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Wahrnehmung: Zählen ohne Zahlen

Ganz klar: Wer drei Stimmen hört, erwartet drei Sprecher. Das erkennen selbst Rhesusaffen, wenn sie sich nach der Hörprobe zwischen Bildern von zwei oder drei Artgenossen entscheiden sollen. Aber muss Menschenkind solche Mengenzuordnungen lernen, oder ist es ihm in die Wiege gelegt?
Lachen
Manchmal ist Wissenschaft Sache eines Augenblicks. Beispielsweise dann, wenn Forscher gespannt verfolgen, welche Objekte oder Bilder länger die Aufmerksamkeit eines kleinen Kindes fesseln. Für die Erwachsenen ergibt sich daraus je nach Aufgabenstellung, dass die Knirpse etwas Neues, Spannendes entdeckt haben – oder dass sie etwas kombinieren, wobei sie wohl länger bei jener Variante verharren, die ihnen mehr behagt.

Mit dem zweiten Ansatz versuchen Wissenschaftler zu ergründen, inwieweit die Kleinen Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen miteinander abgleichen. Im zarten Alter von wenigen Monaten noch "nichtsprachliche Organismen" wie viele andere Versuchskaninchen auch, bieten sie so Einblick, wie der Mensch mit Objekten und Zahlen umgeht, bevor er sie in Begriffe fasst. Die Knirpse zeigen also, wie man ohne Zahlen zählt und ohne Worte benennt.

Frühere Studien ließen vermuten, dass Zahlen für Zählen unnötig sind. So widmen Rhesusaffen Bildern mit drei Artgenossen mehr Aufmerksamkeit als einem abgebildeten Pärchen, wenn sie gleichzeitig die Rufe von drei Tieren hören. Ähnliche Experimente bei Kleinkindern lieferten hingegen verwirrende Ergebnisse: So kam es immer wieder vor, dass die Babys die Zahl gehörter Töne nicht mit der Zahl dargestellter Objekte verknüpfen konnten. Fehlt ihnen noch das Zahlenverständnis, das für Erwachsene selbstverständlich ist?

Versuchsanordnung | Die Kinder hörten über einen Lautsprecher entweder zwei oder drei Frauenstimmen "Schau her!" sagen, während sie gleichzeitig entsprechend zwei und drei Frauen auf Bildern zu Gesicht bekamen.
Vielleicht waren die Versuche einfach zu kompliziert, dachten sich Kerry Jordan und Elizabeth Brannon von der Duke-Universität in Durham. Schließlich sollten die Knirpse beispielsweise Trommelschläge mit Haushaltsdingen in Einklang bringen – keine sehr wirklichkeitsnahe Aufgabe mit Reizen, die keinen natürlichen Zusammenhang haben.

Die beiden Wissenschaftlerinnen bevorzugten daher ein deutlich näher liegendes Szenario: Sie spielten sieben Monate alten Kindern synchron zwei oder drei Frauenstimmen vor, die "Schau!" sagten, und präsentierten den Kleinen parallel dazu Bilder mit zwei oder drei Frauengesichtern, die offenbar gerade etwas artikulierten. Eine Situation, wie Kinder sie eben in ihrem Umfeld auch wirklich erleben können.

Und siehe da: Plötzlich war Zählen ein Kinderspiel. 14 der insgesamt 20 getesteten Kinder ordneten die Zahl der Stimmen richtig der Zahl abgebildeter Frauengesichter zu. Dabei schenkten die Kleinen knapp sechzig Prozent ihrer gesamten Aufmerksamkeit dem in der Anzahl passenden Bild – ihr Blick verharrte dort im Durchschnitt 21,5 Sekunden, während die unpassende Alternative nur 14,2 Sekunden betrachtet wurde.

Mit ihrer Versuchsanordnung verhinderten die Psychologinnen auch, dass ihre kleinen Probanden die Zuordnung nicht anhand der Zahl, sondern der Dauer des Reizes machten. So beruhten andere Studien meist darauf, dass die Töne nacheinander gespielt wurden und sich die Information so in der Länge unterschied – ein Entscheidungskriterium, dass durch die synchronen Laute ausgeschaltet war.

Außerdem spielten Jordan und Brannon den Kleinen jeweils nur eine Variante vor: Die Kinder bekamen entweder zwei oder drei Frauen zu Gehör und Gesicht. Sonst erleben die Kinder oft mehrere Durchgänge, in denen beide Varianten durchgespielt werden. Das allerdings könnte einen gewissen Lerneffekt bewirken und so ein grundlegendes Zahlenverständnis vortäuschen, spekulieren die Forscherinnen.

Besonders verblüfft aber waren sie darüber, wie exakt die Resultate übereinstimmen mit einer Studie an Rhesusaffen: In beiden Experimenten gab es 20 Nichtsprachler, bei den Affen trafen 15 die richtige Entscheidung, bei den Kindern 14. Und in beiden Versuchen widmeten die Probanden beinahe genau sechzig Prozent ihrer Aufmerksamkeit der passenden Lösung.

Demnach gebe es ein grundlegendes Verständnis von Zahlen unabhängig von Sprache, das sich quer durch die Tierwelt ziehe. Allerdings müssten weitere Versuche zeigen, ob diese Fähigkeit auch größeren Mengen standhalte – und ob sie damit zusammenhängt, wie sich die beiden dargestellten Mengen zahlenmäßig zueinander verhalten.

Jedenfalls scheinen Kinder Reize zu brauchen, die gemeinsam Sinn machen – wie Stimmen und Personengruppen. Sollen sie Klatschen mit schwarzen Punkten vergleichen – für Erwachsene ein leichtes Spiel –, könnte das für die Kleinen wohl tatsächlich zu kompliziert sein. Abstraktes Denken ist ihnen nun mal nicht in die Wiege gelegt. Zählen schon.

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