Übergewicht: Weniger Hunger dank der Abnehmspritze

Kimberly Chauche aus Lincoln im US-Bundesstaat Nebraska war seit ihrer frühen Kindheit übergewichtig. Schon als sie fünf Jahre alt war, begannen Ärzte die Ursachen dafür zu suchen. Seither wird ihr Leben geprägt von Ernährungsberatern, Fitnesscoaches und Therapeuten, die ihr zwanghaftes Essverhalten sowie ihre gewichtsbedingten Ängste behandelten. Doch Antworten dazu, wo die Wurzeln ihrer Probleme lagen, erhielt sie nicht; und ihre Gewichtsverluste waren nie von Dauer.
Mit 43 Jahren bekam Chauche ein neues Medikament zur Gewichtsreduktion verschrieben: die seit 2021 in den Vereinigten Staaten zugelassene Abnehmspritze Wegovy. Das Präparat gehört zu einer neuartigen Klasse von Arzneimitteln. Es ahmt die Wirkung eines Hormons nach, das zentral am Insulinstoffwechsel beteiligt ist. Chauche spritzte sich ihre erste Dosis im März 2024. Innerhalb weniger Monate nahm sie fast zehn Kilo ab und fühlte sich großartig. Aber der Gewichtsverlust erschien ihr lediglich wie ein Bonus verglichen mit einem noch viel einschneidenderen Effekt, nämlich dem, wie sie fortan auf Essen reagierte.
Der Wandel wurde ihr schnell bewusst. Als beispielsweise einmal ihr Sohn Popcorn aß, ließ sie die Schüssel einfach links liegen, obwohl sie diesem Snack bis dahin nie hatte widerstehen können. »Es war, als wäre plötzlich ein Teil meines Gehirns, der zuvor immer da war, einfach verstummt«, erzählt sie. Ihr Essverhalten veränderte sich, und ihre Ängste ließen nach. »Es fühlte sich fast surreal an«, erinnert sie sich. »Ich musste mir nur eine Spritze ins Bein geben, um innerhalb von 48 Stunden das zu erreichen, was jahrzehntelange Interventionen nicht geschafft hatten.« Die Wirkung des Mittels will sie nicht mehr missen: »Auch wenn ich fast kein Gewicht verloren hätte, würde ich für immer dieses Medikament nehmen, nur damit mein Gehirn wieder so arbeitet, wie es soll.«
Der Heißhunger verpufft
Chauche ist nicht allein mit ihrer euphorischen Beschreibung, wie Wegovy sie von den zwanghaften Gedanken an Essen erlöst hat. Die Erfahrung wird im angloamerikanischen Sprachraum inzwischen als »quieting of food noise« (auf Deutsch: Verstummen des Essensrauschens) bezeichnet. Damit ist gemeint, dass das permanente Denken an die nächste Mahlzeit aufhört. Fachleute – darunter etliche, die die Entwicklung der heiß begehrten Medikamente vorangetrieben haben – wollen verstehen, wie es zu diesem Effekt kommt. Unter ihnen ist auch die Biochemikerin Svetlana Mojsov von der Rockefeller University in New York. Schon seit etwa 50 Jahren erforscht sie Darmhormone, die eventuell eine Schlüsselrolle beim Regulieren des Blutzuckerspiegels spielen.
Auf der Suche nach potenziellen Behandlungsmöglichkeiten für Typ-2-Diabetes konzentrierte sich Mojsov vor allem auf ein Hormon: Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1). In den 1980er Jahren entschlüsselte sie seinen molekularen Aufbau und lieferte damit die Grundlage für Arzneimittel wie Wegovy. Die Medikamente, die man als GLP-1-Rezeptoragonisten bezeichnet, nutzen eine Substanz, die dem natürlichen Peptidhormon ähnelt und deshalb seine Rezeptoren aktiviert. Die ersten solchen Wirkstoffe kamen bereits 2005 auf den Markt. 2017 ließ die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die Arznei Semaglutid zu – diese ist heute vor allem unter ihrem Handelsnamen Ozempic bekannt.
