sein.

Eine mysteriöse Erkrankung erfasste in den vergangenen Monaten immer mehr Hunde in Deutschland und in weiteren europäischen Ländern: Bislang völlig unauffällige Tiere reagieren plötzlich panisch und zeigen schwere neurologische Symptome bis hin zu epileptischen Anfällen. In sozialen Medien kursieren bereits Bezeichnungen wie »Werwolfsyndrom«. Einiges deutet darauf hin, dass eine Vergiftung hinter dem Leiden steckt, als Auslöser stehen verunreinigte Kauknochen unter Verdacht. Wir sprachen mit Dr. Nina Meyerhoff über die Symptome des Phänomens, seine Behandlung und die Suche nach der Ursache. Die Veterinärneurologin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover bemüht sich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland, die Hintergründe der Störung zu ermitteln.

Spektrum.de: Frau Meyerhoff, wie groß ist das Problem?

Die Frage ist schwer zu beantworten, denn es gibt keine zentrale Meldestelle für Tierärzte, die Berichte zu Fällen sammelt. Anfangs waren viele Tierärzte erstaunt, dass schon wieder ein betroffener Hund in der Praxis auftaucht. Auch uns ist erst durch die Vernetzung mit anderen Tierneurologen klar geworden, dass es seit einigen Monaten eine Welle dieser ungeklärten neurologischen Störungen gibt. Wenn wir sehr strikt nur auf die von Tierneurologen bestätigten Fälle schauen, sind das in Deutschland mittlerweile seit Anfang September mindestens 50.

Das hört sich überschaubar an …

Das ist auch nur die Spitze des Eisbergs. Wir müssen von einer hohen Zahl nicht gemeldeter Erkrankungen ausgehen. Wir wissen von niedergelassenen Praxen, dass auch dort solche Fälle ungeklärter neurologischer Störungen vorkommen. Die wurden dann aber eben nicht von einem Tierneurologen untersucht. Klar ist: Wir haben es hier mit einem gravierenden Problem zu tun, nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Wir stehen mit Kollegen in Finnland, den Niederlanden, Dänemark und Belgien in Kontakt, die das gleiche Phänomen beobachten.

Wie äußert sich die Erkrankung?

Wir erleben sehr dramatische und sehr akute Verhaltensveränderungen, die von einer Minute zur nächsten auftreten können. Hunde, die vorher ganz normale Familienmitglieder waren, fangen plötzlich an, wie von der Tarantel gestochen herumzurennen. Zum Teil haben Tiere versucht, aus dem Fenster zu springen und zu flüchten. Sie jaulen und schreien erbärmlich – sie sind sehr reizempfindlich und extrem ängstlich. Einige entwickeln auch epileptische Anfälle. Wir können die Tiere ja nicht fragen, was sie fühlen, aber bei einem Menschen mit diesen Symptomen würden wir von Psychosen oder schweren Halluzinationen ausgehen.

Kommen diese Anfälle in Schüben, so dass die Tiere nach einer Attacke wieder zu normalem Verhalten zurückkehren?

Die meisten Tierhalter berichten, dass die betroffenen Hunde generell nervöser sind als sonst – sie reagieren stärker auf Geräusche, schrecken eher auf. Die extremen Ausbrüche kommen eher in Episoden und können einige Minuten, manchmal auch zehn Minuten und länger anhalten.

Wie sollte man sich verhalten, wenn das eigene Tier diese Symptome zeigt?

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Hund in diesem Moment leidet. Wenn er ein Kommando nicht befolgt, sich im Extremfall nicht einmal anfassen lässt, dann ist er nicht ungehorsam oder will etwas austesten: Er kann einfach nicht anders. Häufig ist Stress – positiv wie negativ – ein Auslöser. Etwa die Freude bei Fütterung oder Begrüßung oder die Begegnung mit anderen Hunden. Wenn so etwas mehr als einmal vorkommt, sollten Besitzer das auf jeden Fall tierärztlich abklären lassen, idealerweise von einem Tierneurologen oder einer Tierneurologin. Generell rate ich zu Aufmerksamkeit gegenüber dem Tier, sage aber auch, dass es keinen Grund zur Panik gibt.

Sind Hunde in diesem Zustand gefährlich?

Die meisten, mit denen wir zu tun haben, sind nicht aggressiv. Aber in ihrer Not und Panik sind sie oft kaum zu bändigen. Wenn wir ein 40 Kilogramm schweres Tier vor uns haben, kann es schwierig werden, es zu beruhigen. Besitzerinnen und Besitzer sollten sich darauf einstellen, dass ihr Hund in diesem Moment nicht so reagiert, wie es das normalerweise tut. Das kann heißen, dass man ihn besser von Kindern fernhält, und natürlich sollte man ihn draußen an der Leine führen, wenn er schon einmal auffällig wurde. Wenn Tiere auf nichts mehr achten und plötzlich auf die Straße rennen, kann es wirklich gefährlich werden – nicht nur für sie selbst.