In den Jahren seit ihrer Markteinführung haben sich GLP-1-Medikamente zu Verkaufsschlagern und einer Multi-Milliarden-Dollar-Industrie entwickelt. Ihr Erfolg beruhte zunächst lediglich auf der wirksamen Behandlung von Diabetes. Doch dann stellte sich heraus, dass sich mit ihrer Hilfe auch Übergewicht effektiv bekämpfen lässt. Wegovy, eine Version von Semaglutid, brachte der Hersteller Novo Nordisk 2021 speziell zur Gewichtsreduktion auf den Markt. Weitere Pharmaunternehmen haben mittlerweile ähnliche Arzneimittel entwickelt. In einer Umfrage aus dem Jahr 2024 in den Vereinigten Staaten hatte einer von acht teilnehmenden Erwachsenen angegeben, bereits ein GLP-1-Medikament eingenommen zu haben.
Wie wirken die neuen Abnehmpräparate?
Arzneien wie Wegovy zügeln den Appetit und machen schneller satt. Weil dadurch die Menge an aufgenommener Nahrung sinkt, verliert man mit den Mitteln Gewicht, so die Erklärung von Fachleuten wie Mojsov. Das viel diskutierte »food noise«, also das stetige Denken ans Essen, ist wissenschaftlich noch nicht ausreichend definiert und untersucht. In Anbetracht dessen, dass die Substanzen offensichtlich über ihren primären Wirkort im Darm hinaus wirken, richten Forscherinnen und Forscher ihren Fokus vermehrt auch auf das Gehirn. Sie interessiert, welche Prozesse die GLP-1-Doppelgänger hier anstoßen. Ihre Erkenntnisse zeigen, dass neuronale Schaltkreise für Hunger und Sättigung sowie für Genuss und Belohnung beteiligt sind. Deren Zusammenspiel bei gesundem und krankhaft gestörtem Essverhalten zu verstehen, ist der erste Schritt, so Mojsov. »Der nächste ist dann, die biologischen Grundlagen der Wirkung von Ozempic auf das Gehirn nachzuvollziehen«, ergänzt sie.
»GLP-1 scheint zumindest in puncto Pharmakotherapie Spitzenreiter zu sein«Scott Kanoski, Verhaltensneurobiologe
GLP-1 zählt zu einer Gruppe von Darmhormonen, die das Essverhalten steuern. Es hilft bei der Verdauung und bestimmt mit, welche Nährstoffe aus den zugeführten Speisen und Getränken aufgenommen werden. Botenstoffe, die ähnlich wichtige Rollen im Energiehaushalt erfüllen, gibt es auch in weiteren Körpergeweben. In den vergangenen Jahrzehnten versuchte man, das Potenzial einiger davon zur Behandlung von Fettleibigkeit und Diabetes zu erfassen. »GLP-1 scheint zumindest in puncto Pharmakotherapie der beste Kandidat zu sein«, meint Scott Kanoski, Verhaltensneurobiologe an der University of Southern California.
Das liegt zum Teil daran, dass GLP-1 zur Gruppe der Inkretine gerechnet wird; das sind Hormone, die nach einer Mahlzeit die Insulinproduktion stimulieren. Der Darm schüttet GLP-1 aus, sobald eingehende Nahrung in Glukose und andere Moleküle aufgespalten wird. Die Konzentration des Hormons steigt daraufhin allmählich an. Erreicht es einen Schwellenwert, sorgt es für ein Gefühl der Sättigung (siehe »Darm an Hirn!«). Vom Verdauungstrakt aus geht GLP-1 in das Blut über und verteilt sich im Körper. Ein Teil bindet direkt an Rezeptoren in der Bauchspeicheldrüse und kurbelt so die Insulinausschüttung an. GLP-1 kann diesen Prozess aber auch beeinflussen, indem es an Rezeptoren im Vagusnerv andockt. Der Hirnnerv dient als »Schnellstraße« für Informationen, die das Gehirn und der restliche Körper miteinander austauschen. Noch während des Essens signalisiert er mittels Hormonen bestimmten Pankreaszellen, mehr Insulin zu produzieren. Gelangt Letzteres ins Blut, regt es Zellen im Körper dazu an, Glukose aufzunehmen und in Energie umzuwandeln, was den Blutzuckerspiegel wieder auf Normalwerte senkt. Sowohl dessen Anstieg als auch Abfall beeinflussen Hunger und Sättigung.
In seiner natürlichen Form bleibt GLP-1 im Körper nur kurz bestehen. Innerhalb von ein bis zwei Minuten bauen Enzyme im Blut das Molekül ab. Die dabei entstehenden Abfallprodukte werden über die Nieren ausgeschieden. In den 1990er Jahren begannen Pharmaunternehmen damit, nach Varianten von GLP-1 zu suchen – in der Hoffnung, eine stabilere und länger wirkende Version des Hormons zu entdecken. Fündig wurden sie im Speichel der Gila-Krustenechse: Deren Äquivalent von GLP-1 ähnelt dem von Menschen, erwies sich allerdings als viel beständiger. Im Labor bekam das Molekül noch zusätzlich eine lange Kette von Fettsäuren angehängt. Das erlaubt es der Substanz, an das Bluteiweiß Albumin anzukoppeln. Auf diese Weise bleibt die Verbindung über Stunden oder sogar Tage im menschlichen Körper aktiv.
Weshalb verstummt das »food noise«?
Um das Jahr 2021 nahm die Geschichte der GLP-1-Medikamente eine dramatische Wendung. Die Nachfrage stieg sprunghaft an, als Prominente und Influencer in den sozialen Medien begannen, ihre Erfolge mit der damals noch nicht zugelassenen Anwendung von Ozempic als Abnehmmittel zu teilen. Infolgedessen probierten immer mehr Menschen die Präparate aus. Einige berichteten anschließend von ihrem verringerten Essensdrang. Daraufhin machten sich Forschungsgruppen daran, genauer aufzuschlüsseln, was hinter dem Effekt steckt.
Der Ernährungswissenschaftler Matthew Hayes von der University of Pennsylvania beschäftigt sich seit 2006 mit GLP-1. Die Abnehmpräparate würden zum Teil deshalb wirken, weil sie die Verdauung verlangsamen und den Glukosespiegel regulieren, erklärt er. Aber »nur in geringem Maß«, so Hayes. »Der Gewichtsverlust durch GLP-1-Medikamente ist zweifellos vor allem darauf zurückzuführen, dass das durch sie einsetzende Sättigungsgefühl die Nahrungsaufnahme verringert«, betont er. Unter dem Einfluss der Wirkstoffe nehmen Menschen weniger und kleinere Mahlzeiten zu sich.
Von der Rolle von GLP-1 als Sattmacher weiß man bereits seit geraumer Zeit. 1996 injizierten Forscher hungrigen Ratten das Hormon direkt ins Hirn, woraufhin die Nager ihre Nahrungszufuhr um bis zu 95 Prozent reduzierten. Die Arbeit ist eine der ersten Hinweise darauf, dass das Hormon auch direkt im Gehirn wirkt. »All die Reaktionen, die wir in Bezug auf Hunger oder Sättigung haben, werden im Wesentlichen vom Gehirn gesteuert«, erklärt Herman Pontzer, Evolutionsanthropologe an der Duke University in North Carolina. »Es ist logisch, dass der Wirkmechanismus dort ansetzt.«
Der Appetit – also das Verlangen nach Essen – wird biologisch durch drei grundlegende Empfindungen gesteuert: Hunger, Sättigung und Belohnung. »Alle drei greifen ineinander, wobei jeweils bestimmte Teile des Gehirns involviert sind«, sagt Giles Yeo, Neuroendokrinologe an der University of Cambridge in England. Der Hypothalamus, eine Struktur im vorderen Bereich des Zwischenhirns, ist an Hunger- und Sättigungsgefühlen beteiligt. Das Hinterhirn einschließlich der Regionen des Hirnstamms spielt eine Rolle bei der Sättigung. Darüber hinaus steuert ein weites Netzwerk vom Mittelhirn bis zum Präfrontalkortex die belohnenden Elemente. Es erzeugt »das wohlige Gefühl, das man beim Verzehr von Schokolade, aber nicht von Brokkoli verspürt«, weiß Yeo.