Nina Meyerhoff | Nina Meyerhoff ist Tiermedizinerin mit Spezialisierung auf Veterinärneurologie. Sie hat zu Entzündungsprozessen im zentralen Nervensystem von Hunden promoviert. Sie arbeitet und forscht an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und befasst sich aktuell intensiv mit der Zunahme von neurologischen Symptomen bei Hunden.

Wie behandeln Sie die Hunde, die zu Ihnen gebracht werden?

Zunächst versuchen wir, mit beruhigenden und angstlösenden Medikamenten die Symptome zu lindern. Wenn die Tiere epileptische Anfälle haben, natürlich auch mit Epilepsiemedikamenten. Wichtig ist, auszuschließen, dass der Hund unter Schmerzen leidet. Auch das kann Wesensveränderungen auslösen. Und dann ist entscheidend, dass Tierhalter den Alltag an die Lage des Tiers anpassen. Erst mal sollte man für Ruhe sorgen und dem Hund einen sicheren Rückzugsort bieten. Eine reizarme, eher dunkle Umgebung, ein ruhiger und geduldiger Umgang mit viel Zeit für ihn hilft.

Wenn ein Tier bei Ihnen erst einmal akut versorgt ist, geht es um die längerfristige Diagnose. Wie versuchen Sie die Ursache für das Problem zu ermitteln?

Allem Anschein nach handelt es sich hier um Vergiftungserscheinungen. Aber neurologische Störungen können sehr viele Ursachen haben, und deshalb dürfen wir nicht alle Hunde mit Symptomen in einen Topf werfen. Es gibt solche, die chronische Ängste haben; auch bei Hunden kann Demenz auftreten; es kann neue Viren geben, die wir noch nicht kennen. All das kann zu Verhaltensänderungen führen. Deshalb versuchen wir unter anderem mit Blut- und Urintests mehr zu erfahren. Wir haben bei vielen Hunden auch MRTs gemacht, um beispielsweise eine Gehirnentzündung auszuschließen. Es ist wichtig, dass wir uns nicht nur auf eine Spur fixieren.

Manches deutet auf verunreinigte Kauknochen aus Rinderhaut hin. Ein finnisches Unternehmen hatte vorsorglich zeitweise Produkte zurückgerufen. Was können Sie bisher gesichert zu dieser These sagen?

Bislang gibt es nur eine zeitliche Häufung nach dem Füttern von Kauknochen, keine nachgewiesene Ursache-Wirkungs-Beziehung. Aber der zeitliche Zusammenhang ist sehr verdächtig. Dennoch macht es keinen Sinn, mit dem Finger auf einzelne Produkte oder Marken zu zeigen. Denn die heißen in dem einen Land anders als im anderen. Wir kennen das von Lebensmitteln oder Kosmetika. Es stehen verschiedene Marken drauf, und letztlich kommen sie alle aus derselben Fabrik. Und wir wissen, dass viele Tierfutter günstig im Ausland produziert werden, etwa in China. Wahrscheinlich sind es bestimmte Chargen, die verunreinigt sind. Und leider haben wir immer noch nicht den Beschwerden auslösenden Stoff gefunden. Das ist nicht einfach, aber sehr viele Labore arbeiten daran.

Empfehlen Sie Hundehalterinnen und -haltern, erst mal keine Kauknochen oder ähnliche Produkte zu kaufen?

Ich persönlich würde, solange wir nicht mehr Informationen haben, darauf verzichten, meinem Hund Rinderhautknochen zu geben. Wir wissen, dass die Kontrolle von Tierfutter nicht so engmaschig ist wie die von Lebensmitteln.

Können Sie den Stoff schon einkreisen, um den es sich möglicherweise handelt?

Nein, dazu können wir noch nichts sagen. Wir wissen, dass Schwermetalle wie Blei epileptische Anfälle und psychische Veränderungen auslösen können. Auch Mykotoxine, also von Schimmelpilzen gebildete Giftstoffe, kommen in Frage. Sie können in sehr kleiner Konzentration große Wirkung entfalten. Doch es gibt noch zahlreiche andere Verbindungen, die neurologische Ausfälle verursachen können. Das ist auch die Herausforderung. Wir müssen auf sehr viele und sehr unterschiedliche Substanzen testen, um dieses Rätsel zu lösen.

Können betroffene Hunde sich vollständig erholen?

Detailliert kann ich nur für meine Hochschule sprechen; wir erhalten sehr oft positive Rückmeldungen von Besitzerinnen und Besitzern, die uns berichten, dass sich die Lage nach einigen Wochen wieder normalisiert hat. Das ist eine wichtige Information, denn ich weiß auch von Fällen, in denen Hunde eingeschläfert wurden, weil eine Behandlung als aussichtslos angesehen wurde. Klar ist aber auch: Man muss beim Genesungsprozess eine ordentliche Portion Geduld mitbringen.

Die Fragen stellte Thomas Krumenacker.

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