All diese Hirnregionen nehmen Signale wahr, die entlang der Darm-Hirn-Achse übertragen werden. Und sie sind geradezu übersät mit GLP-1-Rezeptoren, wie Fachleute herausfanden. »Zellen, die den Rezeptor exprimieren, sind überall im Gehirn vorhanden«, erklärt Hayes. Tatsächlich hat man sie inzwischen im ganzen Körper nachgewiesen. Man weiß bereits auch mehr darüber, wie GLP-1 Sättigungssignale ans Hirn sendet: Nachdem es aus dem Darm freigesetzt wird, dockt es an lokale Nervenenden an. Über den Vagusnerv und den Hirnstamm gelangen die Informationen dann zum Nucleus tractus solitarius (NTS), einem Bündel sensorischer Neurone, das tief im Gehirn sitzt. Es ist »die erste Stelle, an dem alle Sättigungssignale aus dem Darm ankommen«, sagt Hayes, und »eine Art Verarbeitungszentrale des Energiehaushalts«.
Auf Grund seiner kurzen Verweildauer im Körper gelangt natürliches GLP-1 aus dem Darm wahrscheinlich nicht in ausreichend hoher Konzentration ins Gehirn, um das Sättigungsgefühl zu beeinflussen. Allerdings leitet der NTS nicht nur Sättigungssignale weiter, sondern produziert auch selbst GLP-1. Zwar sind die Details dieses Mechanismus noch nicht vollständig entschlüsselt, aber die Hauptquelle von GLP-1 im Gehirn ist bereits bekannt: die Präproglucagon-Neurone (PPG). Werden sie aktiv, wirkt das wie ein Stoppschild. Sie fluten das Gehirn mit GLP-1 und senden so die Botschaft, mit dem Essen aufzuhören. Diejenigen Areale, die den Appetit vermitteln, verstummen daraufhin. Das betrifft auch Hirnregionen, die Lust und Heißhunger auf bestimmte Lebensmittel machen und die an impulsivem Essverhalten mitwirken. Die PPG-Neurone und die GLP-1-Aktivität im Hirn könnten bei Adipositas eine ausschlaggebende Rolle spielen – welche die neuen Medikamente nun ans Licht bringen.
Künstliches GLP-1 wirkt lange
»Das Interessante an diesen GLP-1-basierten Medikamenten ist, dass sie viel länger wirken als natürliches GLP-1«, betont Scott Kanoski. Im Vergleich zum körpereigenen GLP-1 werden die synthetischen Wirkstoffe wegen ihrer stabilen Struktur viel langsamer abgebaut. Die neuesten Versionen bleiben bis zu einer Woche im Körper bestehen. So können sie länger auf das Gehirn einwirken und die dortigen Rezeptoren stimulieren, erläutert Mojsov. Laut Hayes untersuchen Forschungsteams bereits, wie viel der Medikamente in das Organ eindringen, wo genau sie hingelangen und welche Verhaltensweisen oder Funktionen sie beeinflussen. Die Hinweise mehren sich, dass die Wirkstoffe die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Offenbar schlüpfen sie dazu durch »undichte« Bereiche der schützenden Membran, die sich unter anderem nahe dem NTS befinden. Mit Hilfe von Tanyzyten – Zellen, die zwischen dem peripheren und dem zentralen Nervensystem vermitteln – können sie genauso wie Nährstoffe und natürliche Hormone die Barriere überwinden.
Mit geradezu verblüffenden Effekten, wie viele Erfahrungsberichte zeigen, darunter auch jener der 33-jährigen Meranda Hall. »Mein ganzes Leben habe ich nur ans Essen gedacht«, erzählt die Verwaltungsangestellte einer Anwaltskanzlei in New York. In der Highschool war sie Langstreckenläuferin und als Erwachsene trieb sie täglich Sport. Dabei aß sie jedoch fast ununterbrochen und kämpfte seit ihrer Kindheit mit Übergewicht. Selbst wenn Hall sich körperlich satt fühlte, kreisten ihre Gedanken ums Essen. »Während ich aß, dachte ich schon an die nächste Mahlzeit«, erinnert sie sich.
Im August 2023, als Hall mit der Einnahme von Wegovy begann, wog sie 135 Kilogramm. Neun Monate später hatte sie fast 40 Kilo abgenommen – und ihre quälenden Tagträume vom Essen waren verschwunden. Das Nachlassen des Drangs, exzessiv zu konsumieren, beschränkte sich bei ihr nicht nur auf Mahlzeiten. Hall sagt, dass sie früher eine leidenschaftliche Gelegenheitstrinkerin gewesen sei: Beim Ausgehen habe sie schon mal acht Margaritas getrunken. Heute bleibe sie nüchtern.
Ähnlich wie Hall verspüren viele Behandelte nicht nur ein geringeres Verlangen nach Essen, sondern auch nach Alkohol, Nikotin, Drogen, Online-Shopping, Nägelkauen … Die Liste scheint endlos. Berichte über die Effekte stießen eine Welle an Forschungsarbeiten an. Diese untersuchen die Schaltkreise im Gehirn, die zwanghaftes Verhalten, Appetit sowie Sättigung vermitteln und wie sie miteinander verknüpft sind.
Dopamin und GLP-1 steuern das Belohnungssystem
Eine wichtige Rolle dürften dabei solche Neurone spielen, die Dopamin herstellen. Der Botenstoff wirkt zentral an der Entstehung von Motivation und Vergnügen mit. Er aktiviert unter anderem Nervenzellen im Nucleus accumbens, einer für das Belohnungserleben essenziellen Struktur im Mittelhirn. Wie viele weitere Hirnstrukturen verfügt auch diese über GLP-1-Rezeptoren. Studien zeigten, dass die Dopaminausschüttung bei Tieren ihr Maximum erreicht, nachdem sie eine süße Mahlzeit verspeist – oder Kokain beziehungsweise Opioide konsumiert hatten. »Ist aber ein GLP-1-Agonist vorhanden, wird die Reaktion weitgehend unterdrückt«, erklärt Patricia Sue Grigson, Neurowissenschaftlerin und Suchtforscherin am Penn State College of Medicine in Pennsylvania, USA. »Der Höhepunkt der Belohnungen bleibt dann aus.«
Es ist bekannt, dass bei Menschen dieselben Nervenbahnen heißlaufen, wenn eine Person Glücksspiele spielt, Kokain einnimmt oder ihr Blutzuckerspiegel künstlich verändert wird, um ihr das Fasten zu erleichtern. Janice Jin Hwang, Endokrinologin an der University of North Carolina in Chapel Hill, erklärt: »Es gibt gut erforschte Netzwerke von Hirnregionen, die vor allem in Hinblick auf Sucht untersucht wurden. Sie steuern unser Verlangen nach Nahrung, aber auch nach Dingen mit Suchtpotenzial.«

Eine ausreichende Nahrungsaufnahme ist unerlässlich, um zu überleben. Das sei ein Grund dafür, weshalb Essen Belohnungswege aktiviere, meint Lorenzo Leggio, Suchtforscher am US-amerikanischen National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism und am National Institute on Drug Abuse. Visuelle Eindrücke, Geschmack, Geruch, Erinnerungen und andere Reize verstärken den Drang, nach Nahrung zu suchen. »GLP-1 dient dazu, diesen Prozess irgendwie unter Kontrolle zu halten«, erklärt Leggio. »Man fängt an, Kuchen zu essen, und er schmeckt köstlich. Was hält einen dann davon ab, 20 Stücke zu verschlingen?«, fragt er und liefert gleich die Antwort: »GLP-1 ist einer der Auslöser, der das Sättigungsgefühl ansteigen lässt. Er reduziert das Belohnungsgefühl und somit die Freude am Kuchenessen.«
Chancen für die Suchttherapie
Grigson und Leggio gehören zu der wachsenden Zahl von Forschern, die untersuchen, ob sich der Einfluss von GLP-1-Medikamenten auf den neuronalen Belohnungspfad für die Suchttherapie nutzen lässt. In einer kürzlich abgeschlossenen klinischen Studie testete Grigson, wie sicher und gut tägliche Injektionen des GLP-1-Rezeptor-Agonisten Liraglutid bei Menschen wirken, die wegen einer Opioidabhängigkeit in Behandlung sind. Ihr Team stellte fest, dass sich das Verlangen nach den Drogen so um etwa 40 Prozent verringern lässt. Die Ergebnisse hat es noch nicht veröffentlicht.
Die Fachleute testeten außerdem eine kombinierte Gabe von GLP-1-Medikamenten und Buprenorphin, einem gängigen Mittel zur Behandlung von Opioidabhängigkeit. Buprenorphin zählt selbst zu den Opioiden. Menschen, die es einnehmen, verspüren oft weiterhin ein ausgeprägtes Verlangen nach den Drogen. Das ließ sich ersten Ergebnissen zufolge mit den GLP-1-Medikamenten maßgeblich verringern. Grigson hofft, damit die benötigte Menge an Buprenorphin reduzieren zu können. Derzeit führt sie gemeinsam mit Forschern der New York University eine Folgestudie durch. Diese soll klären, wie sich die Kombinationstherapie auf den Entzug auswirkt. Im Mai 2024 kündigte Novo Nordisk an, den Wirkstoff in einer bevorstehenden klinischen Studie zur Behandlung von Lebererkrankungen erforschen zu wollen – sowie in Hinsicht auf mögliche Auswirkungen auf den Alkoholkonsum.
Die Endokrinologin Ania Jastreboff von der Yale University in Connecticut weist ihre Patienten und Patientinnen darauf hin, dass GLP-1-Medikamente den Appetit verändern können. Doch nicht bei allen treten drastische Auswirkungen auf. »Wir wissen noch nicht, wer auf das Medikament anspricht und wie stark die Wirkung ist, wie viel Gewicht eine bestimmte Person verliert und wie sich dies auf ihre allgemeine Gesundheit auswirkt«, betont sie. Einige Menschen, die Semaglutid bekamen, reduzierten ihr Körpergewicht um bis zu 20 Prozent. Laut einer Studie verloren jedoch zirka 18 Prozent der Anwender weniger als fünf Prozent. Manche vertragen die Medikamente wegen ihrer Nebenwirkungen nicht, insbesondere weil sie starke Übelkeit und Durchfall entwickeln. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2021 ergab, dass 4,5 Prozent derjenigen, die Semaglutid eingenommen hatten, die Arznei auf Grund von Magen-Darm-Problemen absetzten.
Noch offen ist, weshalb die Wirksamkeit so stark variiert. Natürliche GLP-1-Spiegel schwanken von einer Person zur nächsten, was womöglich die unterschiedliche Anfälligkeit für Gewichtszunahme oder Diabetes erklärt. Giles Yeo interessiert sich dafür, warum manche Menschen zu viel essen. Ihm zufolge liegt es vermutlich daran, dass sie nicht wirklich satt werden. Und das beruhe vielleicht darauf, dass ihre GLP-1-Spiegel bei einer Mahlzeit nicht so stark ansteigen. Bei ihnen, so glaubt Yeo, wirken synthetische GLP-1-Medikamente eventuell besser als bei jenen mit natürlich höheren Spiegeln.
Matthew Hayes hat noch eine andere Vermutung, nämlich genetische Variationen in den GLP-1-Rezeptoren. Mutationen in deren Gen könnten dazu führen, dass jemand nicht auf die Medikamente anspricht. Mitunter ist das womöglich sogar die Ursache für dessen Übergewicht. Denn eine solche erbliche Veranlagung könnte beeinflussen, wie gut das Hormon an den Rezeptor bindet und die nachfolgenden Insulin- und Sättigungswege aktiviert.
Pharmaunternehmen arbeiten bereits mit Hochdruck daran, noch wirksamere Abnehmpräparate herzustellen. Dazu versuchen sie etwa, mehrere Darmhormonrezeptoren zugleich anzusteuern. Tirzepatid, ein Medikament des Konzerns Eli Lilly, nutzt synthetische Versionen von GLP-1 sowie eines weiteren Inkretins, des glukoseabhängigen insulinotropen Peptids (GIP). In ersten klinischen Studien verloren Patientinnen und Patienten über einen Zeitraum von 88 Wochen zum Teil mehr als 25 Prozent ihres Gewichts.
Im US-amerikanischen Register für klinische Studien sind zum Zeitpunkt Ende 2024 mehrere tausend Untersuchungen von GLP-1-Rezeptor-Agonisten vermerkt. Anfang des Jahres zeigte eine große, mehrjährige Arbeit, dass Semaglutid das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen um 20 Prozent senkt. Die Ergebnisse verhalfen Wegovy zur FDA-Zulassung als Therapeutikum für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Gewichtsreduktion spielte bei den Effekten wahrscheinlich eine große Rolle. Gleichzeitig fanden Forscher aber auch überzeugende erste Hinweise darauf, dass GLP-1 – beziehungsweise die auf dem Hormon basierenden Medikamente – Entzündungen mindern können. Diese Beobachtung eröffnet die Möglichkeit, die Mittel bei Krankheiten zu testen, die weniger offensichtlich mit Stoffwechselstörungen in Verbindung stehen, darunter Alzheimer, Parkinson, Depressionen oder sogar Krebs.
»Die Medikamente haben es uns ermöglicht, Adipositas als eine komplexe neurometabolische Erkrankung zu betrachten«Ania Jastreboff, Endokrinologin
Die Erkenntnisse, die aus der GLP-1-Forschung hervorgingen, bieten Fachleuten ganz neue Perspektiven auf die Wurzeln von Übergewicht. Bisher betrachtete man Gesundheitsprobleme, die sich in Form von Diabetes Typ 2 oder Fettleibigkeit äußern, hauptsächlich als Störungen, die einzelne Organe betreffen – die Bauchspeicheldrüse, die Leber oder das Fettgewebe. Ania Jastreboff, die seit 15 Jahren zu Übergewicht forscht, sieht in den Wirkstoffen auch Instrumente, um die Physiologie des Körpergewichts besser zu verstehen. »Die Medikamente haben es uns ermöglicht, Adipositas als eine komplexe neurometabolische Erkrankung zu betrachten«, erklärt sie.
Lange beschuldigte man diejenigen, die nicht abnehmen und ihr Gewicht halten konnten, fälschlicherweise der Willensschwäche, erläutert Daniel Drucker, Endokrinologe an der University of Toronto in Kanada und ehemaliger Teamkollege von Svetlana Mojsov. »Wir – einschließlich der Fachkräfte im Gesundheitswesen – geben Menschen die Schuld, wenn sie Probleme mit ihrem Gewicht haben«, sagt er. »Es gibt kaum andere Krankheiten, bei denen wir dem Einzelnen die Schuld geben. Man würde nie sagen: ›Dein Krebs ist zurückgekommen, du hast dich nicht wirklich ausreichend angestrengt.‹« Die Erforschung von GLP-1 könnte dazu beitragen, diese Vorurteile und das Stigma aufzubrechen, das mit Adipositas und Sucht verbunden ist. Vielleicht wird das langfristig dabei helfen, die bisherige Voreingenommenheit gegenüber Übergewicht zu beseitigen und veraltete Glaubenssätze mit zutreffenderen, physiologischen Erklärungen zu ersetzen.

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